Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Iniclligenzprüfungcn an Schulkindern

stärkerer Defekt als bei einem zwölfjährigen. Aber das schadet nichts. Denn
hat man z. B. einmal empirisch festgestellt, daß sich unter den achtjährigen
Kindern, die in der Volksschule fortkommen, keines findet, das um zwei Jahre
oder mehr zurück ist, ein Jntelligenzalter von sechs Jahr oder darunter hat, so
kann man jedenfalls sagen, daß alle achtjährigen Kinder, die einen Defekt von
dieser Stärke zeigen, nicht imstande sein werden, in der Volksschule fortzukommen,
folglich einer Hilfsschule zu überweisen sind.

So viel von dem Grundgedanken der Binetschen Methode. Über die
konkrete Ausgestaltung der Testserie selbst möge folgendes mitgeteilt werden.
Zunächst ist zweierlei hervorzuheben. Erstens: Binet denkt sich seine Intelligenz-
Prüfung als einen Teil einer umfassenderen Untersuchung, die in drei Abschnitten
verläuft. Den Anfang macht eine Beurteilung des Kindes vom medizinischen
Standpunkte, also Aufnahme des gesamten körperlichen Befundes mit besonderer
Rücksicht auf etwa vorhandene nervöse Störungen, Feststellung von Degenerations¬
zeichen, Sinnesdefekten usw. Darauf folgt eine pädagogische Prüfung unter
Berücksichtigung der Art des bisherigen Schulbesuches des Kindes, also Fest¬
stellung seiner Kenntnisse im Schreiben, Lesen und Rechnen. Hierbei werden
sich meist schon wertvolle Daten für die Beurteilung seines geistigen Niveaus
ergeben; vielfach begnügt man sich ja überhaupt mit einer solchen pädagogischen
Methode der Jntelligenzprüfung. Erst wenn die pädagogische Prüfung ungünstig
ausgefallen ist, soll eine rein psychologische Jntelligenzprüfung vorgenommen
werden. -- Was nun speziell diese anbetrifft, so ist zweitens zu bemerken, daß
sie nicht bezweckt, eine systematische Analyse der geistigen Fähigkeiten des Kindes
zu geben. Infolgedessen kann es sich hier nicht darum handeln, die zur An¬
wendung kommenden Tests irgendeinem psychologischen Schema anzupassen. Die
Tests sind vielmehr lediglich vom Standpunkt der experimentell-technischen Brauch¬
barkeit ausgearbeitet, jedenfalls aber sind sie so gedacht, daß durch sie wirklich
die "eigentliche" Intelligenz geprüft wird. Hier scheint sich die Schwierigkeit
zu erheben, daß man, um die Intelligenz prüfen zu können, vorher genau
wissen müsse, was sie ist. Allein, diese Sorge ist überflüssig. Man kann nicht,
um eine Sache zu untersuchen, immer erst warten, bis man ihr Wesen ergründet
hat; man mißt ja auch die elektromotorische Kraft, ohne zu wissen, was sie
eigentlich ist. Analoges gilt für die Intelligenz: man kann sie prüfen, ohne sie
vorher definiert zu haben, und es wird für den vorliegenden Zweck genügen,
wenn man als Tests solche Fragen oder Aufgaben vermeidet, die auf Grund
von schulmäßigen Wissen, von mechanischem Gedächtnis, von äußerlicher Sprach¬
gewandtheit, von reiner Sinnesschärfe gelöst werden können. Es würde zu
weit abseits führen, die Frage näher zu erörtern, welche positiven Forderungen
man an eine gute Jntelligenzprobe und ihre praktische Anwendung zu stellen
hat. Es mag genügen, einige der Binetschen Tests zu nennen, wobei zu
beachten, daß die Zuordnung zu bestimmten Altersstufen für Volksschulkinder,
also nicht für Kinder aus gebildeten Ständen gilt: 1. Ein dreijähriges Kind


Iniclligenzprüfungcn an Schulkindern

stärkerer Defekt als bei einem zwölfjährigen. Aber das schadet nichts. Denn
hat man z. B. einmal empirisch festgestellt, daß sich unter den achtjährigen
Kindern, die in der Volksschule fortkommen, keines findet, das um zwei Jahre
oder mehr zurück ist, ein Jntelligenzalter von sechs Jahr oder darunter hat, so
kann man jedenfalls sagen, daß alle achtjährigen Kinder, die einen Defekt von
dieser Stärke zeigen, nicht imstande sein werden, in der Volksschule fortzukommen,
folglich einer Hilfsschule zu überweisen sind.

