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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Religionsfreiheit und Rirchenreform

Erfüllung einer selbstverständlichen Pflicht, die absolviert werden muß. Die
innere Stellung, auch die des Pfarrers, kommt nicht in Betracht. Es handelt
sich eben gar nicht um innerliche Angelegenheiten, sondern um Ordnung und
bürgerliche Korrektheit. Wie könnte ein Staatsbeamter, ein Oberlehrer, ein
Reserveoffizier wagen, in dieser Beziehung inkorrekt zu sein? Ist doch sogar
schon einem Universitätsprofessor einmal ein Strick daraus gedreht worden.
Ganz besonders kleinlich wirkt in dieser Beziehung auch der vielerorten noch
bestehende Parochialzwang, der die Bewohner einer Ortsschaft oder eines Stadt¬
teiles an einen bestimmten Pfarrer bindet, ganz gleich, ob dieser das Vertrauen
der betreffenden Personen besitzt oder nicht. Wir haben in Preußen sogar --
es ist ein fast lächerlicher Zustand -- eine Stadt, durch die mitten hindurch die
landeskirchliche Grenzlinie geht, so daß die Bewohner des einen Stadtteiles zu
einer anderen Landeskirche gehören wie die der anderen. In den beiden Landes¬
kirchen bestehen verschiedene Gottesdienstordnungen und Katechismen; ja auch das
Bekenntnis ist verschieden. Zieht also in den Grenzstraßen jemand von einer
Straßenseite auf die andere, so wechselt er nichtsahnend sein Bekenntnis, und
geht er nun nach einiger Zeit zu dem Pfarrer, mit dem er vielleicht durch
jahrelangen Zusammenhang vertraut war, um ihn um irgend eine geistliche
Funktion zu bitten, so erfährt er mit Staunen, daß dieser nicht mehr das Recht
hat, ihm zu dienen, mit noch größerem Staunen, daß er nunmehr -- über
Nacht -- lutherisch oder reformiert geworden sei.

Vor Jahren habe ich einmal in einer kirchlichen Zeitschrift, der "Christlichen
Welt", aus der geringen Zahl der Taus-, Konfirmations- und Trauversäumnisss
den Beweis zu führen gesucht, daß die Kirche bei uns immer noch Volkssache
ist. Diese Zahlen haben mich seitdem oft beschäftigt. Ich gestehe, ich sehe sie
heute sehr anders an. Ich finde sie schrecklich, nicht weil sie sich inzwischen
wesentlich verändert hätten (abgesehen von Berlin), sondern weil sie so niedrig
geblieben sind. Diese Zahlen offenbaren, wie unser Volk zur Taufe, Trauung
und Konfirmation steht, nämlich vollständig gedankenlos. Diese Zahlen dürften
nicht so niedrig sein, wenn sie als Beweis noch bestehenden Zusammenhanges
mit der Kirche gelten sollten. Daß auf der einen Seite die Unkirchlichkeit in
der Teilnahme am Gottesdienst so groß ist, der Atheismus so furchtbar anschwillt,
jeder noch so niedrige und rohe Angriff auf Christentum und Kirche bei Tau-
senden ein Echo findet, und auf der anderen Seite doch fast alle Leute taufen,
konfirmieren, trauen lassen, ist ein Widerspruch, dessen Erklärung darin liegt:
man tut das nur, weil man muß, aus Scheu vor Nachteilen und Chikanen.

Am härtesten, weil am unausweichlichsten, wirkt hierbei der Zwang zur
Teilnahme am Religionsunterricht in der Staatsschule. Es sind ja nicht nur
die Dissidenten, die gegen diesen Zwang streiten, es sind viele durchaus religiöse
Eltern, die in diesem obligatorischen Unterricht kein geeignetes Mittel sehen,
ihren Kindern die Religion lieb und wert zu machen. Aber sie können diesem
Zwange nicht entrinnen.


Religionsfreiheit und Rirchenreform

Erfüllung einer selbstverständlichen Pflicht, die absolviert werden muß. Die
innere Stellung, auch die des Pfarrers, kommt nicht in Betracht. Es handelt
sich eben gar nicht um innerliche Angelegenheiten, sondern um Ordnung und
bürgerliche Korrektheit. Wie könnte ein Staatsbeamter, ein Oberlehrer, ein
Reserveoffizier wagen, in dieser Beziehung inkorrekt zu sein? Ist doch sogar
schon einem Universitätsprofessor einmal ein Strick daraus gedreht worden.
Ganz besonders kleinlich wirkt in dieser Beziehung auch der vielerorten noch
bestehende Parochialzwang, der die Bewohner einer Ortsschaft oder eines Stadt¬
teiles an einen bestimmten Pfarrer bindet, ganz gleich, ob dieser das Vertrauen
der betreffenden Personen besitzt oder nicht. Wir haben in Preußen sogar —
es ist ein fast lächerlicher Zustand — eine Stadt, durch die mitten hindurch die
landeskirchliche Grenzlinie geht, so daß die Bewohner des einen Stadtteiles zu
einer anderen Landeskirche gehören wie die der anderen. In den beiden Landes¬
kirchen bestehen verschiedene Gottesdienstordnungen und Katechismen; ja auch das
Bekenntnis ist verschieden. Zieht also in den Grenzstraßen jemand von einer
Straßenseite auf die andere, so wechselt er nichtsahnend sein Bekenntnis, und
geht er nun nach einiger Zeit zu dem Pfarrer, mit dem er vielleicht durch
jahrelangen Zusammenhang vertraut war, um ihn um irgend eine geistliche
Funktion zu bitten, so erfährt er mit Staunen, daß dieser nicht mehr das Recht
hat, ihm zu dienen, mit noch größerem Staunen, daß er nunmehr — über
Nacht — lutherisch oder reformiert geworden sei.

