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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Das Glück des Hauses Rottland

Er faßte ihre Hände, machte aber keine Miene, sie freizugeben.

"Nun ist's genug, laßt mich gedul" bat sie mit gepreßter Stimme.

"Nein, soweit sind wir noch nicht," flüsterte er, "Sie haben den ersten
Schlag getan, daraus folget, daß Sie das Gewelle zahlen müssen."

"Was soll ich Euch geben?" fragte sie betroffen.

"Einen Kuß."

Sie lachte laut auf.

"Ihr seid von Sinnen, Herr! Wie käm' ich dazu, Euch einen Kuß zu geben?"

Sie versuchte, sich an ihm vorbeizudrängen, er hielt sie jedoch mit eisernem
Griffe fest.

"Hat man je so etwas erlebt!" rief er mit komischer Entrüstung, "eine
tante, die ihren neveu nicht küssen Willi"

Sie mußte Wider Willen lachen.

"Ja, wenn Ihr ein artig Büblein wäret, dann tat' ich's," erwiderte sie.
"So aber seid Ihr mir schon zu groß dazu."

Er ließ ihre Hände los, bückte sich, hob sie empor und stellte sie auf eine Kiste.

"Sehen Sie, maäame," rief er triumphierend, "jetzt haben Sie, was Sie
wollen: der neveu reicht Ihnen gerade bis an den Gürtel!"

"Um Gotteswillen, nicht so laut!" stammelte sie, "die Alten haben noch
scharfe Ohren."

Jetzt wußte er, daß er gewonnenes Spiel hatte.

"Bekomme ich nun bald meinen Kuß?" fragte er herrisch.

Sie schaute ihn prüfend an. Und da sie die Entdeckung machte, daß sein
Antlitz wirklich das eines großen wilden Jungen war, strich sie ihm das Haar
zurück und berührte mit ihren Lippen ganz leicht seine Stirn. Da glitten seine
Hände an ihr empor, legten sich wuchtig auf ihre Schultern und drückten sie
nieder, daß ihr die Knie einknickten. Sie gab sich Mühe, ihm Widerstand zu
leisten, aber es war umsonst: sie fühlte plötzlich, daß sie doch nur ein schwaches
Weib sei, demi das Schicksal bestimmt hat, schweigend zu dulden. Und so duldete
sie denn, daß er seinen Mund zu einem langen Kusse auf den ihren preßte.

Endlich gelang es ihr, sich aus seinen Armen loszumachen. Sie sprang von
der Kiste herab und eilte nach der Treppe hin. Dort blieb sie stehen und sah
sich nach ihm um.

Er nahm gelassen, als sei nichts geschehen, die Laute von dem Balken,
stäubte sie ab und begann, während er an Mergens Seite die Treppe hinunter-
ging, die Wirbel anzudrehen.

Das Antlitz der jungen Frau glühte, als sie mit Mathias wieder in das
Wohngemach trat. Es war ihr peinlich, daß die Augen der Schwägerinnen mit
einem so seltsamen Ausdruck auf ihr ruhten,

"Du siehst ja entsetzlich echauffiert aus, ma euere," wandte sich die Guber-
natorin an die junge Frau, die vor Verlegenheit beinahe umkam.

"Sie hätten aber auch scheu müssen, wie maä-uns ma tante gearbeitet hat,"
antwortete statt ihrer der Neffe, "Kisten und Kasten haben wir ausgeräumt, und
wo glauben Sie, daß wir das Ding schließlich gefunden haben? Es hing zu


Das Glück des Hauses Rottland

Er faßte ihre Hände, machte aber keine Miene, sie freizugeben.

„Nun ist's genug, laßt mich gedul" bat sie mit gepreßter Stimme.

„Nein, soweit sind wir noch nicht," flüsterte er, „Sie haben den ersten
Schlag getan, daraus folget, daß Sie das Gewelle zahlen müssen."

„Was soll ich Euch geben?" fragte sie betroffen.

„Einen Kuß."

Sie lachte laut auf.

„Ihr seid von Sinnen, Herr! Wie käm' ich dazu, Euch einen Kuß zu geben?"

Sie versuchte, sich an ihm vorbeizudrängen, er hielt sie jedoch mit eisernem
Griffe fest.

„Hat man je so etwas erlebt!" rief er mit komischer Entrüstung, „eine
tante, die ihren neveu nicht küssen Willi"

Sie mußte Wider Willen lachen.

„Ja, wenn Ihr ein artig Büblein wäret, dann tat' ich's," erwiderte sie.
„So aber seid Ihr mir schon zu groß dazu."

Er ließ ihre Hände los, bückte sich, hob sie empor und stellte sie auf eine Kiste.

„Sehen Sie, maäame," rief er triumphierend, „jetzt haben Sie, was Sie
wollen: der neveu reicht Ihnen gerade bis an den Gürtel!"

„Um Gotteswillen, nicht so laut!" stammelte sie, „die Alten haben noch
scharfe Ohren."

Jetzt wußte er, daß er gewonnenes Spiel hatte.

„Bekomme ich nun bald meinen Kuß?" fragte er herrisch.