So viel von dem Grundgedanken der Binetschen Methode. Über die
konkrete Ausgestaltung der Testserie selbst möge folgendes mitgeteilt werden.
Zunächst ist zweierlei hervorzuheben. Erstens: Binet denkt sich seine Intelligenz-
Prüfung als einen Teil einer umfassenderen Untersuchung, die in drei Abschnitten
verläuft. Den Anfang macht eine Beurteilung des Kindes vom medizinischen
Standpunkte, also Aufnahme des gesamten körperlichen Befundes mit besonderer
Rücksicht auf etwa vorhandene nervöse Störungen, Feststellung von Degenerations¬
zeichen, Sinnesdefekten usw. Darauf folgt eine pädagogische Prüfung unter
Berücksichtigung der Art des bisherigen Schulbesuches des Kindes, also Fest¬
stellung seiner Kenntnisse im Schreiben, Lesen und Rechnen. Hierbei werden
sich meist schon wertvolle Daten für die Beurteilung seines geistigen Niveaus
ergeben; vielfach begnügt man sich ja überhaupt mit einer solchen pädagogischen
Methode der Jntelligenzprüfung. Erst wenn die pädagogische Prüfung ungünstig
ausgefallen ist, soll eine rein psychologische Jntelligenzprüfung vorgenommen
werden. — Was nun speziell diese anbetrifft, so ist zweitens zu bemerken, daß
sie nicht bezweckt, eine systematische Analyse der geistigen Fähigkeiten des Kindes
zu geben. Infolgedessen kann es sich hier nicht darum handeln, die zur An¬
wendung kommenden Tests irgendeinem psychologischen Schema anzupassen. Die
Tests sind vielmehr lediglich vom Standpunkt der experimentell-technischen Brauch¬
barkeit ausgearbeitet, jedenfalls aber sind sie so gedacht, daß durch sie wirklich
die „eigentliche" Intelligenz geprüft wird. Hier scheint sich die Schwierigkeit
zu erheben, daß man, um die Intelligenz prüfen zu können, vorher genau
wissen müsse, was sie ist. Allein, diese Sorge ist überflüssig. Man kann nicht,
um eine Sache zu untersuchen, immer erst warten, bis man ihr Wesen ergründet
hat; man mißt ja auch die elektromotorische Kraft, ohne zu wissen, was sie
eigentlich ist. Analoges gilt für die Intelligenz: man kann sie prüfen, ohne sie
vorher definiert zu haben, und es wird für den vorliegenden Zweck genügen,
wenn man als Tests solche Fragen oder Aufgaben vermeidet, die auf Grund
von schulmäßigen Wissen, von mechanischem Gedächtnis, von äußerlicher Sprach¬
gewandtheit, von reiner Sinnesschärfe gelöst werden können. Es würde zu
weit abseits führen, die Frage näher zu erörtern, welche positiven Forderungen
man an eine gute Jntelligenzprobe und ihre praktische Anwendung zu stellen
hat. Es mag genügen, einige der Binetschen Tests zu nennen, wobei zu
beachten, daß die Zuordnung zu bestimmten Altersstufen für Volksschulkinder,
also nicht für Kinder aus gebildeten Ständen gilt: 1. Ein dreijähriges Kind


