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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Religionsfreiheit und Airchenrcform

gewiß hieraus erklärt, wenn die Zahl der Austretenden aus der Oberschicht so
minimal ist, weil diese gerade die letztgenannten Konsequenzen besonders bitter
empfindet. Denn es ist ja doch nur ein Schein, als ob die Oberschicht religiöser
und kirchlicher wäre als die Masse. -- Wir betrachten sodann die Lage der frei¬
religiösen Gemeinden. Nach der preußischen Verfassung können neue Religions-
gesellschaften Korporationsrechte nur durch besonderes Gesetz erhalten. Diese
Wohltat ist den freireligiösen Gemeinden versagt worden. Sie sind an¬
gewiesen auf den Weg der bloßen freien Vereinsbildung. Aber, und nun
kommt das Schlimmste: die religiösen Vereine unterstehen Beschränkungen,
die kein Sport-, Turm- und Gesangverein erfährt. Jeder dieser Vereine
kann sich ins Vereinsregister eintragen lassen und damit die Rechtsfähigkeit
erlangen, das einzige Mittel, das es gibt, einem Verein Konsistenz und
Dauer zu verleihen. Gegen die Eintragung religiöser Vereine aber steht der
Verwaltungsbehörde ein Einspruchsrecht zu, und dieser Einspruch wird in Preußen
scharf und rücksichtslos ausgeübt. So sind die freireligiösen Gemeinden behindert,
Grundeigentum zu erwerben (ein Hindernis, das sich schlechterdings nicht um¬
gehen läßt), Verträge zu schließen, Beamte anzustellen, Prozesse anzustrengen,
Schenkungen und Vermächtnisse zu empfangen. Noch in frischer Erinnerung ist
die allgemeine Mißbilligung über die versagte Erlaubnis zur Annahme des
Müllerschen Legats an die freireligiöse Gemeinde in Breslau. "Es ist das nicht
wesentlich anders, hat Kahl gesagt (Die Errichtung von Handelsgesellschaften
durch Religiöse; Berlin 1900. S. 22), als wenn im Gebiete des natürlichen
Lebens zwar dem Menschen die Erlaubnis, zu sein und zu leben, eingeräumt,
ihm aber die Möglichkeit, die zum Atmen nötige Luft und die zum Leben
notwendige Nahrung aufzunehmen, versagt würde."

Ich kann es weiterhin auch nur für eine berechtigte Beschwerde der Dissi¬
denten ansehen, wenn sie es als ein offenbares Unrecht beklagen, daß sie mit
ihren Steuern zur Leistung von Subsidien an Religionsgesellschaften heran¬
gezogen werden, aus denen sie ausgetreten sind. Die aus allgemeinen Steuer¬
mitteln fließenden Subventionen des Staates für die evangelische und katholische
Kirche betragen in Preußen zurzeit an "ordentlichen Ausgaben" etwa 39,3 Millionen
Mark, darunter 4^ Millionen, die teils auf rechtlicher Verpflichtung beruhen, teils
zur Speisung solcher Unterstützungsfonds dienen, die nicht nur Geistlichen, sondern
auch Lehrern, Kirchenbeamten usw. zugute kommen. Von dieser Summe abgesehen,
erhält die evangelische Kirche vom Staate 25, die katholische 9^ Millionen
Mark. Auf den Kopf einer Bevölkerung von 34 Millionen entfällt also als
Beitrag für Kirchenzwecke rund eine Mark. Daher fließen aus den Steuern
der Dissidenten in die Kassen der beiden christlichen Kirchen und hauptsächlich
in die Taschen der evangelischen und katholischen Geistlichen, ihrer Pensionierten
und Relikten, roh gerechnet 337000 Mark. Rechnet man aber hierbei auch die
Juden mit, die ja gleichfalls für ihre religiösen Organisationen vom Staate
nichts empfangen, und erwägt, welche Steuerkraft sie bedeuten, so ergibt sich,


