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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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die beinahe in jedem Schulfach geVoten wer¬
den, zu vergewissern und damit dann in Ver¬
bindung bringen, was das Berufsleben des
Vaters, was die täglichen Erlebnisse und bor
allem auch die Zeitungsnachrichten an Stoff
bieten, dünn ergibt das eine wünschens¬
werteste Förderung staatsbürgerlicher Erzie¬
hung. Durchaus auch die Mutter mit ihrer
Pflicht der Wirtschnftsversorgung und der ein¬
schlägigen Warenkenntnis vermag ihr voll¬
gemessenes Teil dazu beizutragen. Denn alle
Weltwirtschaftsfragen gehen immer zurück auf
Fragen der Hauswirtschaft, so sicher, wie
die Gesundheit des Staatsorganismus von
der Gesundheit des Familienlebens abhängt.
Wofern nur die Neigung der Erwachsenen
selbst sich nicht vorzugsweise demjenigen zu¬
wendet, was nur "Sensation" macht, wird
die Erörterung von Parlamentsverhmidlungen,
Gerichtsverhandlungen, Tagungen von Kon¬
gressen, wird des Vaters eigene Tätigkeit in
Stndtberordnetensitzungen, in Schöffen- und
Schwurgerichts-, in Kirchenratssitzungen, seine
Teilnahme an VereinSvestrebungen und hun¬
derterlei Ähnliches in Verbindung mit dem aus
der SchuleMitg"brachten dem Heranwachsenden
reiche Frucht bringen für sein Verständnis vom
Wesen des Staates und der Tätigkeit des
Staatsbürgers.

Allerdings sind alle diejenigen Schüler
übel daran, die schon in dem eingeschlagenen
Schülbildungsgange sich von dem Bildungs¬
kreise der eigenen Familie entfernen oder die,
selbst aus höheren Schichten stammend, durch
die Umstände genötigt, in Pensionen bei
kleineren Leuten untergebracht sind. Auf die
Erörterung ästhetischer oder wissenschaftlicher
Fragen wird hier natürlich verzichtet werden
müssen, aber Staatsbürgerkunde ist doch keines¬
wegs ausgeschlossen. Denn dem Sohn des
großstädtischen Bankiers oder des Großgrund¬
besitzers kann es nur dienlich sein, wenn er
das Leben des staatlichen Organismus sich
auch im Urteil sozial niedriger stehender
Schichten spiegeln sieht. Was freilich sonst
dagegen spricht, junge Leute, die eine höhere
Schule besuchen, in Familien mit nicht gleich¬
wertiger Bildung aufwachsen zu lassen, gehört
nicht hierher, es ist aber nicht wenig.

Immer aber soll auch in den Familien
der höher Gebildeten bei Tisch "in Himmels-


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willen kein Bildungsdrill getrieben werden.
Und wenn es auch jeweilen ganz angebracht
st und der Jugend reichlich Vergnügen macht,
neu erlernte Sprachen auch im Tischgespräch
zu üben, die Herrschaft der französischen
Mademoiselle oder der englischen Miß will
ich uns für die deutsche bürgerliche Familie
bei Tisch doch gar nicht ziemen. Mit ihren
hundertfach verschiedenen Interessen soll die
chulpflichtige Jugend da zur Geltung kommen:
der Quintaner soll so gut von dem Ver¬
eidigungsplan seiner Burg schwärmen, die
er sich im Garten errichtet und die er
gegen den Feind verteidigen will, wie der
sekundärer von seiner Fußwanderung am
nächsten Sonntag mit den unerläßlichen An¬
sichtspostkarten und erst recht der Primaner
von den Aussichten für die nächste Tanzstunde
und der Wirkung seiner neuen Krawatte.
Für unvermerkte Förderung der Bildung im
Anschluß an die Schulerfcchrungcn bleibt noch
Raum genug.

