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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Die geistig Minderwertigen

Anschauung bedinge das Gehirn die Handlungen des Menschen wie ein unbeein¬
flußbarer mechanischer Apparat. Eine derartige Ansicht ist aber keineswegs die
notwendige Voraussetzung des Determinismus. Nach meiner Ansicht erzeugt
das Gehirn nicht etwa das Geistesleben und somit das Wollen. Es ist viel¬
mehr nur das Organ, in welchem sich die mannigfaltigen Beziehungskomplexe
zwischen den Weltbestandteilen, die die Beziehung zum Bewußtsein schon von
vornherein in sich tragen, ordnen. In dem Weltgeschehen folgt ein Ereignis
nach den: anderen mit absoluter Notwendigkeit aus der Gesamtheit aller Be¬
dingungen und somit ist auch jede Handlung des Menschen das Ergebnis seiner
Anlage und aller der Einflüsse, die von jeher auf ihn gewirkt haben und im
Augenblick der Handlung auf ihn wirken. Nach meiner Ansicht ist diese Auf¬
fassung weit davon entfernt, beunruhigend zu wirken. Nur die skizzierte deter¬
ministische Auffassung berechtigt uns, von der Erziehung gute Erfolge zu erhoffen,
und nur sie gewährt meines Erachtens dem Strafrecht eine sichere Grundlage,
indem sie die Strafen und Strafandrohungen unter die das Wollen des Menschen
bestimmenden Einflüsse einreiht. Für die Mehrzahl aller Menschen ist die Tat¬
sache der Strafbarkeit gewisser Handlungen ein Faktor, der im gegebenen Fall
das Wollen ausschlaggebend mitbestimmt.

Aus dieser Anschauung folgt, daß nicht der Ausschluß der freien Willens¬
bestimmung an sich den Täter straflos machen kann, denn jede Handlung ergibt
sich naturgemäß und notwendig aus Milieu und Anlage des Täters. Wenn
er bestraft wird, so geschieht es, weil die Strafe ihn und andere zu beeinflussen
geeignet ist. Nicht strafbar ist vom Standpunkt des Determinismus nur der,
für den die Wirkung von Strafandrohungen nicht in Betracht kommt, also z. B.
der ausgesprochen Geisteskranke.

Auch wer den vorstehenden Ausführungen nicht bedingungslos zustimmt,
wird zugeben müssen, daß es nützlich ist, dem deterministischen Standpunkt der
Psychiater Rechnung zu tragen, ohne deren Mitarbeit der Richter in zweifel¬
haften Fällen nicht imstande ist, über Strafbarkeit oder Nichtstrafbarkeit eines
Rechtsverletzers zu entscheiden. Wenn vollends die Möglichkeit gegeben ist, an
die Stelle des Ausschlusses der freien Willensbestimmung eine Definition des
straffrei machenden Zustandes zu setzen, die dem Standpunkt des Indeterminismus
in keiner Weise zu nahe tritt, dürfte auch der überzeugteste Jndeterminist keine
Veranlassung haben, die Beibehaltung des Ausdrucks "freie Willensbestimmung"
zu fordern, der zu so vielen unerquicklichen Mißverständnissen und Meinungs¬
verschiedenheiten in loro geführt hat und auch in Zukunft führen würde. Eine
dem Determinismus gerecht werdende und den Indeterminismus nicht angreifende
Begriffsbestimmung zurKennzeichnung der die Strafbarkeit ausschließenden Zustände
gibt der österreichische Gesetzentwurf, der mit einer von Aschaffenburg vor¬
geschlagenen Änderung folgendermaßen lauten würde: "Nicht strafbar ist, wer
zur Zeit der Tat wegen Geistesstörung, Geistesschwache oder Bewußtseinsstörung
nicht die Fähigkeit besaß, das Unrecht seiner Tat einzusehen oder dieser Einsicht


Die geistig Minderwertigen

Anschauung bedinge das Gehirn die Handlungen des Menschen wie ein unbeein¬
flußbarer mechanischer Apparat. Eine derartige Ansicht ist aber keineswegs die
notwendige Voraussetzung des Determinismus. Nach meiner Ansicht erzeugt
das Gehirn nicht etwa das Geistesleben und somit das Wollen. Es ist viel¬
mehr nur das Organ, in welchem sich die mannigfaltigen Beziehungskomplexe
zwischen den Weltbestandteilen, die die Beziehung zum Bewußtsein schon von
vornherein in sich tragen, ordnen. In dem Weltgeschehen folgt ein Ereignis
nach den: anderen mit absoluter Notwendigkeit aus der Gesamtheit aller Be¬
dingungen und somit ist auch jede Handlung des Menschen das Ergebnis seiner
Anlage und aller der Einflüsse, die von jeher auf ihn gewirkt haben und im
Augenblick der Handlung auf ihn wirken. Nach meiner Ansicht ist diese Auf¬
fassung weit davon entfernt, beunruhigend zu wirken. Nur die skizzierte deter¬
ministische Auffassung berechtigt uns, von der Erziehung gute Erfolge zu erhoffen,
und nur sie gewährt meines Erachtens dem Strafrecht eine sichere Grundlage,
indem sie die Strafen und Strafandrohungen unter die das Wollen des Menschen
bestimmenden Einflüsse einreiht. Für die Mehrzahl aller Menschen ist die Tat¬
sache der Strafbarkeit gewisser Handlungen ein Faktor, der im gegebenen Fall
das Wollen ausschlaggebend mitbestimmt.

