Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

gentes Studium widmen ... Es ist vorläufig
nicht möglich und wird vielleicht auch später
nicht möglich sein, aus den sämtlichen musi¬
kalischen Produkten der Menschheit eine ein¬
deutig fortschreitende Reihe aufzustellen, weil
der Fortschritt vou Anfang an in sehr ver¬
schiedenen Richtungen erfolgt. Dagegen wer¬
den wir allmählich bei den geographisch benach¬
barten oder ethnologisch zusammenhängenden
Völkergruppen auch immer mehr zusammen¬
hängende oder verwandte musikalische Zustände
finden und so ein großes einheitliches Bild
der musikalischen Leistungen gewinnen/'


[Spaltenumbruch]

bemerkt und sich zunutze gemacht haben; mit
anderen Worten: sie verwendeten bei mehr¬
stimmigen Signalrufen mit Absicht die Oktave
und auch die Quinte und Quarte. Nachdem
diese Intervalle aber erst einmal Beachtung
gefunden hatten, versuchten Wohl einzelne, dem
Spieltrieb folgend, ihre beiden Töne auch nach¬
einander zu singen. Kleine Tonschritte sind
allerdings nach Stumpfs Annahme auch ohne
vorhergehendes gleichzeitiges Singen ent¬
tanden, aber sie brauchten den musikalisch
ausgezeichneten Stufen (Ganzton, Halbton)
nicht zu entsprechen; diese sind in ihrer festen
Abgrenzung erst auf Grund der konsonanten
Intervalle möglich.

or. Lrich Fischer!- [Ende Spaltensatz]

Das Stumpfsche Werk, dem diese Sätze ent¬
nommen sind, weist aber nicht nur die Existenz¬
berechtigung des neuen Forschungsgebietes
uach, sondern legt auch in äußerst ansprechen¬
der Weise dar, wie viel allgemein Interessantes
und Anregendes dieses birgt. Die Frage nach
dem Ursprung der Musik beantwortet Stumpf,
nachdem er die betreffenden Theorien von
Darwin und Spencer sowie die heilte sehr
verbreitete Annahme, daß die Musik uns dem
Rhythmus entstanden sei, widerlegt hat, mit
dem Faustischen Wort: "Im Anfang war die
Tat." Nach seiner Ansicht verdankt die Ton¬
kunst biologischen Bedürfnissen ihr Entstehen.
Einen der wichtigsten Zeugungsfaktoren glaubt
er im akustischen Signnlwesen zu erblicken.
Will man sich ans weite Entfernungen durch
Zuruf verständigen, so verweilt die Stimme
deS Rufenden naturgemäß auf einem hohen
Ton, wie er seiner Stimmlage bei stärkster
Lautgebung gerade am angemessensten ist.
Rufen nun der Signalverstärkung wegen
mehrere Individuen zusammen, die verschie¬
denen Geschlechtes und Alters sind, so ent¬
stehen, da aus physischen Gründen nicht alle
die gleiche Tonhöhe zu erzeugen vermögen,
mannigfache Zusammenklange, die zunächst
Wohl nicht eben harmonisch find. Das Be¬
streben, den nämlichen Ton zu singen, mag
dann allmählich zu einer Auswahl geführt
haben. Bestimmte Zusammenklange zeichnen
sich nämlich durch ihre einheitliche Wirkung
aus, wie bereits in: Altertum erkannt, von
Stumpf aber auch experimentell nachgewiesen
wurde. Diese Eigenschaft mögen nun die
Urmenschen an den betreffenden Intervallen,
nämlich der Oktave, Quinte und Quarte, wenn
sie sie beim Zusammensingen zufällig trafen,

