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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Religionsfreiheit und Airchcnreform

in das Kirchenregister versagt, well die agendarische Ordnung verletzt war, das
Nassauische Konsistorium entschieden, daß ein Glied einer streng christlichen Sekte,
die die Kindertaufe ablehnt, als umgetauft nicht kirchlich getraut werden dürfe.
So-überwuchert die Form den Inhalt, schiebt das Recht die Gesinnung beiseite.
Wird die Religion dadurch nicht um allen Ernst gebracht, wird sie nicht zum
Spiel und zur Attrappe?

Aber das alles, wird man einwenden, sind peripherische Dinge, es trifft
nicht die große Masse, den Kern der evangelisch Geborenen, die auch heute noch
in der evangelischen Kirche bleiben und in ihr irgendwie, inniger oder loser,
eine geistliche Heimat haben wollen. Um ldiese ist es uns allerdings zumeist
zu tun. Sind sie im Besitz einer ungeschmälerten Gewissensfreiheit?

Vergegenwärtigen wir uns, von wie mannigfaltigen Denk- und Empsindungs-
weisen diese Masse erfüllt ist. Die Reformation hat ihre Söhne und Töchter
sozusagen nackt und ungedeckt durch eine schirmende priesterliche Obrigkeit in die
Welt hinausgestellt und ihnen die Aufgabe mitgegeben, selbst mit Wind und
Wetter fertig zu werden und ihre Frömmigkeit mit den wechselnden geistigen
Strömungen des Lebens auseinanderzusetzen. Ob dies die bewußte Absicht der
Reformation oder nur eine Folge ihres Bruches mit der katholischen Kirche
gewesen ist, kann uns gleichgültig sein. Jedenfalls ist es seitdem die Ehre und
die Lust des protestantischen Glaubens gewesen, sich in immer neuem Ringen
inmitten der Welt zu behaupten. Der Protestantismus hat jetzt eine Geschichte
von vier Jahrhunderten hinter sich. Man sagt: er ist so jung, daß er gleichsam
noch in den Kinderkrankheiten steckt. Aber darüber darf nicht übersehen werden,
daß diese vier Jahrhunderte eine Fülle von tiefsten Erlebnissen und Wandlungen
in sich schließen. Im Laufe dieser Zeit ist die protestantische Frömmigkeit immer
neue Verbindungen und Vermischungen eingegangen, hat sie sich zur lutherischen
Orthodoxie, zum Presbyterianismus, zum Pietismus, zum Nationalismus, zur
idealistisch-ästhetischen Lebensanschauung, zur Romantik ausgewachsen. Und Gott
sei Dank! ihre Lebenskraft ist noch nicht erstorben, sie ist eben im Begriff,
sich mit den Gedankenkreisen des Sozialismus zu verbinden und die Welt¬
anschauung der modernen Naturwissenschaft christlich umzubilden. Zu einem
richtigen Verständnis der Gegenwart gelangt man nun nur so, daß man sich
dies zeitliche Nacheinander als ein räumliches Nebeneinander vorstellt. Alle
diese Entwicklungsphasen sind lebendige Größen und Gestalten unserer Gegen¬
wart, existieren innerhalb des protestantischen Volkes von heute nebeneinander.
Wir haben noch heute lutherische Orthodoxe, die unbeirrt von aller Erweiterung
des geistigen Horizontes seither am Weltbilde und Geschichtsbilde des sechszehnten
Jahrhunderts festhalten und es ruhig ihren Theologen überlassen, ob und wieweit
sie dies mit der Wissenschaft der Gegenwart ausgleichen können. Wir haben
echten und abgemilderten Pietismus, der aller modernen Entwicklung in Technik,
Politik, Kunst und Wissenschaft scheu und verschlossen gegenübersteht, und dessen
Kraft gerade in dieser Zurückhaltung besteht. Wir haben ungezählte Rationalisten,


Religionsfreiheit und Airchcnreform

in das Kirchenregister versagt, well die agendarische Ordnung verletzt war, das
Nassauische Konsistorium entschieden, daß ein Glied einer streng christlichen Sekte,
die die Kindertaufe ablehnt, als umgetauft nicht kirchlich getraut werden dürfe.
So-überwuchert die Form den Inhalt, schiebt das Recht die Gesinnung beiseite.
Wird die Religion dadurch nicht um allen Ernst gebracht, wird sie nicht zum
Spiel und zur Attrappe?

