Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Lricfe aus China

Mädchen- und die Knabenschule haben wir besichtigt und den Unterricht unter
der Leitung chinesischer Lehrer und Lehrerinnen angesehen. Peinlich sauber
waren die Schlafsäle. Die Männerabteilung konnten wir der Kürze der Zeit
wegen nur teilweise besichtigen. Hier erhalten die Zöglinge eine vollkommen
chinesische Ausbildung, und den Befähigteren unter ihnen ist die Möglichkeit
gegeben, einen höheren Lehrkursus durchzumachen, nach dessen Absolvierung sie
sich zu den öffentlichen Staatsprüfungen melden können. Selbstverständlich gibt
es auch in der Männerabteilung eine ganze Anzahl von Gewerbeschulen, in
denen Handwerker aller Art herangebildet werden. Diese hoffen wir bei Ge¬
legenheit unseres nächsten Besuches genauer kennen zu lernen. Fürs erste haben
wir nur die wissenschaftlichen Institute, die großartige Bibliothek, für die jetzt ein
eigenes Gebäude errichtet wird, das meteorologische Institut und das Observatorium
für Erdmagnetismus, in dem die magnetischen Strömungen im Innern der
Erde ununterbrochen durch einen automatisch arbeitenden Apparat graphisch
fixiert werden, besichtigt. Durch diese beiden Beobachtungsstationen werden
Erdbeben und Taifune vorausgemeldet, wodurch nicht nur Millionen an
Geld, sondern auch Millionen Menschenleben vor dem Untergange bewahrt bleiben.
Das ist praktisches Christentum im edelsten Sinne und einer christlichen Mission
würdig. Im nächsten Jahre soll auch eine große Sternwarte errichtet werden.

In Summa: ehe man kurzerhand über die katholischen Missionen als rein
äußerlicher Natur aburteilt, wie das leider sehr oft in protestantischen Kreisen
geschieht, sollte man doch lieber erst hingehen und sich mit eigenen Augen von
dem überzeugen, was hier geleistet wird. Die Jesuiten haben eben den sehr
wichtigen Grundsatz, daß ihre Missionare sich selbst erst ins Chinesische über¬
setzen, sich eine chinesische gelehrte Bildung und ein gewisses chinesisches Wesen
in ihrem ganzen Benehmen und Auftreten aneignen müssen, ehe sie an ihre
Tätigkeit gehen dürfen. Die Publikationen der gelehrten Patres, die hier unter
dem Titel "Variötö8 Zinolosique8" erscheinen, enthalten so manche wissen¬
schaftliche Arbeit ersten Ranges...




Shanghai, 24. Okt. 1897.

An seine Schwester.


Liebe Weinande!

.
. . . Garmisch muß nach der Ansichtskarte, die Du uns schickst, wohl schön
gelegen sein, und über die Alpen geht doch nichts von allem, was wir bisher
gesehen. Auch das Felsengebirge nicht; denn Wildnis allein, selbst die gro߬
artigste, kann wohl ergreifend und bewältigend wirken, aber niemals anheimelnd,
auf mich wenigstens nicht. Die Natur wirkt nicht durch ihre sichtbaren Reize
allein, sondern zum mindesten ebenso sehr durch das unsichtbare Zaubergewand.
womit Sage und Geschichte sie umwoben haben: dadurch erst wird der toten
Natur Leben eingehaucht, und die Steine reden. Was man mit den Augen
sieht, erblickt man doch erst durch das Gemüt und schafft dadurch ein neues


Lricfe aus China

Mädchen- und die Knabenschule haben wir besichtigt und den Unterricht unter
der Leitung chinesischer Lehrer und Lehrerinnen angesehen. Peinlich sauber
waren die Schlafsäle. Die Männerabteilung konnten wir der Kürze der Zeit
wegen nur teilweise besichtigen. Hier erhalten die Zöglinge eine vollkommen
chinesische Ausbildung, und den Befähigteren unter ihnen ist die Möglichkeit
gegeben, einen höheren Lehrkursus durchzumachen, nach dessen Absolvierung sie
sich zu den öffentlichen Staatsprüfungen melden können. Selbstverständlich gibt
es auch in der Männerabteilung eine ganze Anzahl von Gewerbeschulen, in
denen Handwerker aller Art herangebildet werden. Diese hoffen wir bei Ge¬
legenheit unseres nächsten Besuches genauer kennen zu lernen. Fürs erste haben
wir nur die wissenschaftlichen Institute, die großartige Bibliothek, für die jetzt ein
eigenes Gebäude errichtet wird, das meteorologische Institut und das Observatorium
für Erdmagnetismus, in dem die magnetischen Strömungen im Innern der
Erde ununterbrochen durch einen automatisch arbeitenden Apparat graphisch
fixiert werden, besichtigt. Durch diese beiden Beobachtungsstationen werden
Erdbeben und Taifune vorausgemeldet, wodurch nicht nur Millionen an
Geld, sondern auch Millionen Menschenleben vor dem Untergange bewahrt bleiben.
Das ist praktisches Christentum im edelsten Sinne und einer christlichen Mission
würdig. Im nächsten Jahre soll auch eine große Sternwarte errichtet werden.

