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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Briefe aus Lhina

halben Stunde plötzlich vor einem Hause, ans dessen chinesischer Inschrift ich
ersah, daß es ein protestantisches Missionshaus war. Durch die nach der
Straße weit geöffnete Tür sahen wir in einen Schulraum hinein, der zwar
klein war, aber leicht die zehnfache Zahl der Schüler fassen konnte, die gerade
darin waren. Wir blieben natürlich stehen und warfen einen Blick hinein, und
in demselben Augenblick kam auch schon ein freundlich aussehender älterer Herr
heraus, der sich uns als Mr. P. vorstellte und uns fragte, ob er uns irgend
wie nützen könne. In freundlichster Weise gab er uns Ratschläge, wie wir die
Zeit am lohnendsten ausnützen sollten, und ging sogar gleich mit uns, um Sänften
für uns zu engagieren, damit wir mit möglichst geringem Zeitverlust die Stadt
besichtigen könnten. Leider waren jedoch keine mehr aufzutreiben. Die Prüfungs¬
kommission hatte nämlich gerade an diesem Tage die Stadt verlassen, und sämt¬
liche Mandarine Hang-chow's hatten den Herren das Geleite gegeben. So
konnten wir denn der vorgerückten Zeit wegen nichts Größeres mehr unter¬
nehmen, verabredeten aber dafür mit Mr. P. für den nächsten Tag eine gemein¬
same Wanderung, die uns denn auch viel Genuß bereitet hat. Dabei vergesse
ich ganz, zu erzählen, daß wir bereits am Vormittage desselben Tages eine
sechsstündige Wanderung (von acht bis zwei) hinter uns hatten -- den Missionar
lernten wir also erst bei Gelegenheit des zweiten Spazierganges, also am Nach¬
mittag, kennen. Wie waren wir überrascht und entzückt, als wir, nachdem wir
die Stadt durchquert hatten, aus den: Mauertore tretend, einen herrlichen,
großen See vor uns erblickten, der, von malerischen Inseln belebt und von
schönen Bergen umgeben, den Vizekonsul so sehr an den Lago Maggiore
erinnerte, daß er meinte, man brauche wahrlich nicht nach Italien zu reisen,
da man das Schöne so nahe habe. Hier besichtigten wir zunächst einen schönen
buddhistischen Tempel, wo uns ein freundlicher Priester alle Sehenswürdigkeiten
zeigte. Als ich ihm hernach eine kleine Gabe für seine Mühe anbot, lehnte er
diese dankend ab. Darauf besuchten wir die am Ufer des Sees gelegene ent¬
zückende Villa des verstorbenen Fu-t'al (Gouverneurs) Chang von Hang-chow.
Villa ist eigentlich nicht das Wort dafür, denn es waren eine ganze Anzahl
Phantastisch gebauter Lusthäuser und Pavillons. Der Garten selbst war aller¬
liebst angelegt und höchst charakteristisch für den chinesischen Gartenstil: über
Lotoskelche führten zierliche Holzstege in rechtwinklich gebrochenen Linien, die
künstlichen Felseninseln, die meist mit graziösen Pavillons geschmückt waren,
verbindend. Von dem höchstgelegenen dieser Pavillons genießt man einen
köstlichen Blick auf den See. Nicht weit von diesem Tuskulum sahen wir aus
einem der Hügel eine schlanke Pagode, verfallen im Laufe der Jahrhunderte
und vielfach mit Gesprüpp bewachsen. Dorthin zog es uns jetzt. Dicht neben
der Pagode steht ein nüchternes zweistöckiges Haus in europäischem Stil, durch
seine protzig herausfordernde Geschmacklosigkeit die Harmonie des Bildes störend.
Eine chinesische Tafel, am Eingangstore des Hauses, verkündet der staunenden
Mitwelt stolz, daß es ein "Sanatorium" ist. zum Andenken an das Diamond


