Das literarische Leben der Deutschen in und aus Böhmen Orof, Dr. Wilhelm Uosch von
odnen ist ein wunderliches Land. Seit Jahrhunderten von den mannigfachsten, sich gegenseitig oft bis aufs Blut bekämpfenden Rassen, Nationen und Bekenntnissen bevölkert, kann es mich heute nicht zur Ruhe kommen. Mehr als dreiundeinhalb Millionen sind Tschechen, mehr als zweiundeinhalb Millionen Deutsche. Der jüdische Volksstamm, überwiegend in den Städten, wie Prag und Pilsen, von alters her ansässig, ist früher stets mit den Deutschen gegangen. Erst in letzter Zeit, seitdem die Tschechen Herren im Lande sind, macht sich ein Abrücken der Juden ins tschechische Lager bemerkbar. Ihre Intelligenz aber spricht, denkt und fühlt in der Mehrzahl immer noch deutsch. Die in der Prager "Lesehalle" organisierten deutschen Juden können es mit den Zionisten reichlich aufnehmen. Aber auch die christlichen Deutschen bilden keine Einheit. Eine Strecke nördlich von Eger beginnt das geschlossene ostmitteldeutsche Sprachgebiet, während südlich an den Rändern des Landes, vorwiegend im Böhmerwald, alles bereits dem bayerischen Stamm gehört. Auch konfessionelle Unterschiede machen sich bemerkbar. Die Gegend um Asch ist protestantisch, Wernsdorf bildet eine Hochburg der Altkatholiken, während die übrigen deutschböhmischen Gebiete kirchlich vom Erz¬ bistum Prag und vom Bistum Budiveis abhängen. Politisch sind die Wahl¬ kreise fast ausschließlich entweder deutschnational oder sozialdemokratisch vertreten. Die klerikale Partei hat wenig Anhänger im Lande.
Diese eigenartigen Verhältnisse und ihre Entwicklung -- der ausgesprochene Kampf zwischen Deutschen und Tschechen, der im Zeitalter der Ausklärung ein¬ geschlummert war, tobt eigentlich erst seit 1848 wieder in hellen Flammen -- finden ihr getreues Spiegelbild in der Literatur Böhmens. Fassen wir an dieser Stelle nur die deutschböhmische der Gegenwart ein wenig ins Auge! In ihrer Gesamtheit ist sie reich genug, ein starkes Kapitel der deutschen Literatur¬ geschichte überhaupt zu bilden. Ihr großer Klassiker heißt Adalbert Stifter.
Zu Stifters Zeiten war es schwer, die böhmischen Schriftsteller nach ihrer Nationalität zu unterscheiden. Viele Tschechen schrieben damals noch deutsch. Und unter den bodenständigen deutschen Dichtern gab es umgekehrt viele, die sich von einer Vermischung aller das Land bewohnenden Völker das Heil der
Das literarische Leben der Deutschen in und aus Böhmen Orof, Dr. Wilhelm Uosch von
odnen ist ein wunderliches Land. Seit Jahrhunderten von den mannigfachsten, sich gegenseitig oft bis aufs Blut bekämpfenden Rassen, Nationen und Bekenntnissen bevölkert, kann es mich heute nicht zur Ruhe kommen. Mehr als dreiundeinhalb Millionen sind Tschechen, mehr als zweiundeinhalb Millionen Deutsche. Der jüdische Volksstamm, überwiegend in den Städten, wie Prag und Pilsen, von alters her ansässig, ist früher stets mit den Deutschen gegangen. Erst in letzter Zeit, seitdem die Tschechen Herren im Lande sind, macht sich ein Abrücken der Juden ins tschechische Lager bemerkbar. Ihre Intelligenz aber spricht, denkt und fühlt in der Mehrzahl immer noch deutsch. Die in der Prager „Lesehalle" organisierten deutschen Juden können es mit den Zionisten reichlich aufnehmen. Aber auch die christlichen Deutschen bilden keine Einheit. Eine Strecke nördlich von Eger beginnt das geschlossene ostmitteldeutsche Sprachgebiet, während südlich an den Rändern des Landes, vorwiegend im Böhmerwald, alles bereits dem bayerischen Stamm gehört. Auch konfessionelle Unterschiede machen sich bemerkbar. Die Gegend um Asch ist protestantisch, Wernsdorf bildet eine Hochburg der Altkatholiken, während die übrigen deutschböhmischen Gebiete kirchlich vom Erz¬ bistum Prag und vom Bistum Budiveis abhängen. Politisch sind die Wahl¬ kreise fast ausschließlich entweder deutschnational oder sozialdemokratisch vertreten. Die klerikale Partei hat wenig Anhänger im Lande.
