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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Briefe aus Lhina

wichtig mit Rücksicht auf die strafrechtliche Bestimmung, nach der Personen unter
zwölf Jahren der Bestrafung nicht unterworfen sind, da bei ihnen vorausgesetzt
wird, daß ihnen die zur Erkenntnis der Strafbarkeit notwendige Einsicht bei
Begehung der Straftat gefehlt hat*). Sollte mithin eine Jntelligenzprüfung
bei einem strafrechtlich verfolgten, der Debilität verdächtigen Erwachsenen tatsächlich
Debilität, nämlich ein Jntelligenzalter von höchstens zehn (also unter zwölf)
Jahr feststellen, so würde daraufhin von seiner Bestrafung abgesehen werden
müssen. -- Bei einem solchen wie bei jedem anderen Vergleich wirklichen Schwach¬
sinns mit den Stufen der Jntelligenzentwicklung des normalen Kindes darf man
jedoch nicht zu weit gehen: eine defekte, mangelhaft entwickelte Intelligenz ist
nicht dasselbe wie eine gesunde, aber noch unentwickelte Intelligenz. Ein noch
nicht ganz fertig gebautes Haus und ein sehr schlecht gebautes Haus gleichen sich
ja auch durchaus nicht, obwohl sie inbezug auf Bewohnbarkeit einige Mängel
gemein haben mögen.




Briefe aus (Lhina weiland Professor Dr. Wilhelm Grube vonIII.

An seine Schwester.

Shanghai, 20. Okt. 1897.


Liebe Weinande!

. . . Auf dem Diner beim Taotai war wenigstens eine Persönlichkeit, die das
Interesse aller auf sich lenkte, und das war der Koch. Doch ich will nicht vor¬
greifen, sondern lieber in chronologischer Reihenfolge berichten, was wir erlebt
und gegessen haben.

Vor dem Hause des Taotai war ein ganzes Regiment Soldaten als Ehren¬
wache aufgestellt, die vor allen Gästen das Gewehr präsentierten, während jeder
von ihnen zugleich mit einer schönen roten Papierlaterne bewaffnet war. Gerührt,
wie Faure in Petersburg, erwiderte ich die Honneurs, indem ich die Hand an
den Zylinder legte. In der Haustüre stand S. Exzellenz, ein behäbiger, sehr
freundlicher Herr, und bewillkommnete, von seinem Sekretär und Dolmetscher,
Herrn Fung, unterstützt, seine Gäste. In galantester Weise führte er jede der
Damen am Arme in den prachtvollen, ganz chinesisch eingerichteten Salon, wo



") Wie es um die sittliche Reife solcher Jugendlichen steht, die das Alter der Straf¬
barkeit erreicht haben, werden unsere Leser aus einem demnächst erscheinenden Aufsatz ersehen,
in dem der Berliner Jrrenarzt Dr. Max Levy-Susi seine am Jugendgericht gesammelten
Beobachtungen niedergelegt hat. Die Schriftltg.
Briefe aus Lhina

wichtig mit Rücksicht auf die strafrechtliche Bestimmung, nach der Personen unter
zwölf Jahren der Bestrafung nicht unterworfen sind, da bei ihnen vorausgesetzt
wird, daß ihnen die zur Erkenntnis der Strafbarkeit notwendige Einsicht bei
Begehung der Straftat gefehlt hat*). Sollte mithin eine Jntelligenzprüfung
bei einem strafrechtlich verfolgten, der Debilität verdächtigen Erwachsenen tatsächlich
Debilität, nämlich ein Jntelligenzalter von höchstens zehn (also unter zwölf)
Jahr feststellen, so würde daraufhin von seiner Bestrafung abgesehen werden
müssen. — Bei einem solchen wie bei jedem anderen Vergleich wirklichen Schwach¬
sinns mit den Stufen der Jntelligenzentwicklung des normalen Kindes darf man
jedoch nicht zu weit gehen: eine defekte, mangelhaft entwickelte Intelligenz ist
nicht dasselbe wie eine gesunde, aber noch unentwickelte Intelligenz. Ein noch
nicht ganz fertig gebautes Haus und ein sehr schlecht gebautes Haus gleichen sich
ja auch durchaus nicht, obwohl sie inbezug auf Bewohnbarkeit einige Mängel
gemein haben mögen.




Briefe aus (Lhina weiland Professor Dr. Wilhelm Grube vonIII.

An seine Schwester.

Shanghai, 20. Okt. 1897.


Liebe Weinande!

. . . Auf dem Diner beim Taotai war wenigstens eine Persönlichkeit, die das
Interesse aller auf sich lenkte, und das war der Koch. Doch ich will nicht vor¬
greifen, sondern lieber in chronologischer Reihenfolge berichten, was wir erlebt
und gegessen haben.

Vor dem Hause des Taotai war ein ganzes Regiment Soldaten als Ehren¬
wache aufgestellt, die vor allen Gästen das Gewehr präsentierten, während jeder
von ihnen zugleich mit einer schönen roten Papierlaterne bewaffnet war. Gerührt,
wie Faure in Petersburg, erwiderte ich die Honneurs, indem ich die Hand an
den Zylinder legte. In der Haustüre stand S. Exzellenz, ein behäbiger, sehr
freundlicher Herr, und bewillkommnete, von seinem Sekretär und Dolmetscher,
Herrn Fung, unterstützt, seine Gäste. In galantester Weise führte er jede der
Damen am Arme in den prachtvollen, ganz chinesisch eingerichteten Salon, wo



") Wie es um die sittliche Reife solcher Jugendlichen steht, die das Alter der Straf¬
barkeit erreicht haben, werden unsere Leser aus einem demnächst erscheinenden Aufsatz ersehen,
in dem der Berliner Jrrenarzt Dr. Max Levy-Susi seine am Jugendgericht gesammelten
Beobachtungen niedergelegt hat. Die Schriftltg.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/396>, abgerufen am 23.07.2024.