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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Polen und Rom nach i>870

gang der Griechisch-unierten zur russischen Orthodoxie in Massen vollzogen werden
konnte. Im Bezirk siebten gingen 50 000 Personen, d. h. 45 Parochien mit
26 Geistlichen^ die im Rufe besonderer Treue zu Rom gestanden hatten, über,
im Bezirk Chelm 128 Parochien und Priester, im Bezirk Labiin eine ähnlich
große Menge, und dies in voller Form. Die Übertretenden erklärten^ ihren
Entschluß schriftlich, und die Parochialgeistlichen unterbreiteten für sich und ihre
Herden Gesuche, wieder zurückkehren zu dürfen in den Schoß der orthodoxen
Kirche, Gesuche, die durch eine Deputation unter Führung des braven Popiel
vom Zaren entgegengenommen wurden. Und an dem Tage der Audienz dieser
Deputation beim Zaren, der die "Rückkehrenden" mit offenen Armen in den
Schoß seiner Kirche aufzunehmen erklärte, wurden vom russisch-orthodoxen Erz-
bischof von Warschau "auf ihren Wunsch" noch 42 Parochien mit 80 Geistlichen
in denselben Schoß aufgenommen. Die kirchliche Vereinigung Chelms mit Ru߬
land war erreicht, die griechisch-unierteKirche von Chelm hatte aufgehört zu bestehen.

Es ist gewiß nicht verwunderlich, daß Rom angesichts dieses Verhaltens
und in Voraussicht eines ähnlichen Vorgehens auch gegen den lateinischen Ritus,
gegen die eigentliche römisch-katholische .Kirche in Rußland sich nach wirksamen
Waffen umsah. Der Vatikan hintertrieb zunächst das Gelingen einer Versöhnungs¬
und Verbrüderungsbewegung zwischen Russen und Polen, welche im Namen der
slawischen Idee betrieben wurde und deren Zweck es war, die Polen zur Auf¬
gabe ihrer politischen Unabhängigkeitsbestrebungen zu bestimmen gegen das Ver¬
sprechen, daß der "Eintritt der Polen in die slawische Gemeinschaft" den Verzicht
der Russen auf ihre Russifizierungsversuche Polens mit sich bringe. Der Vatikan
nahm sodann entschiedene Stellung in der großen diplomatischen und kriegerischen
Komplikation, die ihr vorläufiges Schlußstück in der Berliner Konferenz von
1878 hatte.

1876 war die Lage in groben Zügen die, daß Rußland mit mehr oder minder
passiver und bedingter Unterstützung Deutschlands und Österreichs sich gegen die
Türkei wandte, während England sich bemühte, Rußland dabei zu keinem kapitalen
Erfolge gelangen zu lassen. Rom war also der natürliche Verbündete Englands, und
Rom und England arbeiteten in der Tat planmäßig zusammen. Für Rom gab es
da zuvörderst allerdings ein heikles Vorurteil in der öffentlichen Meinung zu
überwinden. Rußlands erklärter Grund zum Kampfe gegen die Türkei war nämlich
der, der Unterdrückung der balkanischen Christen durch den Sultan ein Ende zu
machen und dem Kreuze gegen den Halbmond zum Siege zu verhelfen. Daß nun
just der "Vikar Christi" sich einem solchen Unternehmen, einem wahren Kreuzzuge,
widersetze, mußte befremden. Offen auszusprechen, daß das Vordringen Ru߬
lands in der europäischen Türkei und sein Festsetzen in Konstantinopel-Bnzanz
eine äußere und moralische Machtvergrößerung der russisch-orthodoxen Kirche
darstellen würde, die Rom gefährlich werden und den alten Kampf des
Orientalischen gegen das Lateinische neu beleben müßte, ging für den Papst nicht
gut an. Er begnügte sich mit einer offiziösen Auslassung voller Hohn über Ruß-