Grenzboten IV 1911 ^
Briefe aus Lhina

halben Stunde plötzlich vor einem Hause, ans dessen chinesischer Inschrift ich
ersah, daß es ein protestantisches Missionshaus war. Durch die nach der
Straße weit geöffnete Tür sahen wir in einen Schulraum hinein, der zwar
klein war, aber leicht die zehnfache Zahl der Schüler fassen konnte, die gerade
darin waren. Wir blieben natürlich stehen und warfen einen Blick hinein, und
in demselben Augenblick kam auch schon ein freundlich aussehender älterer Herr
heraus, der sich uns als Mr. P. vorstellte und uns fragte, ob er uns irgend
wie nützen könne. In freundlichster Weise gab er uns Ratschläge, wie wir die
Zeit am lohnendsten ausnützen sollten, und ging sogar gleich mit uns, um Sänften
für uns zu engagieren, damit wir mit möglichst geringem Zeitverlust die Stadt
besichtigen könnten. Leider waren jedoch keine mehr aufzutreiben. Die Prüfungs¬
kommission hatte nämlich gerade an diesem Tage die Stadt verlassen, und sämt¬
liche Mandarine Hang-chow's hatten den Herren das Geleite gegeben. So
konnten wir denn der vorgerückten Zeit wegen nichts Größeres mehr unter¬
nehmen, verabredeten aber dafür mit Mr. P. für den nächsten Tag eine gemein¬
same Wanderung, die uns denn auch viel Genuß bereitet hat. Dabei vergesse
ich ganz, zu erzählen, daß wir bereits am Vormittage desselben Tages eine
sechsstündige Wanderung (von acht bis zwei) hinter uns hatten — den Missionar
lernten wir also erst bei Gelegenheit des zweiten Spazierganges, also am Nach¬
mittag, kennen. Wie waren wir überrascht und entzückt, als wir, nachdem wir
die Stadt durchquert hatten, aus den: Mauertore tretend, einen herrlichen,
großen See vor uns erblickten, der, von malerischen Inseln belebt und von
schönen Bergen umgeben, den Vizekonsul so sehr an den Lago Maggiore
erinnerte, daß er meinte, man brauche wahrlich nicht nach Italien zu reisen,
da man das Schöne so nahe habe. Hier besichtigten wir zunächst einen schönen
buddhistischen Tempel, wo uns ein freundlicher Priester alle Sehenswürdigkeiten
zeigte. Als ich ihm hernach eine kleine Gabe für seine Mühe anbot, lehnte er
diese dankend ab. Darauf besuchten wir die am Ufer des Sees gelegene ent¬
zückende Villa des verstorbenen Fu-t'al (Gouverneurs) Chang von Hang-chow.
Villa ist eigentlich nicht das Wort dafür, denn es waren eine ganze Anzahl
Phantastisch gebauter Lusthäuser und Pavillons. Der Garten selbst war aller¬
liebst angelegt und höchst charakteristisch für den chinesischen Gartenstil: über
Lotoskelche führten zierliche Holzstege in rechtwinklich gebrochenen Linien, die
künstlichen Felseninseln, die meist mit graziösen Pavillons geschmückt waren,
verbindend. Von dem höchstgelegenen dieser Pavillons genießt man einen
köstlichen Blick auf den See. Nicht weit von diesem Tuskulum sahen wir aus
einem der Hügel eine schlanke Pagode, verfallen im Laufe der Jahrhunderte
und vielfach mit Gesprüpp bewachsen. Dorthin zog es uns jetzt. Dicht neben
der Pagode steht ein nüchternes zweistöckiges Haus in europäischem Stil, durch
seine protzig herausfordernde Geschmacklosigkeit die Harmonie des Bildes störend.
Eine chinesische Tafel, am Eingangstore des Hauses, verkündet der staunenden
Mitwelt stolz, daß es ein „Sanatorium" ist. zum Andenken an das Diamond