In Summa: ehe man kurzerhand über die katholischen Missionen als rein
äußerlicher Natur aburteilt, wie das leider sehr oft in protestantischen Kreisen
geschieht, sollte man doch lieber erst hingehen und sich mit eigenen Augen von
dem überzeugen, was hier geleistet wird. Die Jesuiten haben eben den sehr
wichtigen Grundsatz, daß ihre Missionare sich selbst erst ins Chinesische über¬
setzen, sich eine chinesische gelehrte Bildung und ein gewisses chinesisches Wesen
in ihrem ganzen Benehmen und Auftreten aneignen müssen, ehe sie an ihre
Tätigkeit gehen dürfen. Die Publikationen der gelehrten Patres, die hier unter
dem Titel „Variötö8 Zinolosique8" erscheinen, enthalten so manche wissen¬
schaftliche Arbeit ersten Ranges...




Shanghai, 24. Okt. 1897.

An seine Schwester.


Liebe Weinande!

.
. . . Garmisch muß nach der Ansichtskarte, die Du uns schickst, wohl schön
gelegen sein, und über die Alpen geht doch nichts von allem, was wir bisher
gesehen. Auch das Felsengebirge nicht; denn Wildnis allein, selbst die gro߬
artigste, kann wohl ergreifend und bewältigend wirken, aber niemals anheimelnd,
auf mich wenigstens nicht. Die Natur wirkt nicht durch ihre sichtbaren Reize
allein, sondern zum mindesten ebenso sehr durch das unsichtbare Zaubergewand.
womit Sage und Geschichte sie umwoben haben: dadurch erst wird der toten
Natur Leben eingehaucht, und die Steine reden. Was man mit den Augen
sieht, erblickt man doch erst durch das Gemüt und schafft dadurch ein neues


