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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Briefe aus China

Jubilee errichtet. Tatsächlich ist es eine mit allem Komfort ausgestattete Villa
für die Herren englischen Misstonare, die hier von der Last und den Mühen
ihrer anstrengenden Tätigkeit während der Sommermonate ausruhen. Es ist
doch gut, daß man auf diese Weise erfährt, wo das für die Mission gespendete
Geld bleibt. Durch die Einführung des Opiums und der Bibel hat die Königin
Viktoria ein so edles Denkmal wohl verdient!

Nachdem wir uns in dem Garten des "Sanatoriums" an der schönen Aus¬
sicht erfreut hatten, stiegen wir wieder hinab und gingen eine Strecke am Ufer
entlang, bis wir an eine Brücke kamen, die auf die nahe gelegene Insel hin¬
überführte. Mit den schönsten Bäumen bewachsen, beherbergt dies reizend
idyllische Eiland eine Anzahl schöner Tempel. An der Stelle, wo sich einst der
Sommerpalast der sung-Dynastie erhob, befindet sich jetzt eine Halle, die zur
Erinnerung an die Vollendung des großen, 120 Bände umfassenden Kataloges
(im vierzigsten Jahre der Regierung K'im-lung, 177L) errichtet worden ist. Sie
enthält eine reiche Bibliothek in dunklen Holzschränken, auf denen in goldener
Schrift die Titel der in ihnen enthaltenen Werke prangen. In nächster Nähe
davon befindet sich ein dem Andenken des großen Philosophen und Historie¬
graphen Chu-Hi geweihter Tempel. Die einfach schöne Tempelstelle enthält
nur die Tafel mit dem postHumen Ehrennamen des Weisen, aber an der Rückseite
der Hinterwand ist eine große Schiefertafel angebracht, die in kräftig gemeißelten
Strichen sein Bildnis in Lebensgröße trägt. Von hier aus traten wir den
Rückweg an, jedoch nicht wieder durch die Stadt, sondern auf allerhand gewundenen
Pfaden, die uns zumeist durch Reisfelder führten.

Am nächsten Morgen waren wir bereits um 8 Uhr bei Mr. P. und traten
in fünf Sänften die Reise an. Wir besuchten mit ihm zwei sehr interessante
buddhistische Tempel, die außerhalb der Stadt auf bewaldeten Höhen unweit des
Sees sehr malerisch gelegen sind. Einer derselben ist ein vielbesuchter Wall¬
fahrtsort. Zu beiden Seiten des Weges bildeten Bettler, größtenteils mit den
abschreckendsten Krankheiten behaftet, förmlich Spalier. Es war ein geradezu
ekelerregender Anblick. In der Stadt selbst besichtigten wir die prächtige Haupt¬
straße, deren meist zweistöckige Häuser mit herrlichem Schnitzwerk und bunten
Schildern einen überaus malerischen Anblick gewähren. Mir fiel unter anderm
ein Apothekergeschäft auf, das durch besonderen Glanz und Reichtum der Aus¬
stattung hervorragte. Begierig, die dort aufgestapelten seltsamen Rohmaterialien
der chinesischen Pharmakopöe etwas näher anzusehen, traten wir hinein, wurden
jedoch mit einer gewissen, unverkennbaren Zurückhaltung aufgenommen. Da
fiel mein Blick zufällig auf eine rotlackierte Holztafel, die über einer der Türen
hing und in goldenen Schriftzeichen ein Zitat aus dem Meng-tsze trug. Kaum
aber hatte ich verraten, daß mir nicht nur das Zitat selbst, sondern auch der
Zusammenhang, in dem es zu verstehen ist, bekannt war, als der Inhaber des
Ladens plötzlich wie Butter an der Sonne schmolz. Wir wurden mit der größten
Liebenswürdigkeit durch alle Räumlichkeiten des Geschäftes geführt, dann mit


Briefe aus China

Jubilee errichtet. Tatsächlich ist es eine mit allem Komfort ausgestattete Villa
für die Herren englischen Misstonare, die hier von der Last und den Mühen
ihrer anstrengenden Tätigkeit während der Sommermonate ausruhen. Es ist
doch gut, daß man auf diese Weise erfährt, wo das für die Mission gespendete
Geld bleibt. Durch die Einführung des Opiums und der Bibel hat die Königin
Viktoria ein so edles Denkmal wohl verdient!