Diese eigenartigen Verhältnisse und ihre Entwicklung — der ausgesprochene Kampf zwischen Deutschen und Tschechen, der im Zeitalter der Ausklärung ein¬ geschlummert war, tobt eigentlich erst seit 1848 wieder in hellen Flammen — finden ihr getreues Spiegelbild in der Literatur Böhmens. Fassen wir an dieser Stelle nur die deutschböhmische der Gegenwart ein wenig ins Auge! In ihrer Gesamtheit ist sie reich genug, ein starkes Kapitel der deutschen Literatur¬ geschichte überhaupt zu bilden. Ihr großer Klassiker heißt Adalbert Stifter.
Zu Stifters Zeiten war es schwer, die böhmischen Schriftsteller nach ihrer Nationalität zu unterscheiden. Viele Tschechen schrieben damals noch deutsch. Und unter den bodenständigen deutschen Dichtern gab es umgekehrt viele, die sich von einer Vermischung aller das Land bewohnenden Völker das Heil der
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Rassen, Nationen und Bekenntnissen bevölkert, kann es mich heute
nicht zur Ruhe kommen. Mehr als dreiundeinhalb Millionen sind
Tschechen, mehr als zweiundeinhalb Millionen Deutsche. Der
jüdische Volksstamm, überwiegend in den Städten, wie Prag und Pilsen, von
alters her ansässig, ist früher stets mit den Deutschen gegangen. Erst in letzter
Zeit, seitdem die Tschechen Herren im Lande sind, macht sich ein Abrücken der
Juden ins tschechische Lager bemerkbar. Ihre Intelligenz aber spricht, denkt und
fühlt in der Mehrzahl immer noch deutsch. Die in der Prager „Lesehalle"
organisierten deutschen Juden können es mit den Zionisten reichlich aufnehmen.
Aber auch die christlichen Deutschen bilden keine Einheit. Eine Strecke nördlich
von Eger beginnt das geschlossene ostmitteldeutsche Sprachgebiet, während südlich
an den Rändern des Landes, vorwiegend im Böhmerwald, alles bereits dem
bayerischen Stamm gehört. Auch konfessionelle Unterschiede machen sich bemerkbar.
Die Gegend um Asch ist protestantisch, Wernsdorf bildet eine Hochburg der
Altkatholiken, während die übrigen deutschböhmischen Gebiete kirchlich vom Erz¬
bistum Prag und vom Bistum Budiveis abhängen. Politisch sind die Wahl¬
kreise fast ausschließlich entweder deutschnational oder sozialdemokratisch vertreten.
Die klerikale Partei hat wenig Anhänger im Lande.
Diese eigenartigen Verhältnisse und ihre Entwicklung — der ausgesprochene
Kampf zwischen Deutschen und Tschechen, der im Zeitalter der Ausklärung ein¬
geschlummert war, tobt eigentlich erst seit 1848 wieder in hellen Flammen —
finden ihr getreues Spiegelbild in der Literatur Böhmens. Fassen wir an dieser
Stelle nur die deutschböhmische der Gegenwart ein wenig ins Auge! In ihrer
Gesamtheit ist sie reich genug, ein starkes Kapitel der deutschen Literatur¬
geschichte überhaupt zu bilden. Ihr großer Klassiker heißt Adalbert Stifter.
Zu Stifters Zeiten war es schwer, die böhmischen Schriftsteller nach ihrer
Nationalität zu unterscheiden. Viele Tschechen schrieben damals noch deutsch.
Und unter den bodenständigen deutschen Dichtern gab es umgekehrt viele, die
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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/432>, abgerufen am 23.01.2025.
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