GymnasialdirektorOr.Lorentz
Tagesfragen

Das peinliche Thema. Professor Karl
Lamprecht hat es wieder einmal angeschnitten,
und auf dem Hochschüllehrertage noch dazu,
nämlich das Thema vom wissenschaftlichen
Durchschnittshavitus des heutigen Universi¬
ätslehrers, vom steigenden Überwuchern
eben dieses Durchschnitts und von der darin
iegenden Gefahr für das Gesamtniveau und
die künftige Geltung deutschen Wissenschafts-
betrieves. Man kann nicht leugnen, daß die
Pausen zwischen den einzelnen Vorstoßen
gerade nach dieser Richtung hin immer
ürzer werden, und daß die Sprache der
unwilligen Warner an Deutlichkeit zunimmt.
Noch weniger läßt sich bestreiten, daß in der
Tat die deutsche Universität durch nichts so
ehr von ihren ursprünglichen Zwecken nach
und nach abgedrängt worden ist als durch
hre Belastung mit der speziellen Aufgabe,
unser höheres Beamtentum in Staat und
Gemeinde, Kirche und Schule auf die an¬
rkannte Basis zu bringen. Vielleicht ist es da
iel zu spät, mit Reforinbestrevungen, die einer
ängst historisch gewordenen Entwicklung gleich¬
am das erwünschte stille Plätzchen abzwacken
ollten, jetzt noch Umstände zumachen. Wenn die

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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die beinahe in jedem Schulfach geVoten wer¬
den, zu vergewissern und damit dann in Ver¬
bindung bringen, was das Berufsleben des
Vaters, was die täglichen Erlebnisse und bor
allem auch die Zeitungsnachrichten an Stoff
bieten, dünn ergibt das eine wünschens¬
werteste Förderung staatsbürgerlicher Erzie¬
hung. Durchaus auch die Mutter mit ihrer
Pflicht der Wirtschnftsversorgung und der ein¬
schlägigen Warenkenntnis vermag ihr voll¬
gemessenes Teil dazu beizutragen. Denn alle
Weltwirtschaftsfragen gehen immer zurück auf
Fragen der Hauswirtschaft, so sicher, wie
die Gesundheit des Staatsorganismus von
der Gesundheit des Familienlebens abhängt.
Wofern nur die Neigung der Erwachsenen
selbst sich nicht vorzugsweise demjenigen zu¬
wendet, was nur „Sensation" macht, wird
die Erörterung von Parlamentsverhmidlungen,
Gerichtsverhandlungen, Tagungen von Kon¬
gressen, wird des Vaters eigene Tätigkeit in
Stndtberordnetensitzungen, in Schöffen- und
Schwurgerichts-, in Kirchenratssitzungen, seine
Teilnahme an VereinSvestrebungen und hun¬
derterlei Ähnliches in Verbindung mit dem aus
der SchuleMitg«brachten dem Heranwachsenden
reiche Frucht bringen für sein Verständnis vom
Wesen des Staates und der Tätigkeit des
Staatsbürgers.

Allerdings sind alle diejenigen Schüler
übel daran, die schon in dem eingeschlagenen
Schülbildungsgange sich von dem Bildungs¬
kreise der eigenen Familie entfernen oder die,
selbst aus höheren Schichten stammend, durch
die Umstände genötigt, in Pensionen bei
kleineren Leuten untergebracht sind. Auf die
Erörterung ästhetischer oder wissenschaftlicher
Fragen wird hier natürlich verzichtet werden
müssen, aber Staatsbürgerkunde ist doch keines¬
wegs ausgeschlossen. Denn dem Sohn des
großstädtischen Bankiers oder des Großgrund¬
besitzers kann es nur dienlich sein, wenn er
das Leben des staatlichen Organismus sich
auch im Urteil sozial niedriger stehender
Schichten spiegeln sieht. Was freilich sonst
dagegen spricht, junge Leute, die eine höhere
Schule besuchen, in Familien mit nicht gleich¬
wertiger Bildung aufwachsen zu lassen, gehört
nicht hierher, es ist aber nicht wenig.