Aus dieser Anschauung folgt, daß nicht der Ausschluß der freien Willens¬
bestimmung an sich den Täter straflos machen kann, denn jede Handlung ergibt
sich naturgemäß und notwendig aus Milieu und Anlage des Täters. Wenn
er bestraft wird, so geschieht es, weil die Strafe ihn und andere zu beeinflussen
geeignet ist. Nicht strafbar ist vom Standpunkt des Determinismus nur der,
für den die Wirkung von Strafandrohungen nicht in Betracht kommt, also z. B.
der ausgesprochen Geisteskranke.

Auch wer den vorstehenden Ausführungen nicht bedingungslos zustimmt,
wird zugeben müssen, daß es nützlich ist, dem deterministischen Standpunkt der
Psychiater Rechnung zu tragen, ohne deren Mitarbeit der Richter in zweifel¬
haften Fällen nicht imstande ist, über Strafbarkeit oder Nichtstrafbarkeit eines
Rechtsverletzers zu entscheiden. Wenn vollends die Möglichkeit gegeben ist, an
die Stelle des Ausschlusses der freien Willensbestimmung eine Definition des
straffrei machenden Zustandes zu setzen, die dem Standpunkt des Indeterminismus
in keiner Weise zu nahe tritt, dürfte auch der überzeugteste Jndeterminist keine
Veranlassung haben, die Beibehaltung des Ausdrucks „freie Willensbestimmung"
zu fordern, der zu so vielen unerquicklichen Mißverständnissen und Meinungs¬
verschiedenheiten in loro geführt hat und auch in Zukunft führen würde. Eine
dem Determinismus gerecht werdende und den Indeterminismus nicht angreifende
Begriffsbestimmung zurKennzeichnung der die Strafbarkeit ausschließenden Zustände
gibt der österreichische Gesetzentwurf, der mit einer von Aschaffenburg vor¬
geschlagenen Änderung folgendermaßen lauten würde: „Nicht strafbar ist, wer
zur Zeit der Tat wegen Geistesstörung, Geistesschwache oder Bewußtseinsstörung
nicht die Fähigkeit besaß, das Unrecht seiner Tat einzusehen oder dieser Einsicht


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[0028] Die geistig Minderwertigen Anschauung bedinge das Gehirn die Handlungen des Menschen wie ein unbeein¬ flußbarer mechanischer Apparat. Eine derartige Ansicht ist aber keineswegs die notwendige Voraussetzung des Determinismus. Nach meiner Ansicht erzeugt das Gehirn nicht etwa das Geistesleben und somit das Wollen. Es ist viel¬ mehr nur das Organ, in welchem sich die mannigfaltigen Beziehungskomplexe zwischen den Weltbestandteilen, die die Beziehung zum Bewußtsein schon von vornherein in sich tragen, ordnen. In dem Weltgeschehen folgt ein Ereignis nach den: anderen mit absoluter Notwendigkeit aus der Gesamtheit aller Be¬ dingungen und somit ist auch jede Handlung des Menschen das Ergebnis seiner Anlage und aller der Einflüsse, die von jeher auf ihn gewirkt haben und im Augenblick der Handlung auf ihn wirken. Nach meiner Ansicht ist diese Auf¬ fassung weit davon entfernt, beunruhigend zu wirken. Nur die skizzierte deter¬ ministische Auffassung berechtigt uns, von der Erziehung gute Erfolge zu erhoffen, und nur sie gewährt meines Erachtens dem Strafrecht eine sichere Grundlage, indem sie die Strafen und Strafandrohungen unter die das Wollen des Menschen bestimmenden Einflüsse einreiht. Für die Mehrzahl aller Menschen ist die Tat¬ sache der Strafbarkeit gewisser Handlungen ein Faktor, der im gegebenen Fall das Wollen ausschlaggebend mitbestimmt. Aus dieser Anschauung folgt, daß nicht der Ausschluß der freien Willens¬ bestimmung an sich den Täter straflos machen kann, denn jede Handlung ergibt sich naturgemäß und notwendig aus Milieu und Anlage des Täters. Wenn er bestraft wird, so geschieht es, weil die Strafe ihn und andere zu beeinflussen geeignet ist. Nicht strafbar ist vom Standpunkt des Determinismus nur der, für den die Wirkung von Strafandrohungen nicht in Betracht kommt, also z. B. der ausgesprochen Geisteskranke. Auch wer den vorstehenden Ausführungen nicht bedingungslos zustimmt, wird zugeben müssen, daß es nützlich ist, dem deterministischen Standpunkt der Psychiater Rechnung zu tragen, ohne deren Mitarbeit der Richter in zweifel¬ haften Fällen nicht imstande ist, über Strafbarkeit oder Nichtstrafbarkeit eines Rechtsverletzers zu entscheiden. Wenn vollends die Möglichkeit gegeben ist, an die Stelle des Ausschlusses der freien Willensbestimmung eine Definition des straffrei machenden Zustandes zu setzen, die dem Standpunkt des Indeterminismus in keiner Weise zu nahe tritt, dürfte auch der überzeugteste Jndeterminist keine Veranlassung haben, die Beibehaltung des Ausdrucks „freie Willensbestimmung" zu fordern, der zu so vielen unerquicklichen Mißverständnissen und Meinungs¬ verschiedenheiten in loro geführt hat und auch in Zukunft führen würde. Eine dem Determinismus gerecht werdende und den Indeterminismus nicht angreifende Begriffsbestimmung zurKennzeichnung der die Strafbarkeit ausschließenden Zustände gibt der österreichische Gesetzentwurf, der mit einer von Aschaffenburg vor¬ geschlagenen Änderung folgendermaßen lauten würde: „Nicht strafbar ist, wer zur Zeit der Tat wegen Geistesstörung, Geistesschwache oder Bewußtseinsstörung nicht die Fähigkeit besaß, das Unrecht seiner Tat einzusehen oder dieser Einsicht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/28>, abgerufen am 03.07.2024.