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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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f>vier und Rom nach ^8?c>

Kardinal Vincenzo Vannutelli, zirr Krönung Alexanders des Dritten nach Moskau
ging, wußte er sich die Erlaubnis zu verschaffen, auf der Rückreise Warschau
und andere Städte Polens zu besuchen. Bei dieser Gelegenheit wurde dann
deu Polen die Allgegenwart und väterliche Fürsorge Roos wieder zum Be¬
wußtsein gebracht. Des diplomatischen Verständnisses ermangelnd, kamen aber
noch im selben Jahre russische Ruthencn nach Rom, um dem Papste
in einer Adresse höchste Verehrung, zugleich aber lebhafte Klagen gegen den
Zaren und die russische Regierung auszusprechen. Leo der Dreizehnte glaubte,
daß die Adresse geheim bleiben werde, und nahm sie entgegen, natürlich ohne
jeden durch die diplomatischen Regeln gebotenen Protest. Das Journal de Rome
veröffentlichte jedoch die Adresse, und ein Protest der russischen Regierung ließ
nicht auf sich warten. Es folgte eine starke Abkühlung der russisch-vatikanischen
Beziehungen, die ein Jahrzehnt, bis zu der päpstlichen Enzyklika von 1894 an
die "polnische Nation", anhielt. Diese Enzyklika empfahl den preußischen,
österreichischen und vorzugsweise den russischen Polen die Achtung der stabilierten
Autorität und den aufrichtigen Gehorsam gegen die weltlichen Mächte und stellte
hierfür eine fortschreitende Besserung ihrer religiösen Verhältnisse in Aussicht.
War diese Enzyklika im Grunde nichts weiter als der Rat an die Polen, eine
effektive Übermacht nicht durch eine ebenso irritierende wie sterile Opposition
gefährlich gegen sich einzunehmen, war sie -- mit anderen Worten -- keineswegs
eine Verurteilung der polnischen Gedanken und Hoffnungen auf nationalpolitische
Wiederauferstehung, so war sie doch eine bedeutsame Scheidung zwischen polnisch¬
kirchlich und polnisch-politisch, die ins Gewicht fiel und die man namentlich in
Petersburg mit gutem Grunde Rom hoch anrechnete. Und Rom hatte mit dieser
Scheidung auch weit über die augenblicklichen diplomatischen Interessen hinaus
ein vorzügliches Geschäft gemacht. Es hatte die Bewegungsfreiheit erlangt, um
bei Minderung der Angriffe gegen die katholische Kirche deren Besitzstand zu
festigen und auszudehnen und um in den ihr 1875 genommenen Unierten die
Anhänglichkeit an Rom nicht ersterben zu lassen, die nach Erlaß des Toleranz-
ukases sich in der Tat durch zahllose RückÜbertritte aus der Orthodoxie zum
Katholizismus glänzend offenbarte und es dahin kommen ließ, daß heute u. a.
die religiöse und politische Lage in Chelm für die russische Negierung wieder
ein offenes und ernstes Problem darstellt. (Die Beziehungen zwischen Polen
und Rom vor 1870 siud in Heft 44 dargestellt. Die Schriftltg.)