Religionsfreiheit und Airchenrcform

gewiß hieraus erklärt, wenn die Zahl der Austretenden aus der Oberschicht so
minimal ist, weil diese gerade die letztgenannten Konsequenzen besonders bitter
empfindet. Denn es ist ja doch nur ein Schein, als ob die Oberschicht religiöser
und kirchlicher wäre als die Masse. — Wir betrachten sodann die Lage der frei¬
religiösen Gemeinden. Nach der preußischen Verfassung können neue Religions-
gesellschaften Korporationsrechte nur durch besonderes Gesetz erhalten. Diese
Wohltat ist den freireligiösen Gemeinden versagt worden. Sie sind an¬
gewiesen auf den Weg der bloßen freien Vereinsbildung. Aber, und nun
kommt das Schlimmste: die religiösen Vereine unterstehen Beschränkungen,
die kein Sport-, Turm- und Gesangverein erfährt. Jeder dieser Vereine
kann sich ins Vereinsregister eintragen lassen und damit die Rechtsfähigkeit
erlangen, das einzige Mittel, das es gibt, einem Verein Konsistenz und
Dauer zu verleihen. Gegen die Eintragung religiöser Vereine aber steht der
Verwaltungsbehörde ein Einspruchsrecht zu, und dieser Einspruch wird in Preußen
scharf und rücksichtslos ausgeübt. So sind die freireligiösen Gemeinden behindert,
Grundeigentum zu erwerben (ein Hindernis, das sich schlechterdings nicht um¬
gehen läßt), Verträge zu schließen, Beamte anzustellen, Prozesse anzustrengen,
Schenkungen und Vermächtnisse zu empfangen. Noch in frischer Erinnerung ist
die allgemeine Mißbilligung über die versagte Erlaubnis zur Annahme des
Müllerschen Legats an die freireligiöse Gemeinde in Breslau. „Es ist das nicht
wesentlich anders, hat Kahl gesagt (Die Errichtung von Handelsgesellschaften
durch Religiöse; Berlin 1900. S. 22), als wenn im Gebiete des natürlichen
Lebens zwar dem Menschen die Erlaubnis, zu sein und zu leben, eingeräumt,
ihm aber die Möglichkeit, die zum Atmen nötige Luft und die zum Leben
notwendige Nahrung aufzunehmen, versagt würde."

Ich kann es weiterhin auch nur für eine berechtigte Beschwerde der Dissi¬
denten ansehen, wenn sie es als ein offenbares Unrecht beklagen, daß sie mit
ihren Steuern zur Leistung von Subsidien an Religionsgesellschaften heran¬
gezogen werden, aus denen sie ausgetreten sind. Die aus allgemeinen Steuer¬
mitteln fließenden Subventionen des Staates für die evangelische und katholische
Kirche betragen in Preußen zurzeit an „ordentlichen Ausgaben" etwa 39,3 Millionen
Mark, darunter 4^ Millionen, die teils auf rechtlicher Verpflichtung beruhen, teils
zur Speisung solcher Unterstützungsfonds dienen, die nicht nur Geistlichen, sondern
auch Lehrern, Kirchenbeamten usw. zugute kommen. Von dieser Summe abgesehen,
erhält die evangelische Kirche vom Staate 25, die katholische 9^ Millionen
Mark. Auf den Kopf einer Bevölkerung von 34 Millionen entfällt also als
Beitrag für Kirchenzwecke rund eine Mark. Daher fließen aus den Steuern
der Dissidenten in die Kassen der beiden christlichen Kirchen und hauptsächlich
in die Taschen der evangelischen und katholischen Geistlichen, ihrer Pensionierten
und Relikten, roh gerechnet 337000 Mark. Rechnet man aber hierbei auch die
Juden mit, die ja gleichfalls für ihre religiösen Organisationen vom Staate
nichts empfangen, und erwägt, welche Steuerkraft sie bedeuten, so ergibt sich,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/430>, abgerufen am 23.07.2024.