Immer aber soll auch in den Familien
der höher Gebildeten bei Tisch »in Himmels-


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willen kein Bildungsdrill getrieben werden.
Und wenn es auch jeweilen ganz angebracht
st und der Jugend reichlich Vergnügen macht,
neu erlernte Sprachen auch im Tischgespräch
zu üben, die Herrschaft der französischen
Mademoiselle oder der englischen Miß will
ich uns für die deutsche bürgerliche Familie
bei Tisch doch gar nicht ziemen. Mit ihren
hundertfach verschiedenen Interessen soll die
chulpflichtige Jugend da zur Geltung kommen:
der Quintaner soll so gut von dem Ver¬
eidigungsplan seiner Burg schwärmen, die
er sich im Garten errichtet und die er
gegen den Feind verteidigen will, wie der
sekundärer von seiner Fußwanderung am
nächsten Sonntag mit den unerläßlichen An¬
sichtspostkarten und erst recht der Primaner
von den Aussichten für die nächste Tanzstunde
und der Wirkung seiner neuen Krawatte.
Für unvermerkte Förderung der Bildung im
Anschluß an die Schulerfcchrungcn bleibt noch
Raum genug.

GymnasialdirektorOr.Lorentz
Tagesfragen

Das peinliche Thema. Professor Karl
Lamprecht hat es wieder einmal angeschnitten,
und auf dem Hochschüllehrertage noch dazu,
nämlich das Thema vom wissenschaftlichen
Durchschnittshavitus des heutigen Universi¬
ätslehrers, vom steigenden Überwuchern
eben dieses Durchschnitts und von der darin
iegenden Gefahr für das Gesamtniveau und
die künftige Geltung deutschen Wissenschafts-
betrieves. Man kann nicht leugnen, daß die
Pausen zwischen den einzelnen Vorstoßen
gerade nach dieser Richtung hin immer
ürzer werden, und daß die Sprache der
unwilligen Warner an Deutlichkeit zunimmt.
Noch weniger läßt sich bestreiten, daß in der
Tat die deutsche Universität durch nichts so
ehr von ihren ursprünglichen Zwecken nach
und nach abgedrängt worden ist als durch
hre Belastung mit der speziellen Aufgabe,
unser höheres Beamtentum in Staat und
Gemeinde, Kirche und Schule auf die an¬
rkannte Basis zu bringen. Vielleicht ist es da
iel zu spät, mit Reforinbestrevungen, die einer
ängst historisch gewordenen Entwicklung gleich¬
am das erwünschte stille Plätzchen abzwacken
ollten, jetzt noch Umstände zumachen. Wenn die