Die theoretische Untersuchung über den Ur¬
prung der Musik nimmt aber nur einen geringen
Teil des Stumpfschen Werkes in Anspruch.
Die dazu gehörigen Anmerkungen freilich
üllen in ihre", Kleindruck einen größeren
Raum, wie der Haupttext, von dem sie ge¬
ondert stehen. Ihre genaue Lektüre sei be¬
onders empfohlen, weil in ihnen manche
musikpsychologischen Fragen von großer Be¬
eutung, die und der in dem Buch behandelten
Materie irgendwie in Verbindung steht, be¬
prochen wird.) Der größere Teil des Buches
st der Untersuchung der heute uoch erhaltenen
Dokumente primitiver Musik: der Instrumente
nd Melodien der sogenannten Naturvölker,
ewidmet. Nachdem noch im ersten Teil ein
Kapitel von den primitiven Tonwerkzeugen
etliche von ihnen werden in guten Abbil¬
ungen gebracht), deren Entstehen, Be¬
chaffenheit und Einfluß auf die musikalische
Entwicklung, und ein zweites von Mehrstim¬
migkeit, Rhythmik und Sprachgesang handelt,
werden im zweiten Teil zahlreiche Gesänge
er Naturvölker in Noten mitgeteilt und ein¬
ehend analysiert. Die Auswahl dieser in
ezug auf rhythmische und melodische Ge¬
altung meist äußerst lehrreichen musikalischen
Stücke -- sie sind zum größten Teil der um¬
angreichen Sammlung des Berliner Phono-
ramm-Archivs entnommen -- ist eine aus¬
ehmend glückliche: ein ansprechenderes und
ugleich übersichtlicheres Bild von dem heutigen
Stand der vergleichenden Musikwissenschaft,
weit sie sich init primitiver Tonkunst be¬
chäftigt, könnte wohl nicht gegeben werden.


Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

gentes Studium widmen ... Es ist vorläufig
nicht möglich und wird vielleicht auch später
nicht möglich sein, aus den sämtlichen musi¬
kalischen Produkten der Menschheit eine ein¬
deutig fortschreitende Reihe aufzustellen, weil
der Fortschritt vou Anfang an in sehr ver¬
schiedenen Richtungen erfolgt. Dagegen wer¬
den wir allmählich bei den geographisch benach¬
barten oder ethnologisch zusammenhängenden
Völkergruppen auch immer mehr zusammen¬
hängende oder verwandte musikalische Zustände
finden und so ein großes einheitliches Bild
der musikalischen Leistungen gewinnen/'


[Spaltenumbruch]

bemerkt und sich zunutze gemacht haben; mit
anderen Worten: sie verwendeten bei mehr¬
stimmigen Signalrufen mit Absicht die Oktave
und auch die Quinte und Quarte. Nachdem
diese Intervalle aber erst einmal Beachtung
gefunden hatten, versuchten Wohl einzelne, dem
Spieltrieb folgend, ihre beiden Töne auch nach¬
einander zu singen. Kleine Tonschritte sind
allerdings nach Stumpfs Annahme auch ohne
vorhergehendes gleichzeitiges Singen ent¬
tanden, aber sie brauchten den musikalisch
ausgezeichneten Stufen (Ganzton, Halbton)
nicht zu entsprechen; diese sind in ihrer festen
Abgrenzung erst auf Grund der konsonanten
Intervalle möglich.

or. Lrich Fischer!- [Ende Spaltensatz]

