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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Reichsspicgel

Einsichtige haben diese Tatsache längst erkannt und mit Recht gefolgert: wenn
das System die nationale Volkswirtschaft sich entfalten läßt, so ist es für den
Staat nützlich und bedarf keiner Änderung; da aber ein erheblicher Teil der
Nation darunter zu leiden beginnt, so sind Maßregeln am Platze, die einen
Ausgleich herbeiführen könnten. Darum die Reichsfinanz- und Steuerreform
Bülows, darum die Bestrebungen des Justizrath Bamberger und des Landrath
v. Dewitz. Einem Aufsatz des letzteren in Ur. 240 des Tag entnehme ich, daß
in dem Zeitraum von 1895 bis 1911 sich die Vermögen in der Größe von
einer halben bis zu einer Million um 65,27 Prozent, von einer bis zwei um
72,43 Prozent und von mehr als zwei Millionen gar um 109,21 Prozent ver¬
mehrt haben, während sich die Vermögen von sechs- bis hunderttausend Mark
nur um 46,8 Prozent vermehrten. Das Bild wird im Hinblick auf die Be¬
völkerung noch bedeutsamer, wenn man berücksichtigt, daß die Zunahme von
109,21 Prozent oder 9.5 Milliarden nur 1598 Steuerzensiten betrifft, während
sich in die Zunahme von 46.8 Prozent oder 11,9 Milliarden Mark 555901
Steuerzensiten teilen müssen; bei den Millionären beträgt der Vermögenszuwachs
in sechzehn Jahren auf den Zensiten 5904000 Mark, bei den kleinen Kapitalisten
21400 Mark! -- Seit dem Scheitern der Reichsfinanzreform des Fürsten Bülow
ist der Ruf nach billigen: Brot und Fleisch lauter geworden, und da die Steuer¬
gesetzgebung den Ausgleich nicht bewirken konnte, so schwebt nicht nur den un¬
gebildeten Massen das Freihandelssnstem mehr denn je als Ideal vor. Dies
nur zur Beleuchtung des Hintergrundes. Es sind große, tiefschneidende Wirt¬
schaftsfragen, die zur Entscheidung drängen, und die am meisten interessierten
Schichten des Bürgertums suchen die politischen Parteien für die Wahrnehmung
ihrer Interessen zu gewinnen.




Wie so oft schon seit der Reichsgründung ist es auch diesmal die national¬
liberale Partei, die in schicksalsschwerer Stunde den Ausschlag geben soll für die
Wahl des Weges. Die Entscheidung aber mag ihrem Führer heute noch schwerer
dünken als jener Schritt Bennigsens, der die Partei gleich nach ihrer Gründung an
die Seite Bismarcks führte. strömten nicht damals aus allen Parteien die Ein¬
sichtigsten dem genialen Staatsmanne zu? Waren es nicht gewaltige nationale
Fragen, die jeden Parteifanatismus niederwarfen und Konservative, National-
liberale, königliche Prinzen und Handwerker sich um die Regierung scharen
ließen? Das war damals, 1867. Mit dem werdenden Reich wuchs auch die
Partei heran. Heute scheint eine einende Losung nicht vorhanden. Wirr tönt
es durcheinander. Hier Eisenzoll, dort Einfuhrscheine, Differenzialtarife, koloniale
Erwerbungen! Alles das und noch manches andere hemmt kühne Ent¬
schlüsse. Die Aussichten der Nationalliberalen im kommenden Wahlkampf sind
in keinem Falle sehr glänzend, gleichgültig, ob sie für die Konservativen
oder für den Freisinn optieren. Am besten werden sie als Partei wahrscheinlich


Reichsspicgel

Einsichtige haben diese Tatsache längst erkannt und mit Recht gefolgert: wenn
das System die nationale Volkswirtschaft sich entfalten läßt, so ist es für den
Staat nützlich und bedarf keiner Änderung; da aber ein erheblicher Teil der
Nation darunter zu leiden beginnt, so sind Maßregeln am Platze, die einen
Ausgleich herbeiführen könnten. Darum die Reichsfinanz- und Steuerreform
Bülows, darum die Bestrebungen des Justizrath Bamberger und des Landrath
v. Dewitz. Einem Aufsatz des letzteren in Ur. 240 des Tag entnehme ich, daß
in dem Zeitraum von 1895 bis 1911 sich die Vermögen in der Größe von
einer halben bis zu einer Million um 65,27 Prozent, von einer bis zwei um
72,43 Prozent und von mehr als zwei Millionen gar um 109,21 Prozent ver¬
mehrt haben, während sich die Vermögen von sechs- bis hunderttausend Mark
nur um 46,8 Prozent vermehrten. Das Bild wird im Hinblick auf die Be¬
völkerung noch bedeutsamer, wenn man berücksichtigt, daß die Zunahme von
109,21 Prozent oder 9.5 Milliarden nur 1598 Steuerzensiten betrifft, während
sich in die Zunahme von 46.8 Prozent oder 11,9 Milliarden Mark 555901
Steuerzensiten teilen müssen; bei den Millionären beträgt der Vermögenszuwachs
in sechzehn Jahren auf den Zensiten 5904000 Mark, bei den kleinen Kapitalisten
21400 Mark! — Seit dem Scheitern der Reichsfinanzreform des Fürsten Bülow
ist der Ruf nach billigen: Brot und Fleisch lauter geworden, und da die Steuer¬
gesetzgebung den Ausgleich nicht bewirken konnte, so schwebt nicht nur den un¬
gebildeten Massen das Freihandelssnstem mehr denn je als Ideal vor. Dies
nur zur Beleuchtung des Hintergrundes. Es sind große, tiefschneidende Wirt¬
schaftsfragen, die zur Entscheidung drängen, und die am meisten interessierten
Schichten des Bürgertums suchen die politischen Parteien für die Wahrnehmung
ihrer Interessen zu gewinnen.




