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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Religionsfreiheit und Rirchcnrcfonn

seine Wirkung im Gedränge mit den Ansprüchen der Schule und des Berufs¬
lebens so oft verliert, deren Seelsorge immer nur einzelne beeinflußt.

Drittens: es gibt wohl keine Institution, in der der Weg von Gesetz
und Anordnung des Regiments zur Verwirklichung in der Praxis so weit ist,
wie die Kirche. Die allermeisten Gesetze und Verordnungen werden in der
Kirche gar nicht ausgeführt. Sie bleiben in Amtsblättern und Synodalproto¬
kollen stecken. Rahmen wir alle Ordnungen unserer Kirche buchstäblich ernst,
so wie es in jedem anderen rechtlichen Organismus selbstverständlich ist, also
die Bekenntnisverpflichtung, die agendarische Ordnung, alle Vorschriften über
Feuerbestattung, über den Konfirmandenunterricht usw., über die Beteiligung
am sozialen Leben, über die Grenzen der Redefreiheit der Geistlichen, so könnten
wohl nur wenige moderne Menschen Diener der Kirche sein. Aber wir nehmen
sie eben nicht ernst, wir fragen nicht viel danach, wir haben uns daran gewöhnt,
Abstriche und Erweichungen daran vorzunehmen; und mir scheint, daß auch die
Kirchenregierungen es gar nicht so ernst damit nehmen. An eine nachdrückliche
Aufsicht und Kontrolle denkt niemand. Nur ausnahmsweise, explosiv, erfolgt
ein Eingreifen, über das sich dann alle Welt wundert. Ob diese Haltung sittlich
ganz einwandsfrei ist, lasse ich dahingestellt, sie ist jedenfalls gang und gäbe
und die einzig mögliche. An mindestens dreihundert Tagen des Jahres und
bei 90 Prozent seiner Geschäfte denkt der theologisch und praktisch tüchtige
Pfarrer gar nicht an die Kirche. Noch weniger das Gemeindeglied. Es ist
klar, daß auch unter diesem Gesichtspunkte das Interesse an der Verfassung der
Kirche, in der wir leben, an ihrem Recht und Gesetz, gering sein muß.

Das Verlockende dieser Erwägungen empfindet niemand mehr als ich.
Warum sollte ich mich nicht auf theologische Arbeit in Rede und Schrift, auf
Predigt und Unterricht, auf Jugendpflege und die Gänge zu den Einsamen und
Angefochtenen beschränken und Kirche Kirche sein lassen? Ich persönlich fühle
mich kraft meiner geschichtlichen Denkweise fähig, alles, worin ich von der Über¬
lieferung und Kirchenlehre abweiche, nur als peripherisch zu betrachten; ich schätze
das Maß innerer Übereinstimmung mit einem frommen Altgläubigen trotz aller
Differenzen so hoch, daß es mich keine Überwindung kostet, mit ihm in einer Kirche
zu leben, und ich weiß auch, wie viel bleibender Gewinn mir von solchen Altgläubigen
zugeflossen ist. Dazu kommt, daß ich") unter einer Kirchenordnung lebe, die mich
nicht im geringsten beengt, in keinerlei Gewissenskonflikt drängt. Wie mir, wird es
sehr vielen gehen. Wir müssen uns nur fragen, ob es sittlich erlaubt ist, diese
großen Fragen allein vom Standpunkt der persönlichen inneren Lage zu entscheiden.

Für uns Protestanten erscheint die Behaglichkeit, mit der wir in der Kirche
wohnen und die Dinge laufen lassen, in dem Augenblick in einem anderen
Lichte, wo das Gewissen das Wort ergreift.



*) Ich bin Pfarrer einer Gemeinde in Frankfurt a. M. Die evangelischen Gemeinden
der ehemaligen Freien Stadt Frankfurt gehören nicht zur Preußischen Landeskirche, die nur
die sogenannten alten Provinzen umfaßt.
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seine Wirkung im Gedränge mit den Ansprüchen der Schule und des Berufs¬
lebens so oft verliert, deren Seelsorge immer nur einzelne beeinflußt.