Aber das alles, wird man einwenden, sind peripherische Dinge, es trifft
nicht die große Masse, den Kern der evangelisch Geborenen, die auch heute noch
in der evangelischen Kirche bleiben und in ihr irgendwie, inniger oder loser,
eine geistliche Heimat haben wollen. Um ldiese ist es uns allerdings zumeist
zu tun. Sind sie im Besitz einer ungeschmälerten Gewissensfreiheit?

Vergegenwärtigen wir uns, von wie mannigfaltigen Denk- und Empsindungs-
weisen diese Masse erfüllt ist. Die Reformation hat ihre Söhne und Töchter
sozusagen nackt und ungedeckt durch eine schirmende priesterliche Obrigkeit in die
Welt hinausgestellt und ihnen die Aufgabe mitgegeben, selbst mit Wind und
Wetter fertig zu werden und ihre Frömmigkeit mit den wechselnden geistigen
Strömungen des Lebens auseinanderzusetzen. Ob dies die bewußte Absicht der
Reformation oder nur eine Folge ihres Bruches mit der katholischen Kirche
gewesen ist, kann uns gleichgültig sein. Jedenfalls ist es seitdem die Ehre und
die Lust des protestantischen Glaubens gewesen, sich in immer neuem Ringen
inmitten der Welt zu behaupten. Der Protestantismus hat jetzt eine Geschichte
von vier Jahrhunderten hinter sich. Man sagt: er ist so jung, daß er gleichsam
noch in den Kinderkrankheiten steckt. Aber darüber darf nicht übersehen werden,
daß diese vier Jahrhunderte eine Fülle von tiefsten Erlebnissen und Wandlungen
in sich schließen. Im Laufe dieser Zeit ist die protestantische Frömmigkeit immer
neue Verbindungen und Vermischungen eingegangen, hat sie sich zur lutherischen
Orthodoxie, zum Presbyterianismus, zum Pietismus, zum Nationalismus, zur
idealistisch-ästhetischen Lebensanschauung, zur Romantik ausgewachsen. Und Gott
sei Dank! ihre Lebenskraft ist noch nicht erstorben, sie ist eben im Begriff,
sich mit den Gedankenkreisen des Sozialismus zu verbinden und die Welt¬
anschauung der modernen Naturwissenschaft christlich umzubilden. Zu einem
richtigen Verständnis der Gegenwart gelangt man nun nur so, daß man sich
dies zeitliche Nacheinander als ein räumliches Nebeneinander vorstellt. Alle
diese Entwicklungsphasen sind lebendige Größen und Gestalten unserer Gegen¬
wart, existieren innerhalb des protestantischen Volkes von heute nebeneinander.
Wir haben noch heute lutherische Orthodoxe, die unbeirrt von aller Erweiterung
des geistigen Horizontes seither am Weltbilde und Geschichtsbilde des sechszehnten
Jahrhunderts festhalten und es ruhig ihren Theologen überlassen, ob und wieweit
sie dies mit der Wissenschaft der Gegenwart ausgleichen können. Wir haben
echten und abgemilderten Pietismus, der aller modernen Entwicklung in Technik,
Politik, Kunst und Wissenschaft scheu und verschlossen gegenübersteht, und dessen
Kraft gerade in dieser Zurückhaltung besteht. Wir haben ungezählte Rationalisten,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/478>, abgerufen am 23.07.2024.