Nachdem wir uns in dem Garten des „Sanatoriums" an der schönen Aus¬
sicht erfreut hatten, stiegen wir wieder hinab und gingen eine Strecke am Ufer
entlang, bis wir an eine Brücke kamen, die auf die nahe gelegene Insel hin¬
überführte. Mit den schönsten Bäumen bewachsen, beherbergt dies reizend
idyllische Eiland eine Anzahl schöner Tempel. An der Stelle, wo sich einst der
Sommerpalast der sung-Dynastie erhob, befindet sich jetzt eine Halle, die zur
Erinnerung an die Vollendung des großen, 120 Bände umfassenden Kataloges
(im vierzigsten Jahre der Regierung K'im-lung, 177L) errichtet worden ist. Sie
enthält eine reiche Bibliothek in dunklen Holzschränken, auf denen in goldener
Schrift die Titel der in ihnen enthaltenen Werke prangen. In nächster Nähe
davon befindet sich ein dem Andenken des großen Philosophen und Historie¬
graphen Chu-Hi geweihter Tempel. Die einfach schöne Tempelstelle enthält
nur die Tafel mit dem postHumen Ehrennamen des Weisen, aber an der Rückseite
der Hinterwand ist eine große Schiefertafel angebracht, die in kräftig gemeißelten
Strichen sein Bildnis in Lebensgröße trägt. Von hier aus traten wir den
Rückweg an, jedoch nicht wieder durch die Stadt, sondern auf allerhand gewundenen
Pfaden, die uns zumeist durch Reisfelder führten.

Am nächsten Morgen waren wir bereits um 8 Uhr bei Mr. P. und traten
in fünf Sänften die Reise an. Wir besuchten mit ihm zwei sehr interessante
buddhistische Tempel, die außerhalb der Stadt auf bewaldeten Höhen unweit des
Sees sehr malerisch gelegen sind. Einer derselben ist ein vielbesuchter Wall¬
fahrtsort. Zu beiden Seiten des Weges bildeten Bettler, größtenteils mit den
abschreckendsten Krankheiten behaftet, förmlich Spalier. Es war ein geradezu
ekelerregender Anblick. In der Stadt selbst besichtigten wir die prächtige Haupt¬
straße, deren meist zweistöckige Häuser mit herrlichem Schnitzwerk und bunten
Schildern einen überaus malerischen Anblick gewähren. Mir fiel unter anderm
ein Apothekergeschäft auf, das durch besonderen Glanz und Reichtum der Aus¬
stattung hervorragte. Begierig, die dort aufgestapelten seltsamen Rohmaterialien
der chinesischen Pharmakopöe etwas näher anzusehen, traten wir hinein, wurden
jedoch mit einer gewissen, unverkennbaren Zurückhaltung aufgenommen. Da
fiel mein Blick zufällig auf eine rotlackierte Holztafel, die über einer der Türen
hing und in goldenen Schriftzeichen ein Zitat aus dem Meng-tsze trug. Kaum
aber hatte ich verraten, daß mir nicht nur das Zitat selbst, sondern auch der
Zusammenhang, in dem es zu verstehen ist, bekannt war, als der Inhaber des
Ladens plötzlich wie Butter an der Sonne schmolz. Wir wurden mit der größten
Liebenswürdigkeit durch alle Räumlichkeiten des Geschäftes geführt, dann mit


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/402>, abgerufen am 23.07.2024.