Drittens: es gibt wohl keine Institution, in der der Weg von Gesetz
und Anordnung des Regiments zur Verwirklichung in der Praxis so weit ist,
wie die Kirche. Die allermeisten Gesetze und Verordnungen werden in der
Kirche gar nicht ausgeführt. Sie bleiben in Amtsblättern und Synodalproto¬
kollen stecken. Rahmen wir alle Ordnungen unserer Kirche buchstäblich ernst,
so wie es in jedem anderen rechtlichen Organismus selbstverständlich ist, also
die Bekenntnisverpflichtung, die agendarische Ordnung, alle Vorschriften über
Feuerbestattung, über den Konfirmandenunterricht usw., über die Beteiligung
am sozialen Leben, über die Grenzen der Redefreiheit der Geistlichen, so könnten
wohl nur wenige moderne Menschen Diener der Kirche sein. Aber wir nehmen
sie eben nicht ernst, wir fragen nicht viel danach, wir haben uns daran gewöhnt,
Abstriche und Erweichungen daran vorzunehmen; und mir scheint, daß auch die
Kirchenregierungen es gar nicht so ernst damit nehmen. An eine nachdrückliche
Aufsicht und Kontrolle denkt niemand. Nur ausnahmsweise, explosiv, erfolgt
ein Eingreifen, über das sich dann alle Welt wundert. Ob diese Haltung sittlich
ganz einwandsfrei ist, lasse ich dahingestellt, sie ist jedenfalls gang und gäbe
und die einzig mögliche. An mindestens dreihundert Tagen des Jahres und
bei 90 Prozent seiner Geschäfte denkt der theologisch und praktisch tüchtige
Pfarrer gar nicht an die Kirche. Noch weniger das Gemeindeglied. Es ist
klar, daß auch unter diesem Gesichtspunkte das Interesse an der Verfassung der
Kirche, in der wir leben, an ihrem Recht und Gesetz, gering sein muß.

Das Verlockende dieser Erwägungen empfindet niemand mehr als ich.
Warum sollte ich mich nicht auf theologische Arbeit in Rede und Schrift, auf
Predigt und Unterricht, auf Jugendpflege und die Gänge zu den Einsamen und
Angefochtenen beschränken und Kirche Kirche sein lassen? Ich persönlich fühle
mich kraft meiner geschichtlichen Denkweise fähig, alles, worin ich von der Über¬
lieferung und Kirchenlehre abweiche, nur als peripherisch zu betrachten; ich schätze
das Maß innerer Übereinstimmung mit einem frommen Altgläubigen trotz aller
Differenzen so hoch, daß es mich keine Überwindung kostet, mit ihm in einer Kirche
zu leben, und ich weiß auch, wie viel bleibender Gewinn mir von solchen Altgläubigen
zugeflossen ist. Dazu kommt, daß ich") unter einer Kirchenordnung lebe, die mich
nicht im geringsten beengt, in keinerlei Gewissenskonflikt drängt. Wie mir, wird es
sehr vielen gehen. Wir müssen uns nur fragen, ob es sittlich erlaubt ist, diese
großen Fragen allein vom Standpunkt der persönlichen inneren Lage zu entscheiden.

Für uns Protestanten erscheint die Behaglichkeit, mit der wir in der Kirche
wohnen und die Dinge laufen lassen, in dem Augenblick in einem anderen
Lichte, wo das Gewissen das Wort ergreift.