Grenzboten IV 1911 ^
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[0401] Briefe aus Lhina halben Stunde plötzlich vor einem Hause, ans dessen chinesischer Inschrift ich ersah, daß es ein protestantisches Missionshaus war. Durch die nach der Straße weit geöffnete Tür sahen wir in einen Schulraum hinein, der zwar klein war, aber leicht die zehnfache Zahl der Schüler fassen konnte, die gerade darin waren. Wir blieben natürlich stehen und warfen einen Blick hinein, und in demselben Augenblick kam auch schon ein freundlich aussehender älterer Herr heraus, der sich uns als Mr. P. vorstellte und uns fragte, ob er uns irgend wie nützen könne. In freundlichster Weise gab er uns Ratschläge, wie wir die Zeit am lohnendsten ausnützen sollten, und ging sogar gleich mit uns, um Sänften für uns zu engagieren, damit wir mit möglichst geringem Zeitverlust die Stadt besichtigen könnten. Leider waren jedoch keine mehr aufzutreiben. Die Prüfungs¬ kommission hatte nämlich gerade an diesem Tage die Stadt verlassen, und sämt¬ liche Mandarine Hang-chow's hatten den Herren das Geleite gegeben. So konnten wir denn der vorgerückten Zeit wegen nichts Größeres mehr unter¬ nehmen, verabredeten aber dafür mit Mr. P. für den nächsten Tag eine gemein¬ same Wanderung, die uns denn auch viel Genuß bereitet hat. Dabei vergesse ich ganz, zu erzählen, daß wir bereits am Vormittage desselben Tages eine sechsstündige Wanderung (von acht bis zwei) hinter uns hatten — den Missionar lernten wir also erst bei Gelegenheit des zweiten Spazierganges, also am Nach¬ mittag, kennen. Wie waren wir überrascht und entzückt, als wir, nachdem wir die Stadt durchquert hatten, aus den: Mauertore tretend, einen herrlichen, großen See vor uns erblickten, der, von malerischen Inseln belebt und von schönen Bergen umgeben, den Vizekonsul so sehr an den Lago Maggiore erinnerte, daß er meinte, man brauche wahrlich nicht nach Italien zu reisen, da man das Schöne so nahe habe. Hier besichtigten wir zunächst einen schönen buddhistischen Tempel, wo uns ein freundlicher Priester alle Sehenswürdigkeiten zeigte. Als ich ihm hernach eine kleine Gabe für seine Mühe anbot, lehnte er diese dankend ab. Darauf besuchten wir die am Ufer des Sees gelegene ent¬ zückende Villa des verstorbenen Fu-t'al (Gouverneurs) Chang von Hang-chow. Villa ist eigentlich nicht das Wort dafür, denn es waren eine ganze Anzahl Phantastisch gebauter Lusthäuser und Pavillons. Der Garten selbst war aller¬ liebst angelegt und höchst charakteristisch für den chinesischen Gartenstil: über Lotoskelche führten zierliche Holzstege in rechtwinklich gebrochenen Linien, die künstlichen Felseninseln, die meist mit graziösen Pavillons geschmückt waren, verbindend. Von dem höchstgelegenen dieser Pavillons genießt man einen köstlichen Blick auf den See. Nicht weit von diesem Tuskulum sahen wir aus einem der Hügel eine schlanke Pagode, verfallen im Laufe der Jahrhunderte und vielfach mit Gesprüpp bewachsen. Dorthin zog es uns jetzt. Dicht neben der Pagode steht ein nüchternes zweistöckiges Haus in europäischem Stil, durch seine protzig herausfordernde Geschmacklosigkeit die Harmonie des Bildes störend. Eine chinesische Tafel, am Eingangstore des Hauses, verkündet der staunenden Mitwelt stolz, daß es ein „Sanatorium" ist. zum Andenken an das Diamond Grenzboten IV 1911 ^

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/401>, abgerufen am 23.07.2024.