Vor Jahren habe ich einmal in einer kirchlichen Zeitschrift, der „Christlichen
Welt", aus der geringen Zahl der Taus-, Konfirmations- und Trauversäumnisss
den Beweis zu führen gesucht, daß die Kirche bei uns immer noch Volkssache
ist. Diese Zahlen haben mich seitdem oft beschäftigt. Ich gestehe, ich sehe sie
heute sehr anders an. Ich finde sie schrecklich, nicht weil sie sich inzwischen
wesentlich verändert hätten (abgesehen von Berlin), sondern weil sie so niedrig
geblieben sind. Diese Zahlen offenbaren, wie unser Volk zur Taufe, Trauung
und Konfirmation steht, nämlich vollständig gedankenlos. Diese Zahlen dürften
nicht so niedrig sein, wenn sie als Beweis noch bestehenden Zusammenhanges
mit der Kirche gelten sollten. Daß auf der einen Seite die Unkirchlichkeit in
der Teilnahme am Gottesdienst so groß ist, der Atheismus so furchtbar anschwillt,
jeder noch so niedrige und rohe Angriff auf Christentum und Kirche bei Tau-
senden ein Echo findet, und auf der anderen Seite doch fast alle Leute taufen,
konfirmieren, trauen lassen, ist ein Widerspruch, dessen Erklärung darin liegt:
man tut das nur, weil man muß, aus Scheu vor Nachteilen und Chikanen.

Am härtesten, weil am unausweichlichsten, wirkt hierbei der Zwang zur
Teilnahme am Religionsunterricht in der Staatsschule. Es sind ja nicht nur
die Dissidenten, die gegen diesen Zwang streiten, es sind viele durchaus religiöse
Eltern, die in diesem obligatorischen Unterricht kein geeignetes Mittel sehen,
ihren Kindern die Religion lieb und wert zu machen. Aber sie können diesem
Zwange nicht entrinnen.


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[0476] Religionsfreiheit und Rirchenreform Erfüllung einer selbstverständlichen Pflicht, die absolviert werden muß. Die innere Stellung, auch die des Pfarrers, kommt nicht in Betracht. Es handelt sich eben gar nicht um innerliche Angelegenheiten, sondern um Ordnung und bürgerliche Korrektheit. Wie könnte ein Staatsbeamter, ein Oberlehrer, ein Reserveoffizier wagen, in dieser Beziehung inkorrekt zu sein? Ist doch sogar schon einem Universitätsprofessor einmal ein Strick daraus gedreht worden. Ganz besonders kleinlich wirkt in dieser Beziehung auch der vielerorten noch bestehende Parochialzwang, der die Bewohner einer Ortsschaft oder eines Stadt¬ teiles an einen bestimmten Pfarrer bindet, ganz gleich, ob dieser das Vertrauen der betreffenden Personen besitzt oder nicht. Wir haben in Preußen sogar — es ist ein fast lächerlicher Zustand — eine Stadt, durch die mitten hindurch die landeskirchliche Grenzlinie geht, so daß die Bewohner des einen Stadtteiles zu einer anderen Landeskirche gehören wie die der anderen. In den beiden Landes¬ kirchen bestehen verschiedene Gottesdienstordnungen und Katechismen; ja auch das Bekenntnis ist verschieden. Zieht also in den Grenzstraßen jemand von einer Straßenseite auf die andere, so wechselt er nichtsahnend sein Bekenntnis, und geht er nun nach einiger Zeit zu dem Pfarrer, mit dem er vielleicht durch jahrelangen Zusammenhang vertraut war, um ihn um irgend eine geistliche Funktion zu bitten, so erfährt er mit Staunen, daß dieser nicht mehr das Recht hat, ihm zu dienen, mit noch größerem Staunen, daß er nunmehr — über Nacht — lutherisch oder reformiert geworden sei. Vor Jahren habe ich einmal in einer kirchlichen Zeitschrift, der „Christlichen Welt", aus der geringen Zahl der Taus-, Konfirmations- und Trauversäumnisss den Beweis zu führen gesucht, daß die Kirche bei uns immer noch Volkssache ist. Diese Zahlen haben mich seitdem oft beschäftigt. Ich gestehe, ich sehe sie heute sehr anders an. Ich finde sie schrecklich, nicht weil sie sich inzwischen wesentlich verändert hätten (abgesehen von Berlin), sondern weil sie so niedrig geblieben sind. Diese Zahlen offenbaren, wie unser Volk zur Taufe, Trauung und Konfirmation steht, nämlich vollständig gedankenlos. Diese Zahlen dürften nicht so niedrig sein, wenn sie als Beweis noch bestehenden Zusammenhanges mit der Kirche gelten sollten. Daß auf der einen Seite die Unkirchlichkeit in der Teilnahme am Gottesdienst so groß ist, der Atheismus so furchtbar anschwillt, jeder noch so niedrige und rohe Angriff auf Christentum und Kirche bei Tau- senden ein Echo findet, und auf der anderen Seite doch fast alle Leute taufen, konfirmieren, trauen lassen, ist ein Widerspruch, dessen Erklärung darin liegt: man tut das nur, weil man muß, aus Scheu vor Nachteilen und Chikanen. Am härtesten, weil am unausweichlichsten, wirkt hierbei der Zwang zur Teilnahme am Religionsunterricht in der Staatsschule. Es sind ja nicht nur die Dissidenten, die gegen diesen Zwang streiten, es sind viele durchaus religiöse Eltern, die in diesem obligatorischen Unterricht kein geeignetes Mittel sehen, ihren Kindern die Religion lieb und wert zu machen. Aber sie können diesem Zwange nicht entrinnen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/476>, abgerufen am 23.07.2024.