Polen und Rom nach i>870

gang der Griechisch-unierten zur russischen Orthodoxie in Massen vollzogen werden
konnte. Im Bezirk siebten gingen 50 000 Personen, d. h. 45 Parochien mit
26 Geistlichen^ die im Rufe besonderer Treue zu Rom gestanden hatten, über,
im Bezirk Chelm 128 Parochien und Priester, im Bezirk Labiin eine ähnlich
große Menge, und dies in voller Form. Die Übertretenden erklärten^ ihren
Entschluß schriftlich, und die Parochialgeistlichen unterbreiteten für sich und ihre
Herden Gesuche, wieder zurückkehren zu dürfen in den Schoß der orthodoxen
Kirche, Gesuche, die durch eine Deputation unter Führung des braven Popiel
vom Zaren entgegengenommen wurden. Und an dem Tage der Audienz dieser
Deputation beim Zaren, der die „Rückkehrenden" mit offenen Armen in den
Schoß seiner Kirche aufzunehmen erklärte, wurden vom russisch-orthodoxen Erz-
bischof von Warschau „auf ihren Wunsch" noch 42 Parochien mit 80 Geistlichen
in denselben Schoß aufgenommen. Die kirchliche Vereinigung Chelms mit Ru߬
land war erreicht, die griechisch-unierteKirche von Chelm hatte aufgehört zu bestehen.

Es ist gewiß nicht verwunderlich, daß Rom angesichts dieses Verhaltens
und in Voraussicht eines ähnlichen Vorgehens auch gegen den lateinischen Ritus,
gegen die eigentliche römisch-katholische .Kirche in Rußland sich nach wirksamen
Waffen umsah. Der Vatikan hintertrieb zunächst das Gelingen einer Versöhnungs¬
und Verbrüderungsbewegung zwischen Russen und Polen, welche im Namen der
slawischen Idee betrieben wurde und deren Zweck es war, die Polen zur Auf¬
gabe ihrer politischen Unabhängigkeitsbestrebungen zu bestimmen gegen das Ver¬
sprechen, daß der „Eintritt der Polen in die slawische Gemeinschaft" den Verzicht
der Russen auf ihre Russifizierungsversuche Polens mit sich bringe. Der Vatikan
nahm sodann entschiedene Stellung in der großen diplomatischen und kriegerischen
Komplikation, die ihr vorläufiges Schlußstück in der Berliner Konferenz von
1878 hatte.

1876 war die Lage in groben Zügen die, daß Rußland mit mehr oder minder
passiver und bedingter Unterstützung Deutschlands und Österreichs sich gegen die
Türkei wandte, während England sich bemühte, Rußland dabei zu keinem kapitalen
Erfolge gelangen zu lassen. Rom war also der natürliche Verbündete Englands, und
Rom und England arbeiteten in der Tat planmäßig zusammen. Für Rom gab es
da zuvörderst allerdings ein heikles Vorurteil in der öffentlichen Meinung zu
überwinden. Rußlands erklärter Grund zum Kampfe gegen die Türkei war nämlich
der, der Unterdrückung der balkanischen Christen durch den Sultan ein Ende zu
machen und dem Kreuze gegen den Halbmond zum Siege zu verhelfen. Daß nun
just der „Vikar Christi" sich einem solchen Unternehmen, einem wahren Kreuzzuge,
widersetze, mußte befremden. Offen auszusprechen, daß das Vordringen Ru߬
lands in der europäischen Türkei und sein Festsetzen in Konstantinopel-Bnzanz
eine äußere und moralische Machtvergrößerung der russisch-orthodoxen Kirche
darstellen würde, die Rom gefährlich werden und den alten Kampf des
Orientalischen gegen das Lateinische neu beleben müßte, ging für den Papst nicht
gut an. Er begnügte sich mit einer offiziösen Auslassung voller Hohn über Ruß-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/382>, abgerufen am 15.01.2025.