f>vier und Rom nach ^8?c>

Kardinal Vincenzo Vannutelli, zirr Krönung Alexanders des Dritten nach Moskau
ging, wußte er sich die Erlaubnis zu verschaffen, auf der Rückreise Warschau
und andere Städte Polens zu besuchen. Bei dieser Gelegenheit wurde dann
deu Polen die Allgegenwart und väterliche Fürsorge Roos wieder zum Be¬
wußtsein gebracht. Des diplomatischen Verständnisses ermangelnd, kamen aber
noch im selben Jahre russische Ruthencn nach Rom, um dem Papste
in einer Adresse höchste Verehrung, zugleich aber lebhafte Klagen gegen den
Zaren und die russische Regierung auszusprechen. Leo der Dreizehnte glaubte,
daß die Adresse geheim bleiben werde, und nahm sie entgegen, natürlich ohne
jeden durch die diplomatischen Regeln gebotenen Protest. Das Journal de Rome
veröffentlichte jedoch die Adresse, und ein Protest der russischen Regierung ließ
nicht auf sich warten. Es folgte eine starke Abkühlung der russisch-vatikanischen
Beziehungen, die ein Jahrzehnt, bis zu der päpstlichen Enzyklika von 1894 an
die „polnische Nation", anhielt. Diese Enzyklika empfahl den preußischen,
österreichischen und vorzugsweise den russischen Polen die Achtung der stabilierten
Autorität und den aufrichtigen Gehorsam gegen die weltlichen Mächte und stellte
hierfür eine fortschreitende Besserung ihrer religiösen Verhältnisse in Aussicht.
War diese Enzyklika im Grunde nichts weiter als der Rat an die Polen, eine
effektive Übermacht nicht durch eine ebenso irritierende wie sterile Opposition
gefährlich gegen sich einzunehmen, war sie — mit anderen Worten — keineswegs
eine Verurteilung der polnischen Gedanken und Hoffnungen auf nationalpolitische
Wiederauferstehung, so war sie doch eine bedeutsame Scheidung zwischen polnisch¬
kirchlich und polnisch-politisch, die ins Gewicht fiel und die man namentlich in
Petersburg mit gutem Grunde Rom hoch anrechnete. Und Rom hatte mit dieser
Scheidung auch weit über die augenblicklichen diplomatischen Interessen hinaus
ein vorzügliches Geschäft gemacht. Es hatte die Bewegungsfreiheit erlangt, um
bei Minderung der Angriffe gegen die katholische Kirche deren Besitzstand zu
festigen und auszudehnen und um in den ihr 1875 genommenen Unierten die
Anhänglichkeit an Rom nicht ersterben zu lassen, die nach Erlaß des Toleranz-
ukases sich in der Tat durch zahllose RückÜbertritte aus der Orthodoxie zum
Katholizismus glänzend offenbarte und es dahin kommen ließ, daß heute u. a.
die religiöse und politische Lage in Chelm für die russische Negierung wieder
ein offenes und ernstes Problem darstellt. (Die Beziehungen zwischen Polen
und Rom vor 1870 siud in Heft 44 dargestellt. Die Schriftltg.)




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[0386] f>vier und Rom nach ^8?c> Kardinal Vincenzo Vannutelli, zirr Krönung Alexanders des Dritten nach Moskau ging, wußte er sich die Erlaubnis zu verschaffen, auf der Rückreise Warschau und andere Städte Polens zu besuchen. Bei dieser Gelegenheit wurde dann deu Polen die Allgegenwart und väterliche Fürsorge Roos wieder zum Be¬ wußtsein gebracht. Des diplomatischen Verständnisses ermangelnd, kamen aber noch im selben Jahre russische Ruthencn nach Rom, um dem Papste in einer Adresse höchste Verehrung, zugleich aber lebhafte Klagen gegen den Zaren und die russische Regierung auszusprechen. Leo der Dreizehnte glaubte, daß die Adresse geheim bleiben werde, und nahm sie entgegen, natürlich ohne jeden durch die diplomatischen Regeln gebotenen Protest. Das Journal de Rome veröffentlichte jedoch die Adresse, und ein Protest der russischen Regierung ließ nicht auf sich warten. Es folgte eine starke Abkühlung der russisch-vatikanischen Beziehungen, die ein Jahrzehnt, bis zu der päpstlichen Enzyklika von 1894 an die „polnische Nation", anhielt. Diese Enzyklika empfahl den preußischen, österreichischen und vorzugsweise den russischen Polen die Achtung der stabilierten Autorität und den aufrichtigen Gehorsam gegen die weltlichen Mächte und stellte hierfür eine fortschreitende Besserung ihrer religiösen Verhältnisse in Aussicht. War diese Enzyklika im Grunde nichts weiter als der Rat an die Polen, eine effektive Übermacht nicht durch eine ebenso irritierende wie sterile Opposition gefährlich gegen sich einzunehmen, war sie — mit anderen Worten — keineswegs eine Verurteilung der polnischen Gedanken und Hoffnungen auf nationalpolitische Wiederauferstehung, so war sie doch eine bedeutsame Scheidung zwischen polnisch¬ kirchlich und polnisch-politisch, die ins Gewicht fiel und die man namentlich in Petersburg mit gutem Grunde Rom hoch anrechnete. Und Rom hatte mit dieser Scheidung auch weit über die augenblicklichen diplomatischen Interessen hinaus ein vorzügliches Geschäft gemacht. Es hatte die Bewegungsfreiheit erlangt, um bei Minderung der Angriffe gegen die katholische Kirche deren Besitzstand zu festigen und auszudehnen und um in den ihr 1875 genommenen Unierten die Anhänglichkeit an Rom nicht ersterben zu lassen, die nach Erlaß des Toleranz- ukases sich in der Tat durch zahllose RückÜbertritte aus der Orthodoxie zum Katholizismus glänzend offenbarte und es dahin kommen ließ, daß heute u. a. die religiöse und politische Lage in Chelm für die russische Negierung wieder ein offenes und ernstes Problem darstellt. (Die Beziehungen zwischen Polen und Rom vor 1870 siud in Heft 44 dargestellt. Die Schriftltg.)

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/386>, abgerufen am 26.08.2024.