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0399" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/320000"/>
          <fw type="header" place="top"> Lricfe aus China</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1640" prev="#ID_1639"> Mädchen- und die Knabenschule haben wir besichtigt und den Unterricht unter<lb/>
der Leitung chinesischer Lehrer und Lehrerinnen angesehen. Peinlich sauber<lb/>
waren die Schlafsäle. Die Männerabteilung konnten wir der Kürze der Zeit<lb/>
wegen nur teilweise besichtigen. Hier erhalten die Zöglinge eine vollkommen<lb/>
chinesische Ausbildung, und den Befähigteren unter ihnen ist die Möglichkeit<lb/>
gegeben, einen höheren Lehrkursus durchzumachen, nach dessen Absolvierung sie<lb/>
sich zu den öffentlichen Staatsprüfungen melden können. Selbstverständlich gibt<lb/>
es auch in der Männerabteilung eine ganze Anzahl von Gewerbeschulen, in<lb/>
denen Handwerker aller Art herangebildet werden. Diese hoffen wir bei Ge¬<lb/>
legenheit unseres nächsten Besuches genauer kennen zu lernen. Fürs erste haben<lb/>
wir nur die wissenschaftlichen Institute, die großartige Bibliothek, für die jetzt ein<lb/>
eigenes Gebäude errichtet wird, das meteorologische Institut und das Observatorium<lb/>
für Erdmagnetismus, in dem die magnetischen Strömungen im Innern der<lb/>
Erde ununterbrochen durch einen automatisch arbeitenden Apparat graphisch<lb/>
fixiert werden, besichtigt. Durch diese beiden Beobachtungsstationen werden<lb/>
Erdbeben und Taifune vorausgemeldet, wodurch nicht nur Millionen an<lb/>
Geld, sondern auch Millionen Menschenleben vor dem Untergange bewahrt bleiben.<lb/>
Das ist praktisches Christentum im edelsten Sinne und einer christlichen Mission<lb/>
würdig. Im nächsten Jahre soll auch eine große Sternwarte errichtet werden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1641"> In Summa: ehe man kurzerhand über die katholischen Missionen als rein<lb/>
äußerlicher Natur aburteilt, wie das leider sehr oft in protestantischen Kreisen<lb/>
geschieht, sollte man doch lieber erst hingehen und sich mit eigenen Augen von<lb/>
dem überzeugen, was hier geleistet wird. Die Jesuiten haben eben den sehr<lb/>
wichtigen Grundsatz, daß ihre Missionare sich selbst erst ins Chinesische über¬<lb/>
setzen, sich eine chinesische gelehrte Bildung und ein gewisses chinesisches Wesen<lb/>
in ihrem ganzen Benehmen und Auftreten aneignen müssen, ehe sie an ihre<lb/>
Tätigkeit gehen dürfen. Die Publikationen der gelehrten Patres, die hier unter<lb/>
dem Titel &#x201E;Variötö8 Zinolosique8" erscheinen, enthalten so manche wissen¬<lb/>
schaftliche Arbeit ersten Ranges...</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <p xml:id="ID_1642"> Shanghai, 24. Okt. 1897.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1643"> An seine Schwester.</p><lb/>
          <note type="salute"> Liebe Weinande!</note><lb/>
          <p xml:id="ID_1644" next="#ID_1645"> .<lb/>
. . . Garmisch muß nach der Ansichtskarte, die Du uns schickst, wohl schön<lb/>
gelegen sein, und über die Alpen geht doch nichts von allem, was wir bisher<lb/>
gesehen. Auch das Felsengebirge nicht; denn Wildnis allein, selbst die gro߬<lb/>
artigste, kann wohl ergreifend und bewältigend wirken, aber niemals anheimelnd,<lb/>
auf mich wenigstens nicht. Die Natur wirkt nicht durch ihre sichtbaren Reize<lb/>
allein, sondern zum mindesten ebenso sehr durch das unsichtbare Zaubergewand.<lb/>
womit Sage und Geschichte sie umwoben haben: dadurch erst wird der toten<lb/>
Natur Leben eingehaucht, und die Steine reden. Was man mit den Augen<lb/>
sieht, erblickt man doch erst durch das Gemüt und schafft dadurch ein neues</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0399] Lricfe aus China Mädchen- und die Knabenschule haben wir besichtigt und den Unterricht unter der Leitung chinesischer Lehrer und Lehrerinnen angesehen. Peinlich sauber waren die Schlafsäle. Die Männerabteilung konnten wir der Kürze der Zeit wegen nur teilweise besichtigen. Hier erhalten die Zöglinge eine vollkommen chinesische Ausbildung, und den Befähigteren unter ihnen ist die Möglichkeit gegeben, einen höheren Lehrkursus durchzumachen, nach dessen Absolvierung sie sich zu den öffentlichen Staatsprüfungen melden können. Selbstverständlich gibt es auch in der Männerabteilung eine ganze Anzahl von Gewerbeschulen, in denen Handwerker aller Art herangebildet werden. Diese hoffen wir bei Ge¬ legenheit unseres nächsten Besuches genauer kennen zu lernen. Fürs erste haben wir nur die wissenschaftlichen Institute, die großartige Bibliothek, für die jetzt ein eigenes Gebäude errichtet wird, das meteorologische Institut und das Observatorium für Erdmagnetismus, in dem die magnetischen Strömungen im Innern der Erde ununterbrochen durch einen automatisch arbeitenden Apparat graphisch fixiert werden, besichtigt. Durch diese beiden Beobachtungsstationen werden Erdbeben und Taifune vorausgemeldet, wodurch nicht nur Millionen an Geld, sondern auch Millionen Menschenleben vor dem Untergange bewahrt bleiben. Das ist praktisches Christentum im edelsten Sinne und einer christlichen Mission würdig. Im nächsten Jahre soll auch eine große Sternwarte errichtet werden. In Summa: ehe man kurzerhand über die katholischen Missionen als rein äußerlicher Natur aburteilt, wie das leider sehr oft in protestantischen Kreisen geschieht, sollte man doch lieber erst hingehen und sich mit eigenen Augen von dem überzeugen, was hier geleistet wird. Die Jesuiten haben eben den sehr wichtigen Grundsatz, daß ihre Missionare sich selbst erst ins Chinesische über¬ setzen, sich eine chinesische gelehrte Bildung und ein gewisses chinesisches Wesen in ihrem ganzen Benehmen und Auftreten aneignen müssen, ehe sie an ihre Tätigkeit gehen dürfen. Die Publikationen der gelehrten Patres, die hier unter dem Titel „Variötö8 Zinolosique8" erscheinen, enthalten so manche wissen¬ schaftliche Arbeit ersten Ranges... Shanghai, 24. Okt. 1897. An seine Schwester. Liebe Weinande! . . . . Garmisch muß nach der Ansichtskarte, die Du uns schickst, wohl schön gelegen sein, und über die Alpen geht doch nichts von allem, was wir bisher gesehen. Auch das Felsengebirge nicht; denn Wildnis allein, selbst die gro߬ artigste, kann wohl ergreifend und bewältigend wirken, aber niemals anheimelnd, auf mich wenigstens nicht. Die Natur wirkt nicht durch ihre sichtbaren Reize allein, sondern zum mindesten ebenso sehr durch das unsichtbare Zaubergewand. womit Sage und Geschichte sie umwoben haben: dadurch erst wird der toten Natur Leben eingehaucht, und die Steine reden. Was man mit den Augen sieht, erblickt man doch erst durch das Gemüt und schafft dadurch ein neues

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/399
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/399>, abgerufen am 23.07.2024.