Das Stumpfsche Werk, dem diese Sätze ent¬
nommen sind, weist aber nicht nur die Existenz¬
berechtigung des neuen Forschungsgebietes
uach, sondern legt auch in äußerst ansprechen¬
der Weise dar, wie viel allgemein Interessantes
und Anregendes dieses birgt. Die Frage nach
dem Ursprung der Musik beantwortet Stumpf,
nachdem er die betreffenden Theorien von
Darwin und Spencer sowie die heilte sehr
verbreitete Annahme, daß die Musik uns dem
Rhythmus entstanden sei, widerlegt hat, mit
dem Faustischen Wort: „Im Anfang war die
Tat." Nach seiner Ansicht verdankt die Ton¬
kunst biologischen Bedürfnissen ihr Entstehen.
Einen der wichtigsten Zeugungsfaktoren glaubt
er im akustischen Signnlwesen zu erblicken.
Will man sich ans weite Entfernungen durch
Zuruf verständigen, so verweilt die Stimme
deS Rufenden naturgemäß auf einem hohen
Ton, wie er seiner Stimmlage bei stärkster
Lautgebung gerade am angemessensten ist.
Rufen nun der Signalverstärkung wegen
mehrere Individuen zusammen, die verschie¬
denen Geschlechtes und Alters sind, so ent¬
stehen, da aus physischen Gründen nicht alle
die gleiche Tonhöhe zu erzeugen vermögen,
mannigfache Zusammenklange, die zunächst
Wohl nicht eben harmonisch find. Das Be¬
streben, den nämlichen Ton zu singen, mag
dann allmählich zu einer Auswahl geführt
haben. Bestimmte Zusammenklange zeichnen
sich nämlich durch ihre einheitliche Wirkung
aus, wie bereits in: Altertum erkannt, von
Stumpf aber auch experimentell nachgewiesen
wurde. Diese Eigenschaft mögen nun die
Urmenschen an den betreffenden Intervallen,
nämlich der Oktave, Quinte und Quarte, wenn
sie sie beim Zusammensingen zufällig trafen,