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0392" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/319993"/>
          <fw type="header" place="top"> Iniclligenzprüfungcn an Schulkindern</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1617" prev="#ID_1616"> stärkerer Defekt als bei einem zwölfjährigen. Aber das schadet nichts. Denn<lb/>
hat man z. B. einmal empirisch festgestellt, daß sich unter den achtjährigen<lb/>
Kindern, die in der Volksschule fortkommen, keines findet, das um zwei Jahre<lb/>
oder mehr zurück ist, ein Jntelligenzalter von sechs Jahr oder darunter hat, so<lb/>
kann man jedenfalls sagen, daß alle achtjährigen Kinder, die einen Defekt von<lb/>
dieser Stärke zeigen, nicht imstande sein werden, in der Volksschule fortzukommen,<lb/>
folglich einer Hilfsschule zu überweisen sind.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1618" next="#ID_1619"> So viel von dem Grundgedanken der Binetschen Methode. Über die<lb/>
konkrete Ausgestaltung der Testserie selbst möge folgendes mitgeteilt werden.<lb/>
Zunächst ist zweierlei hervorzuheben. Erstens: Binet denkt sich seine Intelligenz-<lb/>
Prüfung als einen Teil einer umfassenderen Untersuchung, die in drei Abschnitten<lb/>
verläuft. Den Anfang macht eine Beurteilung des Kindes vom medizinischen<lb/>
Standpunkte, also Aufnahme des gesamten körperlichen Befundes mit besonderer<lb/>
Rücksicht auf etwa vorhandene nervöse Störungen, Feststellung von Degenerations¬<lb/>
zeichen, Sinnesdefekten usw. Darauf folgt eine pädagogische Prüfung unter<lb/>
Berücksichtigung der Art des bisherigen Schulbesuches des Kindes, also Fest¬<lb/>
stellung seiner Kenntnisse im Schreiben, Lesen und Rechnen. Hierbei werden<lb/>
sich meist schon wertvolle Daten für die Beurteilung seines geistigen Niveaus<lb/>
ergeben; vielfach begnügt man sich ja überhaupt mit einer solchen pädagogischen<lb/>
Methode der Jntelligenzprüfung. Erst wenn die pädagogische Prüfung ungünstig<lb/>
ausgefallen ist, soll eine rein psychologische Jntelligenzprüfung vorgenommen<lb/>
werden. &#x2014; Was nun speziell diese anbetrifft, so ist zweitens zu bemerken, daß<lb/>
sie nicht bezweckt, eine systematische Analyse der geistigen Fähigkeiten des Kindes<lb/>
zu geben. Infolgedessen kann es sich hier nicht darum handeln, die zur An¬<lb/>
wendung kommenden Tests irgendeinem psychologischen Schema anzupassen. Die<lb/>
Tests sind vielmehr lediglich vom Standpunkt der experimentell-technischen Brauch¬<lb/>
barkeit ausgearbeitet, jedenfalls aber sind sie so gedacht, daß durch sie wirklich<lb/>
die &#x201E;eigentliche" Intelligenz geprüft wird. Hier scheint sich die Schwierigkeit<lb/>
zu erheben, daß man, um die Intelligenz prüfen zu können, vorher genau<lb/>
wissen müsse, was sie ist. Allein, diese Sorge ist überflüssig. Man kann nicht,<lb/>
um eine Sache zu untersuchen, immer erst warten, bis man ihr Wesen ergründet<lb/>
hat; man mißt ja auch die elektromotorische Kraft, ohne zu wissen, was sie<lb/>
eigentlich ist. Analoges gilt für die Intelligenz: man kann sie prüfen, ohne sie<lb/>
vorher definiert zu haben, und es wird für den vorliegenden Zweck genügen,<lb/>
wenn man als Tests solche Fragen oder Aufgaben vermeidet, die auf Grund<lb/>
von schulmäßigen Wissen, von mechanischem Gedächtnis, von äußerlicher Sprach¬<lb/>
gewandtheit, von reiner Sinnesschärfe gelöst werden können. Es würde zu<lb/>
weit abseits führen, die Frage näher zu erörtern, welche positiven Forderungen<lb/>
man an eine gute Jntelligenzprobe und ihre praktische Anwendung zu stellen<lb/>
hat. Es mag genügen, einige der Binetschen Tests zu nennen, wobei zu<lb/>
