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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Religionsfreiheit und Kirchenreform

Wo das Gewissen zu klagen anfängt, wacht der Bußruf der Reformation
auf: "Weg mit allen den Propheten, die da sagen: Friede! Friede! und ist
kein Friede; Einheit! Einheit! und ist keine Einheit." Und zwar handelt es
sich dabei nicht allein um unser Gewissen. Die großen Kämpfe der Gewissens¬
freiheit in der Geschichte sind nicht gekämpft für das eigene, fondern für die
fremden Gewissen. Von dem größten Helden der Gewissensfreiheit, von Roger
Williams, gilt dies unzweifelhaft. Ein echter Jesus- und Paulusjünger darf
keine Anklage schwerer nehmen als die, daß eines Menschen Gewissen nicht zu
seinem Rechte kommt. So unbedingt ist die göttliche Forderung der Ehrfurcht
vor dem Gewissen, daß alles ruhige Behagen in uns zerstört wird, wenn sie
irgendwo und irgendwie im Namen des Christentums und unter dem Vorgeben
der Frömmigkeit verletzt wird. So eifersüchtig ist Gott auf seine Ehre, daß
jeder Versuch, seine Alleinherrschaft über die Seelen zu beschränken, alle Gottes-
gläubigcn beleidigen und ergrimmen muß. Wer das nicht mitempfindet, steht
nicht auf der vollen Höhe der christlichen Persönlichkeitsreligion.

Ich behaupte nun das: die heutige Ordnung des religiösen Gemeinschafts¬
lebens in unserem Volke ist eine Gewissensnot für weite Kreise. Wenn sie als
solche nur von Einzelnen empfunden wird, so ist das erst recht ein Zeichen einer
tiefgreifenden Erkrankung unseres Volkskörpers. Das Bestehen dieser Not und
der Mangel an Feingefühl dafür ist eine Anklage wie für die Jesusjünger im
Lande, so auch für den modernen Staat.

Nach den letzten Veröffentlichungen der preußischen") Statistik gibt es in
Preußen auf 1000 8,39 Personen "anderer und unbekannter Religion", auf
100 000 839, in ganz Preußen rund 337 000. Die Zahl ist seit 1905 um
80 Prozent gestiegen, von 190 000 auf 337 000. Nun stecken in dieser Zahl
auch die Angehörigen kleiner Sekten ohne Korporationsqualität, aber diese sind
seit 1905 schwerlich bedeutend gewachsen. Die Steigerung ist durch die Austritts¬
bewegung hervorgerufen. Wir haben heute mit mindestens 150 000 Dissidenten
Zu rechnen. Und es ist kein Zweifel, daß diese Zahl noch weiter anwachsen wird.

In welcher Lage sind diese Dissidenten? Wir betrachten zuerst diejenigen,
denen es bloß um den Austritt aus der Kirche zu tun ist, und die keinerlei
religiöses Gemeinschaftsbedürfnis für sich und ihre Kinder haben. Vielerlei
lastet schwer auf ihnen: der Eid bei dem Namen Gottes, der Zwang zur Teil¬
nahme dissidentischer Kinder am Religionsunterricht, die peinlichen Vexationen
beim Militärdienst, der Mangel eines Anspruches auf Bestattung auf einem
konfessionellen Friedhofe, vielerorten dem einzig vorhandenen, und der Ausschluß
von allen öffentlichen Ämtern. So stark ist dieser Gewissenszwang, daß es sich



") Die Ordnung der Religionsangelegenheiten gehört nach der Verfassung zur Zuständig¬
keit der einzelnen Staaten, nicht des Reiches. Sie ist infolgedessen nicht überall dieselbe. Ich
beschränke mich auf die Lage in Preußen und lasse die im ganzen geringen Abweichungen
davon in den anderen deutschen Staaten außer Betracht.
Religionsfreiheit und Kirchenreform

Wo das Gewissen zu klagen anfängt, wacht der Bußruf der Reformation
auf: „Weg mit allen den Propheten, die da sagen: Friede! Friede! und ist
kein Friede; Einheit! Einheit! und ist keine Einheit." Und zwar handelt es
sich dabei nicht allein um unser Gewissen. Die großen Kämpfe der Gewissens¬
freiheit in der Geschichte sind nicht gekämpft für das eigene, fondern für die
fremden Gewissen. Von dem größten Helden der Gewissensfreiheit, von Roger
Williams, gilt dies unzweifelhaft. Ein echter Jesus- und Paulusjünger darf
keine Anklage schwerer nehmen als die, daß eines Menschen Gewissen nicht zu
seinem Rechte kommt. So unbedingt ist die göttliche Forderung der Ehrfurcht
vor dem Gewissen, daß alles ruhige Behagen in uns zerstört wird, wenn sie
irgendwo und irgendwie im Namen des Christentums und unter dem Vorgeben
der Frömmigkeit verletzt wird. So eifersüchtig ist Gott auf seine Ehre, daß
jeder Versuch, seine Alleinherrschaft über die Seelen zu beschränken, alle Gottes-
gläubigcn beleidigen und ergrimmen muß. Wer das nicht mitempfindet, steht
nicht auf der vollen Höhe der christlichen Persönlichkeitsreligion.

Ich behaupte nun das: die heutige Ordnung des religiösen Gemeinschafts¬
lebens in unserem Volke ist eine Gewissensnot für weite Kreise. Wenn sie als
solche nur von Einzelnen empfunden wird, so ist das erst recht ein Zeichen einer
tiefgreifenden Erkrankung unseres Volkskörpers. Das Bestehen dieser Not und
der Mangel an Feingefühl dafür ist eine Anklage wie für die Jesusjünger im
Lande, so auch für den modernen Staat.