Die theoretische Untersuchung über den Ur¬
prung der Musik nimmt aber nur einen geringen
Teil des Stumpfschen Werkes in Anspruch.
Die dazu gehörigen Anmerkungen freilich
üllen in ihre», Kleindruck einen größeren
Raum, wie der Haupttext, von dem sie ge¬
ondert stehen. Ihre genaue Lektüre sei be¬
onders empfohlen, weil in ihnen manche
musikpsychologischen Fragen von großer Be¬
eutung, die und der in dem Buch behandelten
Materie irgendwie in Verbindung steht, be¬
prochen wird.) Der größere Teil des Buches
st der Untersuchung der heute uoch erhaltenen
Dokumente primitiver Musik: der Instrumente
nd Melodien der sogenannten Naturvölker,
ewidmet. Nachdem noch im ersten Teil ein
Kapitel von den primitiven Tonwerkzeugen
etliche von ihnen werden in guten Abbil¬
ungen gebracht), deren Entstehen, Be¬
chaffenheit und Einfluß auf die musikalische
Entwicklung, und ein zweites von Mehrstim¬
migkeit, Rhythmik und Sprachgesang handelt,
werden im zweiten Teil zahlreiche Gesänge
er Naturvölker in Noten mitgeteilt und ein¬
ehend analysiert. Die Auswahl dieser in
ezug auf rhythmische und melodische Ge¬
altung meist äußerst lehrreichen musikalischen
Stücke — sie sind zum größten Teil der um¬
angreichen Sammlung des Berliner Phono-
ramm-Archivs entnommen — ist eine aus¬
ehmend glückliche: ein ansprechenderes und
ugleich übersichtlicheres Bild von dem heutigen
Stand der vergleichenden Musikwissenschaft,
weit sie sich init primitiver Tonkunst be¬
chäftigt, könnte wohl nicht gegeben werden.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0251" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/319852"/>
            <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/>
            <cb type="start"/>
            <p xml:id="ID_1014" prev="#ID_1013" next="#ID_1015"> gentes Studium widmen ... Es ist vorläufig<lb/>
nicht möglich und wird vielleicht auch später<lb/>
nicht möglich sein, aus den sämtlichen musi¬<lb/>
kalischen Produkten der Menschheit eine ein¬<lb/>
deutig fortschreitende Reihe aufzustellen, weil<lb/>
der Fortschritt vou Anfang an in sehr ver¬<lb/>
schiedenen Richtungen erfolgt. Dagegen wer¬<lb/>
den wir allmählich bei den geographisch benach¬<lb/>
barten oder ethnologisch zusammenhängenden<lb/>
Völkergruppen auch immer mehr zusammen¬<lb/>
hängende oder verwandte musikalische Zustände<lb/>
finden und so ein großes einheitliches Bild<lb/>
der musikalischen Leistungen gewinnen/'</p><lb/>
            <cb/><lb/>
            <p xml:id="ID_1015" prev="#ID_1014"> bemerkt und sich zunutze gemacht haben; mit<lb/>
anderen Worten: sie verwendeten bei mehr¬<lb/>
stimmigen Signalrufen mit Absicht die Oktave<lb/>
und auch die Quinte und Quarte. Nachdem<lb/>
diese Intervalle aber erst einmal Beachtung<lb/>
gefunden hatten, versuchten Wohl einzelne, dem<lb/>
Spieltrieb folgend, ihre beiden Töne auch nach¬<lb/>
einander zu singen. Kleine Tonschritte sind<lb/>
allerdings nach Stumpfs Annahme auch ohne<lb/>
vorhergehendes gleichzeitiges Singen ent¬<lb/>
tanden, aber sie brauchten den musikalisch<lb/>
ausgezeichneten Stufen (Ganzton, Halbton)<lb/>
nicht zu entsprechen; diese sind in ihrer festen<lb/>
Abgrenzung erst auf Grund der konsonanten<lb/>
Intervalle möglich.</p>
            <note type="byline"> or. Lrich Fischer!-</note>
            <cb type="end"/><lb/>
            <p xml:id="ID_1016"> Das Stumpfsche Werk, dem diese Sätze ent¬<lb/>
nommen sind, weist aber nicht nur die Existenz¬<lb/>
berechtigung des neuen Forschungsgebietes<lb/>
uach, sondern legt auch in äußerst ansprechen¬<lb/>
der Weise dar, wie viel allgemein Interessantes<lb/>
und Anregendes dieses birgt.  Die Frage nach<lb/>
dem Ursprung der Musik beantwortet Stumpf,<lb/>
nachdem er die betreffenden Theorien von<lb/>
Darwin und Spencer sowie die heilte sehr<lb/>
verbreitete Annahme, daß die Musik uns dem<lb/>