Sie schaute ihn prüfend an. Und da sie die Entdeckung machte, daß sein
Antlitz wirklich das eines großen wilden Jungen war, strich sie ihm das Haar
zurück und berührte mit ihren Lippen ganz leicht seine Stirn. Da glitten seine
Hände an ihr empor, legten sich wuchtig auf ihre Schultern und drückten sie
nieder, daß ihr die Knie einknickten. Sie gab sich Mühe, ihm Widerstand zu
leisten, aber es war umsonst: sie fühlte plötzlich, daß sie doch nur ein schwaches
Weib sei, demi das Schicksal bestimmt hat, schweigend zu dulden. Und so duldete
sie denn, daß er seinen Mund zu einem langen Kusse auf den ihren preßte.

Endlich gelang es ihr, sich aus seinen Armen loszumachen. Sie sprang von
der Kiste herab und eilte nach der Treppe hin. Dort blieb sie stehen und sah
sich nach ihm um.

Er nahm gelassen, als sei nichts geschehen, die Laute von dem Balken,
stäubte sie ab und begann, während er an Mergens Seite die Treppe hinunter-
ging, die Wirbel anzudrehen.

Das Antlitz der jungen Frau glühte, als sie mit Mathias wieder in das
Wohngemach trat. Es war ihr peinlich, daß die Augen der Schwägerinnen mit
einem so seltsamen Ausdruck auf ihr ruhten,

„Du siehst ja entsetzlich echauffiert aus, ma euere," wandte sich die Guber-
natorin an die junge Frau, die vor Verlegenheit beinahe umkam.

„Sie hätten aber auch scheu müssen, wie maä-uns ma tante gearbeitet hat,"
antwortete statt ihrer der Neffe, „Kisten und Kasten haben wir ausgeräumt, und
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[0347] Das Glück des Hauses Rottland Er faßte ihre Hände, machte aber keine Miene, sie freizugeben. „Nun ist's genug, laßt mich gedul" bat sie mit gepreßter Stimme. „Nein, soweit sind wir noch nicht," flüsterte er, „Sie haben den ersten Schlag getan, daraus folget, daß Sie das Gewelle zahlen müssen." „Was soll ich Euch geben?" fragte sie betroffen. „Einen Kuß." Sie lachte laut auf. „Ihr seid von Sinnen, Herr! Wie käm' ich dazu, Euch einen Kuß zu geben?" Sie versuchte, sich an ihm vorbeizudrängen, er hielt sie jedoch mit eisernem Griffe fest. „Hat man je so etwas erlebt!" rief er mit komischer Entrüstung, „eine tante, die ihren neveu nicht küssen Willi" Sie mußte Wider Willen lachen. „Ja, wenn Ihr ein artig Büblein wäret, dann tat' ich's," erwiderte sie. „So aber seid Ihr mir schon zu groß dazu." Er ließ ihre Hände los, bückte sich, hob sie empor und stellte sie auf eine Kiste. „Sehen Sie, maäame," rief er triumphierend, „jetzt haben Sie, was Sie wollen: der neveu reicht Ihnen gerade bis an den Gürtel!" „Um Gotteswillen, nicht so laut!" stammelte sie, „die Alten haben noch scharfe Ohren." Jetzt wußte er, daß er gewonnenes Spiel hatte. „Bekomme ich nun bald meinen Kuß?" fragte er herrisch. Sie schaute ihn prüfend an. Und da sie die Entdeckung machte, daß sein Antlitz wirklich das eines großen wilden Jungen war, strich sie ihm das Haar zurück und berührte mit ihren Lippen ganz leicht seine Stirn. Da glitten seine Hände an ihr empor, legten sich wuchtig auf ihre Schultern und drückten sie nieder, daß ihr die Knie einknickten. Sie gab sich Mühe, ihm Widerstand zu leisten, aber es war umsonst: sie fühlte plötzlich, daß sie doch nur ein schwaches Weib sei, demi das Schicksal bestimmt hat, schweigend zu dulden. Und so duldete sie denn, daß er seinen Mund zu einem langen Kusse auf den ihren preßte. Endlich gelang es ihr, sich aus seinen Armen loszumachen. Sie sprang von der Kiste herab und eilte nach der Treppe hin. Dort blieb sie stehen und sah sich nach ihm um. Er nahm gelassen, als sei nichts geschehen, die Laute von dem Balken, stäubte sie ab und begann, während er an Mergens Seite die Treppe hinunter- ging, die Wirbel anzudrehen. Das Antlitz der jungen Frau glühte, als sie mit Mathias wieder in das Wohngemach trat. Es war ihr peinlich, daß die Augen der Schwägerinnen mit einem so seltsamen Ausdruck auf ihr ruhten, „Du siehst ja entsetzlich echauffiert aus, ma euere," wandte sich die Guber- natorin an die junge Frau, die vor Verlegenheit beinahe umkam. „Sie hätten aber auch scheu müssen, wie maä-uns ma tante gearbeitet hat," antwortete statt ihrer der Neffe, „Kisten und Kasten haben wir ausgeräumt, und wo glauben Sie, daß wir das Ding schließlich gefunden haben? Es hing zu

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/347>, abgerufen am 23.07.2024.