Nach den letzten Veröffentlichungen der preußischen") Statistik gibt es in
Preußen auf 1000 8,39 Personen „anderer und unbekannter Religion", auf
100 000 839, in ganz Preußen rund 337 000. Die Zahl ist seit 1905 um
80 Prozent gestiegen, von 190 000 auf 337 000. Nun stecken in dieser Zahl
auch die Angehörigen kleiner Sekten ohne Korporationsqualität, aber diese sind
seit 1905 schwerlich bedeutend gewachsen. Die Steigerung ist durch die Austritts¬
bewegung hervorgerufen. Wir haben heute mit mindestens 150 000 Dissidenten
Zu rechnen. Und es ist kein Zweifel, daß diese Zahl noch weiter anwachsen wird.

In welcher Lage sind diese Dissidenten? Wir betrachten zuerst diejenigen,
denen es bloß um den Austritt aus der Kirche zu tun ist, und die keinerlei
religiöses Gemeinschaftsbedürfnis für sich und ihre Kinder haben. Vielerlei
lastet schwer auf ihnen: der Eid bei dem Namen Gottes, der Zwang zur Teil¬
nahme dissidentischer Kinder am Religionsunterricht, die peinlichen Vexationen
beim Militärdienst, der Mangel eines Anspruches auf Bestattung auf einem
konfessionellen Friedhofe, vielerorten dem einzig vorhandenen, und der Ausschluß
von allen öffentlichen Ämtern. So stark ist dieser Gewissenszwang, daß es sich



") Die Ordnung der Religionsangelegenheiten gehört nach der Verfassung zur Zuständig¬
keit der einzelnen Staaten, nicht des Reiches. Sie ist infolgedessen nicht überall dieselbe. Ich
beschränke mich auf die Lage in Preußen und lasse die im ganzen geringen Abweichungen
davon in den anderen deutschen Staaten außer Betracht.
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[0429] Religionsfreiheit und Kirchenreform Wo das Gewissen zu klagen anfängt, wacht der Bußruf der Reformation auf: „Weg mit allen den Propheten, die da sagen: Friede! Friede! und ist kein Friede; Einheit! Einheit! und ist keine Einheit." Und zwar handelt es sich dabei nicht allein um unser Gewissen. Die großen Kämpfe der Gewissens¬ freiheit in der Geschichte sind nicht gekämpft für das eigene, fondern für die fremden Gewissen. Von dem größten Helden der Gewissensfreiheit, von Roger Williams, gilt dies unzweifelhaft. Ein echter Jesus- und Paulusjünger darf keine Anklage schwerer nehmen als die, daß eines Menschen Gewissen nicht zu seinem Rechte kommt. So unbedingt ist die göttliche Forderung der Ehrfurcht vor dem Gewissen, daß alles ruhige Behagen in uns zerstört wird, wenn sie irgendwo und irgendwie im Namen des Christentums und unter dem Vorgeben der Frömmigkeit verletzt wird. So eifersüchtig ist Gott auf seine Ehre, daß jeder Versuch, seine Alleinherrschaft über die Seelen zu beschränken, alle Gottes- gläubigcn beleidigen und ergrimmen muß. Wer das nicht mitempfindet, steht nicht auf der vollen Höhe der christlichen Persönlichkeitsreligion. Ich behaupte nun das: die heutige Ordnung des religiösen Gemeinschafts¬ lebens in unserem Volke ist eine Gewissensnot für weite Kreise. Wenn sie als solche nur von Einzelnen empfunden wird, so ist das erst recht ein Zeichen einer tiefgreifenden Erkrankung unseres Volkskörpers. Das Bestehen dieser Not und der Mangel an Feingefühl dafür ist eine Anklage wie für die Jesusjünger im Lande, so auch für den modernen Staat. Nach den letzten Veröffentlichungen der preußischen") Statistik gibt es in Preußen auf 1000 8,39 Personen „anderer und unbekannter Religion", auf 100 000 839, in ganz Preußen rund 337 000. Die Zahl ist seit 1905 um 80 Prozent gestiegen, von 190 000 auf 337 000. Nun stecken in dieser Zahl auch die Angehörigen kleiner Sekten ohne Korporationsqualität, aber diese sind seit 1905 schwerlich bedeutend gewachsen. Die Steigerung ist durch die Austritts¬ bewegung hervorgerufen. Wir haben heute mit mindestens 150 000 Dissidenten Zu rechnen. Und es ist kein Zweifel, daß diese Zahl noch weiter anwachsen wird. In welcher Lage sind diese Dissidenten? Wir betrachten zuerst diejenigen, denen es bloß um den Austritt aus der Kirche zu tun ist, und die keinerlei religiöses Gemeinschaftsbedürfnis für sich und ihre Kinder haben. Vielerlei lastet schwer auf ihnen: der Eid bei dem Namen Gottes, der Zwang zur Teil¬ nahme dissidentischer Kinder am Religionsunterricht, die peinlichen Vexationen beim Militärdienst, der Mangel eines Anspruches auf Bestattung auf einem konfessionellen Friedhofe, vielerorten dem einzig vorhandenen, und der Ausschluß von allen öffentlichen Ämtern. So stark ist dieser Gewissenszwang, daß es sich ") Die Ordnung der Religionsangelegenheiten gehört nach der Verfassung zur Zuständig¬ keit der einzelnen Staaten, nicht des Reiches. Sie ist infolgedessen nicht überall dieselbe. Ich beschränke mich auf die Lage in Preußen und lasse die im ganzen geringen Abweichungen davon in den anderen deutschen Staaten außer Betracht.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/429>, abgerufen am 23.07.2024.