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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Das Erlebnis

"Nein, nein, das ist es nicht," sagte er hastig. "Ich denke nur an das Kind.
Wenn die alte Familienmisere wiederkäme! Du weißt doch: unsere beiden vneles
waren taubstumm."

"Schwester Felicitas und ich haben auch schon daran gedacht," gestand die
Gubernatorin kleinlaut. "Aber muß es denn wiederkommen? Du bist gesund, und
die Merge ist gesünder als alle, die je in unsre Familie hineingeheiratet haben.
Und die Schwester und ich sind doch auch nicht taubstumm."

Der alte Herr mußte trotz der Sorge, die ihn bedrückte, lachen.

"Weiß Gott, das stimmt!" sagte er. "Ihr beide seit alles andre als taub¬
stumm. Uns drei hat es verschont, aber das Geschlecht, das nach uns kommt, ist
wieder an der Reihe."

"Wir können nichts tun als hoffen und beten," bemerkte die Schwester leise.
Dann aber drängte sie den Bruder energisch von seinem Platze weg, riß das
Fenster auf und rief:

"Liebe Merge, wenn du deinem Mann eine recht große complaisance
erweisen willst, dann sei raisonnable und iß keine Stachelbeeren mehr!"

(Fortsetzung folgt)




Das Erlebnis
Litt Vorschlag zur Kunsterziehung
Dr. Robort Lorw egh- von

!le ein Blitz in plötzlichem Aufleuchten eine Gegend, die im
Dunkel lag, erhellt und entschleiert, so kann ein Wort ein ganzes
Gebiet unseres Erkennens aufklären. Ein menschliches Erlebnis,
sagte einer der besten Dozenten für Kunstgeschichte, sührt uns oft
tiefer in alles Kunsterkennen als jahrelanges Bemühen und
Forschen. Dieses Wort, das mich sogleich tief ergriff, belegte er durch das
Beispiel, daß vielen die Schönheit eines Platzes, wie des vor S. Annunziata in
Florenz, nicht eher klar aufgeht, bis irgend ein Erleben sie aus dem Gleis all¬
täglichen Fühlens wirft. Dann scheinen wie durch ein Wunder die Augen auf¬
getan, und mit dem Gefühl der Lust über das Schöne verbindet sich die Einsicht
in die Anregung zu dieser Empfindung, die in den Verhältnissen der Gebäude,
in der Geschlossenheit des Platzbildes ihren Ursprung hat. Seitdem habe ich
erkannt, daß die Vorbedingung, die Voraussetzung jeden Kunstempfindens das
Erlebnis sei. Um so mehr mußte ich mich als Kunstfreund darüber ereifern, als
man in der Erkenntnis, daß die Kunst bei der Ausbildung der Jugend nicht ver¬
nachlässigt werden dürfe, um dies Versäumnis mehrerer Jahrhunderte wettzu¬
machen, den Unterricht der Kunstgeschichte in unsere Schulen einführte. Nur
wenige leitet eine Wissenschaft (das ist Kunstgeschichte) zur Kunst selbst, die ein
eigenes Gebiet unserer Auseinandersetzung mit dem Unendlichen bedeutet. Und
außerdem ist Kunstgeschichte, wie sie zumeist getrieben wird, eine Geschichte des
Lebensganges des Künstlers und der Stile, die einer willkürlichen Trennung der


Das Erlebnis

„Nein, nein, das ist es nicht," sagte er hastig. „Ich denke nur an das Kind.
Wenn die alte Familienmisere wiederkäme! Du weißt doch: unsere beiden vneles
waren taubstumm."

„Schwester Felicitas und ich haben auch schon daran gedacht," gestand die
Gubernatorin kleinlaut. „Aber muß es denn wiederkommen? Du bist gesund, und
die Merge ist gesünder als alle, die je in unsre Familie hineingeheiratet haben.
Und die Schwester und ich sind doch auch nicht taubstumm."

Der alte Herr mußte trotz der Sorge, die ihn bedrückte, lachen.

„Weiß Gott, das stimmt!" sagte er. „Ihr beide seit alles andre als taub¬
stumm. Uns drei hat es verschont, aber das Geschlecht, das nach uns kommt, ist
wieder an der Reihe."

„Wir können nichts tun als hoffen und beten," bemerkte die Schwester leise.
Dann aber drängte sie den Bruder energisch von seinem Platze weg, riß das
Fenster auf und rief:

„Liebe Merge, wenn du deinem Mann eine recht große complaisance
erweisen willst, dann sei raisonnable und iß keine Stachelbeeren mehr!"

(Fortsetzung folgt)




Das Erlebnis
Litt Vorschlag zur Kunsterziehung
Dr. Robort Lorw egh- von

!le ein Blitz in plötzlichem Aufleuchten eine Gegend, die im
Dunkel lag, erhellt und entschleiert, so kann ein Wort ein ganzes
Gebiet unseres Erkennens aufklären. Ein menschliches Erlebnis,
sagte einer der besten Dozenten für Kunstgeschichte, sührt uns oft
tiefer in alles Kunsterkennen als jahrelanges Bemühen und
Forschen. Dieses Wort, das mich sogleich tief ergriff, belegte er durch das
Beispiel, daß vielen die Schönheit eines Platzes, wie des vor S. Annunziata in
Florenz, nicht eher klar aufgeht, bis irgend ein Erleben sie aus dem Gleis all¬
täglichen Fühlens wirft. Dann scheinen wie durch ein Wunder die Augen auf¬
getan, und mit dem Gefühl der Lust über das Schöne verbindet sich die Einsicht
in die Anregung zu dieser Empfindung, die in den Verhältnissen der Gebäude,
in der Geschlossenheit des Platzbildes ihren Ursprung hat. Seitdem habe ich
erkannt, daß die Vorbedingung, die Voraussetzung jeden Kunstempfindens das
Erlebnis sei. Um so mehr mußte ich mich als Kunstfreund darüber ereifern, als
man in der Erkenntnis, daß die Kunst bei der Ausbildung der Jugend nicht ver¬
nachlässigt werden dürfe, um dies Versäumnis mehrerer Jahrhunderte wettzu¬
machen, den Unterricht der Kunstgeschichte in unsere Schulen einführte. Nur
wenige leitet eine Wissenschaft (das ist Kunstgeschichte) zur Kunst selbst, die ein
eigenes Gebiet unserer Auseinandersetzung mit dem Unendlichen bedeutet. Und
außerdem ist Kunstgeschichte, wie sie zumeist getrieben wird, eine Geschichte des
Lebensganges des Künstlers und der Stile, die einer willkürlichen Trennung der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/350>, abgerufen am 23.07.2024.