Rhythmus entstanden sei, widerlegt hat, mit<lb/>
dem Faustischen Wort: &#x201E;Im Anfang war die<lb/>
Tat." Nach seiner Ansicht verdankt die Ton¬<lb/>
kunst biologischen Bedürfnissen ihr Entstehen.<lb/>
Einen der wichtigsten Zeugungsfaktoren glaubt<lb/>
er im akustischen Signnlwesen zu erblicken.<lb/>
Will man sich ans weite Entfernungen durch<lb/>
Zuruf verständigen, so verweilt die Stimme<lb/>
deS Rufenden naturgemäß auf einem hohen<lb/>
Ton, wie er seiner Stimmlage bei stärkster<lb/>
Lautgebung gerade am angemessensten ist.<lb/>
Rufen nun der Signalverstärkung wegen<lb/>
mehrere Individuen zusammen, die verschie¬<lb/>
denen Geschlechtes und Alters sind, so ent¬<lb/>
stehen, da aus physischen Gründen nicht alle<lb/>
die gleiche Tonhöhe zu erzeugen vermögen,<lb/>
mannigfache Zusammenklange, die zunächst<lb/>
Wohl nicht eben harmonisch find.  Das Be¬<lb/>
streben, den nämlichen Ton zu singen, mag<lb/>
dann allmählich zu einer Auswahl geführt<lb/>
haben. Bestimmte Zusammenklange zeichnen<lb/>
sich nämlich durch ihre einheitliche Wirkung<lb/>
aus, wie bereits in: Altertum erkannt, von<lb/>
Stumpf aber auch experimentell nachgewiesen<lb/>
wurde.  Diese Eigenschaft mögen nun die<lb/>
Urmenschen an den betreffenden Intervallen,<lb/>
nämlich der Oktave, Quinte und Quarte, wenn<lb/>
sie sie beim Zusammensingen zufällig trafen,</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1017"> Die theoretische Untersuchung über den Ur¬<lb/>
prung der Musik nimmt aber nur einen geringen<lb/>
Teil des Stumpfschen Werkes in Anspruch.<lb/>
Die dazu gehörigen Anmerkungen freilich<lb/>
üllen in ihre», Kleindruck einen größeren<lb/>
Raum, wie der Haupttext, von dem sie ge¬<lb/>
ondert stehen.  Ihre genaue Lektüre sei be¬<lb/>
onders empfohlen, weil in ihnen manche<lb/>
musikpsychologischen Fragen von großer Be¬<lb/>
eutung, die und der in dem Buch behandelten<lb/>
Materie irgendwie in Verbindung steht, be¬<lb/>
prochen wird.) Der größere Teil des Buches<lb/>
st der Untersuchung der heute uoch erhaltenen<lb/>
Dokumente primitiver Musik: der Instrumente<lb/>
nd Melodien der sogenannten Naturvölker,<lb/>
ewidmet. Nachdem noch im ersten Teil ein<lb/>
Kapitel von den primitiven Tonwerkzeugen<lb/>
etliche von ihnen werden in guten Abbil¬<lb/>
ungen  gebracht),  deren Entstehen, Be¬<lb/>
chaffenheit und Einfluß auf die musikalische<lb/>
Entwicklung, und ein zweites von Mehrstim¬<lb/>
migkeit, Rhythmik und Sprachgesang handelt,<lb/>
werden im zweiten Teil zahlreiche Gesänge<lb/>
er Naturvölker in Noten mitgeteilt und ein¬<lb/>
ehend analysiert.  Die Auswahl dieser in<lb/>
ezug auf rhythmische und melodische Ge¬<lb/>
altung meist äußerst lehrreichen musikalischen<lb/>
Stücke &#x2014; sie sind zum größten Teil der um¬<lb/>
angreichen Sammlung des Berliner Phono-<lb/>
ramm-Archivs entnommen &#x2014; ist eine aus¬<lb/>
ehmend glückliche: ein ansprechenderes und<lb/>
ugleich übersichtlicheres Bild von dem heutigen<lb/>
Stand der vergleichenden Musikwissenschaft,<lb/>
weit sie sich init primitiver Tonkunst be¬<lb/>
chäftigt, könnte wohl nicht gegeben werden.</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0251] Maßgebliches und Unmaßgebliches gentes Studium widmen ... Es ist vorläufig nicht möglich und wird vielleicht auch später nicht möglich sein, aus den sämtlichen musi¬ kalischen Produkten der Menschheit eine ein¬ deutig fortschreitende Reihe aufzustellen, weil der Fortschritt vou Anfang an in sehr ver¬ schiedenen Richtungen erfolgt. Dagegen wer¬ den wir allmählich bei den geographisch benach¬ barten oder ethnologisch zusammenhängenden Völkergruppen auch immer mehr zusammen¬ hängende oder verwandte musikalische Zustände finden und so ein großes einheitliches Bild der musikalischen Leistungen gewinnen/' bemerkt und sich zunutze gemacht haben; mit anderen Worten: sie verwendeten bei mehr¬ stimmigen Signalrufen mit Absicht die Oktave und auch die Quinte und Quarte. Nachdem diese Intervalle aber erst einmal Beachtung gefunden hatten, versuchten Wohl einzelne, dem Spieltrieb folgend, ihre beiden Töne auch nach¬ einander zu singen. Kleine Tonschritte sind allerdings nach Stumpfs Annahme auch ohne vorhergehendes gleichzeitiges Singen ent¬ tanden, aber sie brauchten den musikalisch ausgezeichneten Stufen (Ganzton, Halbton) nicht zu entsprechen; diese sind in ihrer festen Abgrenzung erst auf Grund der konsonanten Intervalle möglich. or. Lrich Fischer!