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[0205] Maßgebliches und Unmaßgebliches die beinahe in jedem Schulfach geVoten wer¬ den, zu vergewissern und damit dann in Ver¬ bindung bringen, was das Berufsleben des Vaters, was die täglichen Erlebnisse und bor allem auch die Zeitungsnachrichten an Stoff bieten, dünn ergibt das eine wünschens¬ werteste Förderung staatsbürgerlicher Erzie¬ hung. Durchaus auch die Mutter mit ihrer Pflicht der Wirtschnftsversorgung und der ein¬ schlägigen Warenkenntnis vermag ihr voll¬ gemessenes Teil dazu beizutragen. Denn alle Weltwirtschaftsfragen gehen immer zurück auf Fragen der Hauswirtschaft, so sicher, wie die Gesundheit des Staatsorganismus von der Gesundheit des Familienlebens abhängt. Wofern nur die Neigung der Erwachsenen selbst sich nicht vorzugsweise demjenigen zu¬ wendet, was nur „Sensation" macht, wird die Erörterung von Parlamentsverhmidlungen, Gerichtsverhandlungen, Tagungen von Kon¬ gressen, wird des Vaters eigene Tätigkeit in Stndtberordnetensitzungen, in Schöffen- und Schwurgerichts-, in Kirchenratssitzungen, seine Teilnahme an VereinSvestrebungen und hun¬ derterlei Ähnliches in Verbindung mit dem aus der SchuleMitg«brachten dem Heranwachsenden reiche Frucht bringen für sein Verständnis vom Wesen des Staates und der Tätigkeit des Staatsbürgers. Allerdings sind alle diejenigen Schüler übel daran, die schon in dem eingeschlagenen Schülbildungsgange sich von dem Bildungs¬ kreise der eigenen Familie entfernen oder die, selbst aus höheren Schichten stammend, durch die Umstände genötigt, in Pensionen bei kleineren Leuten untergebracht sind. Auf die Erörterung ästhetischer oder wissenschaftlicher Fragen wird hier natürlich verzichtet werden müssen, aber Staatsbürgerkunde ist doch keines¬ wegs ausgeschlossen. Denn dem Sohn des großstädtischen Bankiers oder des Großgrund¬ besitzers kann es nur dienlich sein, wenn er das Leben des staatlichen Organismus sich auch im Urteil sozial niedriger stehender Schichten spiegeln sieht. Was freilich sonst dagegen spricht, junge Leute, die eine höhere Schule besuchen, in Familien mit nicht gleich¬ wertiger Bildung aufwachsen zu lassen, gehört nicht hierher, es ist aber nicht wenig. Immer aber soll auch in den Familien der höher Gebildeten bei Tisch »in Himmels- willen kein Bildungsdrill getrieben werden. Und wenn es auch jeweilen ganz angebracht st und der Jugend reichlich Vergnügen macht, neu erlernte Sprachen auch im Tischgespräch zu üben, die Herrschaft der französischen Mademoiselle oder der englischen Miß will ich uns für die deutsche bürgerliche Familie bei Tisch doch gar nicht ziemen. Mit ihren hundertfach verschiedenen Interessen soll die chulpflichtige Jugend da zur Geltung kommen: der Quintaner soll so gut von dem Ver¬ eidigungsplan seiner Burg schwärmen, die er sich im Garten errichtet und die er gegen den Feind verteidigen will, wie der sekundärer von seiner Fußwanderung am nächsten Sonntag mit den unerläßlichen An¬ sichtspostkarten und erst recht der Primaner von den Aussichten für die nächste Tanzstunde und der Wirkung seiner neuen Krawatte. Für unvermerkte Förderung der Bildung im Anschluß an die Schulerfcchrungcn bleibt noch Raum genug. GymnasialdirektorOr.Lorentz Tagesfragen Das peinliche Thema. Professor Karl Lamprecht hat es wieder einmal angeschnitten, und auf dem Hochschüllehrertage noch dazu, nämlich das Thema vom wissenschaftlichen Durchschnittshavitus des heutigen Universi¬ ätslehrers, vom steigenden Überwuchern eben dieses Durchschnitts und von der darin iegenden Gefahr für das Gesamtniveau und die künftige Geltung deutschen Wissenschafts- betrieves. Man kann nicht leugnen, daß die Pausen zwischen den einzelnen Vorstoßen gerade nach dieser Richtung hin immer ürzer werden, und daß die Sprache der unwilligen Warner an Deutlichkeit zunimmt. Noch weniger läßt sich bestreiten, daß in der Tat die deutsche Universität durch nichts so ehr von ihren ursprünglichen Zwecken nach und nach abgedrängt worden ist als durch hre Belastung mit der speziellen Aufgabe, unser höheres Beamtentum in Staat und Gemeinde, Kirche und Schule auf die an¬ rkannte Basis zu bringen. Vielleicht ist es da iel zu spät, mit Reforinbestrevungen, die einer ängst historisch gewordenen Entwicklung gleich¬ am das erwünschte stille Plätzchen abzwacken ollten, jetzt noch Umstände zumachen. Wenn die Grenzboten IV 19t 12?

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/205>, abgerufen am 23.07.2024.