*) Ich bin Pfarrer einer Gemeinde in Frankfurt a. M. Die evangelischen Gemeinden
der ehemaligen Freien Stadt Frankfurt gehören nicht zur Preußischen Landeskirche, die nur
die sogenannten alten Provinzen umfaßt.
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[0428] Religionsfreiheit und Rirchcnrcfonn seine Wirkung im Gedränge mit den Ansprüchen der Schule und des Berufs¬ lebens so oft verliert, deren Seelsorge immer nur einzelne beeinflußt. Drittens: es gibt wohl keine Institution, in der der Weg von Gesetz und Anordnung des Regiments zur Verwirklichung in der Praxis so weit ist, wie die Kirche. Die allermeisten Gesetze und Verordnungen werden in der Kirche gar nicht ausgeführt. Sie bleiben in Amtsblättern und Synodalproto¬ kollen stecken. Rahmen wir alle Ordnungen unserer Kirche buchstäblich ernst, so wie es in jedem anderen rechtlichen Organismus selbstverständlich ist, also die Bekenntnisverpflichtung, die agendarische Ordnung, alle Vorschriften über Feuerbestattung, über den Konfirmandenunterricht usw., über die Beteiligung am sozialen Leben, über die Grenzen der Redefreiheit der Geistlichen, so könnten wohl nur wenige moderne Menschen Diener der Kirche sein. Aber wir nehmen sie eben nicht ernst, wir fragen nicht viel danach, wir haben uns daran gewöhnt, Abstriche und Erweichungen daran vorzunehmen; und mir scheint, daß auch die Kirchenregierungen es gar nicht so ernst damit nehmen. An eine nachdrückliche Aufsicht und Kontrolle denkt niemand. Nur ausnahmsweise, explosiv, erfolgt ein Eingreifen, über das sich dann alle Welt wundert. Ob diese Haltung sittlich ganz einwandsfrei ist, lasse ich dahingestellt, sie ist jedenfalls gang und gäbe und die einzig mögliche. An mindestens dreihundert Tagen des Jahres und bei 90 Prozent seiner Geschäfte denkt der theologisch und praktisch tüchtige Pfarrer gar nicht an die Kirche. Noch weniger das Gemeindeglied. Es ist klar, daß auch unter diesem Gesichtspunkte das Interesse an der Verfassung der Kirche, in der wir leben, an ihrem Recht und Gesetz, gering sein muß. Das Verlockende dieser Erwägungen empfindet niemand mehr als ich. Warum sollte ich mich nicht auf theologische Arbeit in Rede und Schrift, auf Predigt und Unterricht, auf Jugendpflege und die Gänge zu den Einsamen und Angefochtenen beschränken und Kirche Kirche sein lassen? Ich persönlich fühle mich kraft meiner geschichtlichen Denkweise fähig, alles, worin ich von der Über¬ lieferung und Kirchenlehre abweiche, nur als peripherisch zu betrachten; ich schätze das Maß innerer Übereinstimmung mit einem frommen Altgläubigen trotz aller Differenzen so hoch, daß es mich keine Überwindung kostet, mit ihm in einer Kirche zu leben, und ich weiß auch, wie viel bleibender Gewinn mir von solchen Altgläubigen zugeflossen ist. Dazu kommt, daß ich") unter einer Kirchenordnung lebe, die mich nicht im geringsten beengt, in keinerlei Gewissenskonflikt drängt. Wie mir, wird es sehr vielen gehen. Wir müssen uns nur fragen, ob es sittlich erlaubt ist, diese großen Fragen allein vom Standpunkt der persönlichen inneren Lage zu entscheiden. Für uns Protestanten erscheint die Behaglichkeit, mit der wir in der Kirche wohnen und die Dinge laufen lassen, in dem Augenblick in einem anderen Lichte, wo das Gewissen das Wort ergreift. *) Ich bin Pfarrer einer Gemeinde in Frankfurt a. M. Die evangelischen Gemeinden der ehemaligen Freien Stadt Frankfurt gehören nicht zur Preußischen Landeskirche, die nur die sogenannten alten Provinzen umfaßt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/428>, abgerufen am 23.07.2024.