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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Briefe aus China

Gestern sind wir von einem sehr interessanten und genußreichen sieben¬
tägigen Ritt durch das Gebirge zurückgekehrt. Wir hatten den Ausflug mit
Herrn und Frau v. P. zusammen unternommen. Da man alles, Proviant,
Betten usw. mitnehmen muß, bestand unsere stattliche Karawane aus zehn Maul¬
tieren und sechzehn Menschen. Unterwegs schlugen wir unser Nachtquartier
zumeist in Tempeln auf; einmal logierten wir in einen: katholischen Dorfe
(Sang-pu) in dem recht sauberen und nett eingerichteten Hause eines wohl¬
habenden chinesischen Bauern. Ich wollte meinen Augen nicht trauen, als ich
dort Leonardo da Vincis Abendmahl an der Wand hängen sah -- Leonardo
da Vinci in einem weltentlegenen kleinen chinesischen Gebirgsdorfe!

Das Ziel unserer Reise war der Po-doa-öden (Hundertblumenberg), ein
etwa 7000 Fuß hoher Berg, auf dem sich ein elender, ganz verfallener Wall¬
fahrtstempel befindet. Die Aussicht von dort war großartig: in weiter Ferne
sahen wir die Konturen der großen Mauer auf einem hohen Gebirgskamm;
doch hoffen wir, dieses grandiose Werk demnächst in nächster Nähe bewundern
zu können, da wir einen Ausflug an die in der Nähe der Mauer gelegenen
Grabmäler der Ming-Kaiser planen. Ich schrieb eben an Weinande, daß man
sich wohl hier in China an alles übrige leichter gewöhnen könne, als an das
fortwährende Angeglotztwerden. Sobald wir irgendwo Rast machten, sahen wir
uns von einer unabsehbaren Menschenmenge dicht umdrängt, die uns oft stunden¬
lang anstierte, ohne ein Wort zu reden. Ich kann den Duft, den diese Leute
ausströmen, nur als 5Ieur ac mitis eninois bezeichnen, es ist ein geradezu
sinnbetäubendes Gemisch von Schweiß, Knoblauch und Fäkalien. Suche Dir
nach diesem Rezept eine Vorstellung davon zu bilden -- oder tu es lieber
nicht! Die Leute gingen nicht eher auseinander, als bis wir uns zur Ruhe
zurückgezogen -- und selbst dann noch lugten zahllose schwarze Augen durch die
Löcher im Fensterpapier (falls solche zufällig nicht vorhanden, werden sie durch
Durchstechen mit dem Finger hergestellt), um sich kein Detail unserer Toilette
entgehen zu lassen. Doch konnten wir uns nirgends über Unfreundlichkeit oder
gar Animosität beklagen.

Unser Weg führte uns zumeist durch Kohlenreviere, die einen recht wohl¬
habenden und kultivierten Eindruck machten. Ich mußte oft die Kunststraßen
bewundern, die mit unendlichen Schwierigkeiten angelegt sind. Es ist überhaupt
viel leichter, alles in China schlecht zu finden als so manches Gute, das die
fleißigen und beharrlichen Chinesen trotz der verrotteten Beamtenwirtschaft zuwege
gebracht haben, anzuerkennen. In dem Volke steckt unleugbar ein guter Kern,
viel Intelligenz und physische Kraft, und wenn erst ein Eisenbahnnetz das
gewaltige Reich umspannt (der Anfang dazu ist ja jetzt endlich gemacht), wird
eine Umwälzung auf allen Gebieten unausbleiblich fein.

Die chinesischen Dörfer machen meist einen recht netten Eindruck, die soliden
stattlichen Steinhäuser nehmen sich bisweilen wie kleine Burgen aus, und geradezu
bewundernswert ist es, wie der chinesische Bauer den Boden auszunutzen weiß.


Briefe aus China

Gestern sind wir von einem sehr interessanten und genußreichen sieben¬
tägigen Ritt durch das Gebirge zurückgekehrt. Wir hatten den Ausflug mit
Herrn und Frau v. P. zusammen unternommen. Da man alles, Proviant,
Betten usw. mitnehmen muß, bestand unsere stattliche Karawane aus zehn Maul¬
tieren und sechzehn Menschen. Unterwegs schlugen wir unser Nachtquartier
zumeist in Tempeln auf; einmal logierten wir in einen: katholischen Dorfe
(Sang-pu) in dem recht sauberen und nett eingerichteten Hause eines wohl¬
habenden chinesischen Bauern. Ich wollte meinen Augen nicht trauen, als ich
dort Leonardo da Vincis Abendmahl an der Wand hängen sah — Leonardo
da Vinci in einem weltentlegenen kleinen chinesischen Gebirgsdorfe!

Das Ziel unserer Reise war der Po-doa-öden (Hundertblumenberg), ein
etwa 7000 Fuß hoher Berg, auf dem sich ein elender, ganz verfallener Wall¬
fahrtstempel befindet. Die Aussicht von dort war großartig: in weiter Ferne
sahen wir die Konturen der großen Mauer auf einem hohen Gebirgskamm;
doch hoffen wir, dieses grandiose Werk demnächst in nächster Nähe bewundern
zu können, da wir einen Ausflug an die in der Nähe der Mauer gelegenen
Grabmäler der Ming-Kaiser planen. Ich schrieb eben an Weinande, daß man
sich wohl hier in China an alles übrige leichter gewöhnen könne, als an das
fortwährende Angeglotztwerden. Sobald wir irgendwo Rast machten, sahen wir
uns von einer unabsehbaren Menschenmenge dicht umdrängt, die uns oft stunden¬
lang anstierte, ohne ein Wort zu reden. Ich kann den Duft, den diese Leute
ausströmen, nur als 5Ieur ac mitis eninois bezeichnen, es ist ein geradezu
sinnbetäubendes Gemisch von Schweiß, Knoblauch und Fäkalien. Suche Dir
nach diesem Rezept eine Vorstellung davon zu bilden — oder tu es lieber
nicht! Die Leute gingen nicht eher auseinander, als bis wir uns zur Ruhe
zurückgezogen — und selbst dann noch lugten zahllose schwarze Augen durch die
Löcher im Fensterpapier (falls solche zufällig nicht vorhanden, werden sie durch
Durchstechen mit dem Finger hergestellt), um sich kein Detail unserer Toilette
entgehen zu lassen. Doch konnten wir uns nirgends über Unfreundlichkeit oder
gar Animosität beklagen.