- Das Stumpfsche Werk, dem diese Sätze ent¬ nommen sind, weist aber nicht nur die Existenz¬ berechtigung des neuen Forschungsgebietes uach, sondern legt auch in äußerst ansprechen¬ der Weise dar, wie viel allgemein Interessantes und Anregendes dieses birgt. Die Frage nach dem Ursprung der Musik beantwortet Stumpf, nachdem er die betreffenden Theorien von Darwin und Spencer sowie die heilte sehr verbreitete Annahme, daß die Musik uns dem Rhythmus entstanden sei, widerlegt hat, mit dem Faustischen Wort: „Im Anfang war die Tat." Nach seiner Ansicht verdankt die Ton¬ kunst biologischen Bedürfnissen ihr Entstehen. Einen der wichtigsten Zeugungsfaktoren glaubt er im akustischen Signnlwesen zu erblicken. Will man sich ans weite Entfernungen durch Zuruf verständigen, so verweilt die Stimme deS Rufenden naturgemäß auf einem hohen Ton, wie er seiner Stimmlage bei stärkster Lautgebung gerade am angemessensten ist. Rufen nun der Signalverstärkung wegen mehrere Individuen zusammen, die verschie¬ denen Geschlechtes und Alters sind, so ent¬ stehen, da aus physischen Gründen nicht alle die gleiche Tonhöhe zu erzeugen vermögen, mannigfache Zusammenklange, die zunächst Wohl nicht eben harmonisch find. Das Be¬ streben, den nämlichen Ton zu singen, mag dann allmählich zu einer Auswahl geführt haben. Bestimmte Zusammenklange zeichnen sich nämlich durch ihre einheitliche Wirkung aus, wie bereits in: Altertum erkannt, von Stumpf aber auch experimentell nachgewiesen wurde. Diese Eigenschaft mögen nun die Urmenschen an den betreffenden Intervallen, nämlich der Oktave, Quinte und Quarte, wenn sie sie beim Zusammensingen zufällig trafen, Die theoretische Untersuchung über den Ur¬ prung der Musik nimmt aber nur einen geringen Teil des Stumpfschen Werkes in Anspruch. Die dazu gehörigen Anmerkungen freilich üllen in ihre», Kleindruck einen größeren Raum, wie der Haupttext, von dem sie ge¬ ondert stehen. Ihre genaue Lektüre sei be¬ onders empfohlen, weil in ihnen manche musikpsychologischen Fragen von großer Be¬ eutung, die und der in dem Buch behandelten Materie irgendwie in Verbindung steht, be¬ prochen wird.) Der größere Teil des Buches st der Untersuchung der heute uoch erhaltenen Dokumente primitiver Musik: der Instrumente nd Melodien der sogenannten Naturvölker, ewidmet. Nachdem noch im ersten Teil ein Kapitel von den primitiven Tonwerkzeugen etliche von ihnen werden in guten Abbil¬ ungen gebracht), deren Entstehen, Be¬ chaffenheit und Einfluß auf die musikalische Entwicklung, und ein zweites von Mehrstim¬ migkeit, Rhythmik und Sprachgesang handelt, werden im zweiten Teil zahlreiche Gesänge er Naturvölker in Noten mitgeteilt und ein¬ ehend analysiert. Die Auswahl dieser in ezug auf rhythmische und melodische Ge¬ altung meist äußerst lehrreichen musikalischen Stücke — sie sind zum größten Teil der um¬ angreichen Sammlung des Berliner Phono- ramm-Archivs entnommen — ist eine aus¬ ehmend glückliche: ein ansprechenderes und ugleich übersichtlicheres Bild von dem heutigen Stand der vergleichenden Musikwissenschaft, weit sie sich init primitiver Tonkunst be¬ chäftigt, könnte wohl nicht gegeben werden.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/251
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/251>, abgerufen am 23.07.2024.