beachten, daß die Zuordnung zu bestimmten Altersstufen für Volksschulkinder,<lb/>
also nicht für Kinder aus gebildeten Ständen gilt: 1. Ein dreijähriges Kind</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0392] Iniclligenzprüfungcn an Schulkindern stärkerer Defekt als bei einem zwölfjährigen. Aber das schadet nichts. Denn hat man z. B. einmal empirisch festgestellt, daß sich unter den achtjährigen Kindern, die in der Volksschule fortkommen, keines findet, das um zwei Jahre oder mehr zurück ist, ein Jntelligenzalter von sechs Jahr oder darunter hat, so kann man jedenfalls sagen, daß alle achtjährigen Kinder, die einen Defekt von dieser Stärke zeigen, nicht imstande sein werden, in der Volksschule fortzukommen, folglich einer Hilfsschule zu überweisen sind. So viel von dem Grundgedanken der Binetschen Methode. Über die konkrete Ausgestaltung der Testserie selbst möge folgendes mitgeteilt werden. Zunächst ist zweierlei hervorzuheben. Erstens: Binet denkt sich seine Intelligenz- Prüfung als einen Teil einer umfassenderen Untersuchung, die in drei Abschnitten verläuft. Den Anfang macht eine Beurteilung des Kindes vom medizinischen Standpunkte, also Aufnahme des gesamten körperlichen Befundes mit besonderer Rücksicht auf etwa vorhandene nervöse Störungen, Feststellung von Degenerations¬ zeichen, Sinnesdefekten usw. Darauf folgt eine pädagogische Prüfung unter Berücksichtigung der Art des bisherigen Schulbesuches des Kindes, also Fest¬ stellung seiner Kenntnisse im Schreiben, Lesen und Rechnen. Hierbei werden sich meist schon wertvolle Daten für die Beurteilung seines geistigen Niveaus ergeben; vielfach begnügt man sich ja überhaupt mit einer solchen pädagogischen Methode der Jntelligenzprüfung. Erst wenn die pädagogische Prüfung ungünstig ausgefallen ist, soll eine rein psychologische Jntelligenzprüfung vorgenommen werden. — Was nun speziell diese anbetrifft, so ist zweitens zu bemerken, daß sie nicht bezweckt, eine systematische Analyse der geistigen Fähigkeiten des Kindes zu geben. Infolgedessen kann es sich hier nicht darum handeln, die zur An¬ wendung kommenden Tests irgendeinem psychologischen Schema anzupassen. Die Tests sind vielmehr lediglich vom Standpunkt der experimentell-technischen Brauch¬ barkeit ausgearbeitet, jedenfalls aber sind sie so gedacht, daß durch sie wirklich die „eigentliche" Intelligenz geprüft wird. Hier scheint sich die Schwierigkeit zu erheben, daß man, um die Intelligenz prüfen zu können, vorher genau wissen müsse, was sie ist. Allein, diese Sorge ist überflüssig. Man kann nicht, um eine Sache zu untersuchen, immer erst warten, bis man ihr Wesen ergründet hat; man mißt ja auch die elektromotorische Kraft, ohne zu wissen, was sie eigentlich ist. Analoges gilt für die Intelligenz: man kann sie prüfen, ohne sie vorher definiert zu haben, und es wird für den vorliegenden Zweck genügen, wenn man als Tests solche Fragen oder Aufgaben vermeidet, die auf Grund von schulmäßigen Wissen, von mechanischem Gedächtnis, von äußerlicher Sprach¬ gewandtheit, von reiner Sinnesschärfe gelöst werden können. Es würde zu weit abseits führen, die Frage näher zu erörtern, welche positiven Forderungen man an eine gute Jntelligenzprobe und ihre praktische Anwendung zu stellen hat. Es mag genügen, einige der Binetschen Tests zu nennen, wobei zu beachten, daß die Zuordnung zu bestimmten Altersstufen für Volksschulkinder, also nicht für Kinder aus gebildeten Ständen gilt: 1. Ein dreijähriges Kind

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/392
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/392>, abgerufen am 23.07.2024.