Wie so oft schon seit der Reichsgründung ist es auch diesmal die national¬
liberale Partei, die in schicksalsschwerer Stunde den Ausschlag geben soll für die
Wahl des Weges. Die Entscheidung aber mag ihrem Führer heute noch schwerer
dünken als jener Schritt Bennigsens, der die Partei gleich nach ihrer Gründung an
die Seite Bismarcks führte. strömten nicht damals aus allen Parteien die Ein¬
sichtigsten dem genialen Staatsmanne zu? Waren es nicht gewaltige nationale
Fragen, die jeden Parteifanatismus niederwarfen und Konservative, National-
liberale, königliche Prinzen und Handwerker sich um die Regierung scharen
ließen? Das war damals, 1867. Mit dem werdenden Reich wuchs auch die
Partei heran. Heute scheint eine einende Losung nicht vorhanden. Wirr tönt
es durcheinander. Hier Eisenzoll, dort Einfuhrscheine, Differenzialtarife, koloniale
Erwerbungen! Alles das und noch manches andere hemmt kühne Ent¬
schlüsse. Die Aussichten der Nationalliberalen im kommenden Wahlkampf sind
in keinem Falle sehr glänzend, gleichgültig, ob sie für die Konservativen
oder für den Freisinn optieren. Am besten werden sie als Partei wahrscheinlich


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[0209] Reichsspicgel Einsichtige haben diese Tatsache längst erkannt und mit Recht gefolgert: wenn das System die nationale Volkswirtschaft sich entfalten läßt, so ist es für den Staat nützlich und bedarf keiner Änderung; da aber ein erheblicher Teil der Nation darunter zu leiden beginnt, so sind Maßregeln am Platze, die einen Ausgleich herbeiführen könnten. Darum die Reichsfinanz- und Steuerreform Bülows, darum die Bestrebungen des Justizrath Bamberger und des Landrath v. Dewitz. Einem Aufsatz des letzteren in Ur. 240 des Tag entnehme ich, daß in dem Zeitraum von 1895 bis 1911 sich die Vermögen in der Größe von einer halben bis zu einer Million um 65,27 Prozent, von einer bis zwei um 72,43 Prozent und von mehr als zwei Millionen gar um 109,21 Prozent ver¬ mehrt haben, während sich die Vermögen von sechs- bis hunderttausend Mark nur um 46,8 Prozent vermehrten. Das Bild wird im Hinblick auf die Be¬ völkerung noch bedeutsamer, wenn man berücksichtigt, daß die Zunahme von 109,21 Prozent oder 9.5 Milliarden nur 1598 Steuerzensiten betrifft, während sich in die Zunahme von 46.8 Prozent oder 11,9 Milliarden Mark 555901 Steuerzensiten teilen müssen; bei den Millionären beträgt der Vermögenszuwachs in sechzehn Jahren auf den Zensiten 5904000 Mark, bei den kleinen Kapitalisten 21400 Mark! — Seit dem Scheitern der Reichsfinanzreform des Fürsten Bülow ist der Ruf nach billigen: Brot und Fleisch lauter geworden, und da die Steuer¬ gesetzgebung den Ausgleich nicht bewirken konnte, so schwebt nicht nur den un¬ gebildeten Massen das Freihandelssnstem mehr denn je als Ideal vor. Dies nur zur Beleuchtung des Hintergrundes. Es sind große, tiefschneidende Wirt¬ schaftsfragen, die zur Entscheidung drängen, und die am meisten interessierten Schichten des Bürgertums suchen die politischen Parteien für die Wahrnehmung ihrer Interessen zu gewinnen. Wie so oft schon seit der Reichsgründung ist es auch diesmal die national¬ liberale Partei, die in schicksalsschwerer Stunde den Ausschlag geben soll für die Wahl des Weges. Die Entscheidung aber mag ihrem Führer heute noch schwerer dünken als jener Schritt Bennigsens, der die Partei gleich nach ihrer Gründung an die Seite Bismarcks führte. strömten nicht damals aus allen Parteien die Ein¬ sichtigsten dem genialen Staatsmanne zu? Waren es nicht gewaltige nationale Fragen, die jeden Parteifanatismus niederwarfen und Konservative, National- liberale, königliche Prinzen und Handwerker sich um die Regierung scharen ließen? Das war damals, 1867. Mit dem werdenden Reich wuchs auch die Partei heran. Heute scheint eine einende Losung nicht vorhanden. Wirr tönt es durcheinander. Hier Eisenzoll, dort Einfuhrscheine, Differenzialtarife, koloniale Erwerbungen! Alles das und noch manches andere hemmt kühne Ent¬ schlüsse. Die Aussichten der Nationalliberalen im kommenden Wahlkampf sind in keinem Falle sehr glänzend, gleichgültig, ob sie für die Konservativen oder für den Freisinn optieren. Am besten werden sie als Partei wahrscheinlich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/209>, abgerufen am 23.07.2024.