Unser Weg führte uns zumeist durch Kohlenreviere, die einen recht wohl¬
habenden und kultivierten Eindruck machten. Ich mußte oft die Kunststraßen
bewundern, die mit unendlichen Schwierigkeiten angelegt sind. Es ist überhaupt
viel leichter, alles in China schlecht zu finden als so manches Gute, das die
fleißigen und beharrlichen Chinesen trotz der verrotteten Beamtenwirtschaft zuwege
gebracht haben, anzuerkennen. In dem Volke steckt unleugbar ein guter Kern,
viel Intelligenz und physische Kraft, und wenn erst ein Eisenbahnnetz das
gewaltige Reich umspannt (der Anfang dazu ist ja jetzt endlich gemacht), wird
eine Umwälzung auf allen Gebieten unausbleiblich fein.

Die chinesischen Dörfer machen meist einen recht netten Eindruck, die soliden
stattlichen Steinhäuser nehmen sich bisweilen wie kleine Burgen aus, und geradezu
bewundernswert ist es, wie der chinesische Bauer den Boden auszunutzen weiß.


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[0281] Briefe aus China Gestern sind wir von einem sehr interessanten und genußreichen sieben¬ tägigen Ritt durch das Gebirge zurückgekehrt. Wir hatten den Ausflug mit Herrn und Frau v. P. zusammen unternommen. Da man alles, Proviant, Betten usw. mitnehmen muß, bestand unsere stattliche Karawane aus zehn Maul¬ tieren und sechzehn Menschen. Unterwegs schlugen wir unser Nachtquartier zumeist in Tempeln auf; einmal logierten wir in einen: katholischen Dorfe (Sang-pu) in dem recht sauberen und nett eingerichteten Hause eines wohl¬ habenden chinesischen Bauern. Ich wollte meinen Augen nicht trauen, als ich dort Leonardo da Vincis Abendmahl an der Wand hängen sah — Leonardo da Vinci in einem weltentlegenen kleinen chinesischen Gebirgsdorfe! Das Ziel unserer Reise war der Po-doa-öden (Hundertblumenberg), ein etwa 7000 Fuß hoher Berg, auf dem sich ein elender, ganz verfallener Wall¬ fahrtstempel befindet. Die Aussicht von dort war großartig: in weiter Ferne sahen wir die Konturen der großen Mauer auf einem hohen Gebirgskamm; doch hoffen wir, dieses grandiose Werk demnächst in nächster Nähe bewundern zu können, da wir einen Ausflug an die in der Nähe der Mauer gelegenen Grabmäler der Ming-Kaiser planen. Ich schrieb eben an Weinande, daß man sich wohl hier in China an alles übrige leichter gewöhnen könne, als an das fortwährende Angeglotztwerden. Sobald wir irgendwo Rast machten, sahen wir uns von einer unabsehbaren Menschenmenge dicht umdrängt, die uns oft stunden¬ lang anstierte, ohne ein Wort zu reden. Ich kann den Duft, den diese Leute ausströmen, nur als 5Ieur ac mitis eninois bezeichnen, es ist ein geradezu sinnbetäubendes Gemisch von Schweiß, Knoblauch und Fäkalien. Suche Dir nach diesem Rezept eine Vorstellung davon zu bilden — oder tu es lieber nicht! Die Leute gingen nicht eher auseinander, als bis wir uns zur Ruhe zurückgezogen — und selbst dann noch lugten zahllose schwarze Augen durch die Löcher im Fensterpapier (falls solche zufällig nicht vorhanden, werden sie durch Durchstechen mit dem Finger hergestellt), um sich kein Detail unserer Toilette entgehen zu lassen. Doch konnten wir uns nirgends über Unfreundlichkeit oder gar Animosität beklagen. Unser Weg führte uns zumeist durch Kohlenreviere, die einen recht wohl¬ habenden und kultivierten Eindruck machten. Ich mußte oft die Kunststraßen bewundern, die mit unendlichen Schwierigkeiten angelegt sind. Es ist überhaupt viel leichter, alles in China schlecht zu finden als so manches Gute, das die fleißigen und beharrlichen Chinesen trotz der verrotteten Beamtenwirtschaft zuwege gebracht haben, anzuerkennen. In dem Volke steckt unleugbar ein guter Kern, viel Intelligenz und physische Kraft, und wenn erst ein Eisenbahnnetz das gewaltige Reich umspannt (der Anfang dazu ist ja jetzt endlich gemacht), wird eine Umwälzung auf allen Gebieten unausbleiblich fein. Die chinesischen Dörfer machen meist einen recht netten Eindruck, die soliden stattlichen Steinhäuser nehmen sich bisweilen wie kleine Burgen aus, und geradezu bewundernswert ist es, wie der chinesische Bauer den Boden auszunutzen weiß.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/281>, abgerufen am 23.07.2024.