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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Reichsspiegel

freier entwickeln, manche unsittliche Ehe würde nicht geschlossen, aber dem Prinzip
der Entwicklung und Erhaltung einer Aristokratie könnte besser gedient werden als
bei der gegenwärtigen Adelspolitik. Würde nicht damit auch ein Reiz gegeben
werden, die Hervoragenden in den alten Familien schlummernden Kräfte besser und
vielseitiger zu entwickeln, als es bisher unter den Beschränkungen möglich ist?
Sollten Goethes Worte


Was du ererbt von deinen Vätern seist,
Erwirb es, um es zu besitze!?,

G. Li.

nicht mit neuem Inhalt für den Adel zu füllen sein?


Bank und Geld

Tripolis und die Börsen -- Der Krieg und sein Einfluß auf Handel und Industrie --
Die Lage des Geldmarktes -- Konjunkturaussichten der Montanindustrie .-- Der
deutsche Erdöltrust

Mit bemerkenswerten Gleichmut schauen die Weltbörsen dem Satyrspiel zu,
das sich italienisch-türkischer Krieg betitelt. Die Gefahr, welche aller Welt drohte,
als das italienische entlud terrible plötzlich anfing, mit dem Schießgewehr zu
spielen, ist abgewendet; nun mag es zusehen, wie es sich allein mit Anstand aus
der Affäre zieht, die ihm wenig Ruhm, keinerlei wirtschaftliche Vorteile, wohl aber
riesige Kosten, unfruchtbare Mühen und als erstes und sicheres Ergebnis einen
Boykott des italienischen Handels in der Levante in Aussicht stellt. Die Türkei
ist politisch und wirtschaftlich in einer augenscheinlich besseren Situation als der
Angreifer. Wenn sie, wie es immer mehr den Anschein hat, Tripolis einfach sich
selbst überläßt, kann dieser Krieg im Frieden so lange dauern als Italien es
aushält. Denn dieses hat allein den Schaden zu tragen. Die Türkei auf dem
Balkan angreifen will es nicht und wagt es nicht, sei es auch nur aus Scheu
vor der dann unvermeidlichen Intervention der Mächte. Also wird Handel und
Wandel auf dem Balkan, in Kleinasien und im Ägäischcn Meer durch den Krieg
kaum gestört; nur Italien wird daraus ausgeschaltet und muß zusehen, wie die
Konkurrenz, bereit zum Zugreifen, seinen Platz am Tische einnimmt. Mit diesem
Verlauf der Dinge können die Staaten, welche in erster Linie wirtschaftlich in der
Türkei interessiert sind, durchaus zufrieden sein. Ob Tripolis schließlich italienisch
oder türkisch, ob souverän oder Suzerän ist, wird für absehbare Zeiten vom wirt¬
schaftlichen wie vom politischen Standpunkte aus ziemlich gleichgültig sein. Auch Italien
wird aus diesem durch tausendjährige Mißwirtschaft verödeten Lande keine Korn¬
kammer machen und es auch rein militärisch nicht zu einem solchen Stützpunkt
umgestalten, daß dadurch eine Verschiebung in der Machtverteilung im Mittelmeer
einträte. Solche Aufwendungen zu ertragen, ist der italienische Staatskredit außer¬
stande, wenn nicht von neuem Unordnung in die Finanzen einziehen soll. Die
Einverleibung von Tripolis wird daher an dem wirtschaftlichen und politischen
Status gar nichts ändern. Diese Auffassung der Dinge prägt sich deutlich in der
Haltung der Börsen aus. Denn nachdem der erste Schrecken über den unver¬
muteten Kriegsausbruch überwunden war, ist allenthalben eine auffällige Gleich¬
gültigkeit gegen den weiteren Verlauf des Konfliktes zur Herrschaft gekommen. Ja,
in der Überzeugung, daß eine Fortsetzung des Kampfes eigentlich sinnlos sei,


Reichsspiegel

freier entwickeln, manche unsittliche Ehe würde nicht geschlossen, aber dem Prinzip
der Entwicklung und Erhaltung einer Aristokratie könnte besser gedient werden als
bei der gegenwärtigen Adelspolitik. Würde nicht damit auch ein Reiz gegeben
werden, die Hervoragenden in den alten Familien schlummernden Kräfte besser und
vielseitiger zu entwickeln, als es bisher unter den Beschränkungen möglich ist?
Sollten Goethes Worte


Was du ererbt von deinen Vätern seist,
Erwirb es, um es zu besitze!?,

G. Li.

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Tripolis und die Börsen — Der Krieg und sein Einfluß auf Handel und Industrie —
Die Lage des Geldmarktes — Konjunkturaussichten der Montanindustrie .— Der
deutsche Erdöltrust

Mit bemerkenswerten Gleichmut schauen die Weltbörsen dem Satyrspiel zu,
das sich italienisch-türkischer Krieg betitelt. Die Gefahr, welche aller Welt drohte,
als das italienische entlud terrible plötzlich anfing, mit dem Schießgewehr zu
spielen, ist abgewendet; nun mag es zusehen, wie es sich allein mit Anstand aus
der Affäre zieht, die ihm wenig Ruhm, keinerlei wirtschaftliche Vorteile, wohl aber
riesige Kosten, unfruchtbare Mühen und als erstes und sicheres Ergebnis einen
Boykott des italienischen Handels in der Levante in Aussicht stellt. Die Türkei
ist politisch und wirtschaftlich in einer augenscheinlich besseren Situation als der
Angreifer. Wenn sie, wie es immer mehr den Anschein hat, Tripolis einfach sich
selbst überläßt, kann dieser Krieg im Frieden so lange dauern als Italien es
aushält. Denn dieses hat allein den Schaden zu tragen. Die Türkei auf dem
Balkan angreifen will es nicht und wagt es nicht, sei es auch nur aus Scheu
vor der dann unvermeidlichen Intervention der Mächte. Also wird Handel und
Wandel auf dem Balkan, in Kleinasien und im Ägäischcn Meer durch den Krieg
kaum gestört; nur Italien wird daraus ausgeschaltet und muß zusehen, wie die
Konkurrenz, bereit zum Zugreifen, seinen Platz am Tische einnimmt. Mit diesem
Verlauf der Dinge können die Staaten, welche in erster Linie wirtschaftlich in der
Türkei interessiert sind, durchaus zufrieden sein. Ob Tripolis schließlich italienisch
oder türkisch, ob souverän oder Suzerän ist, wird für absehbare Zeiten vom wirt¬
schaftlichen wie vom politischen Standpunkte aus ziemlich gleichgültig sein. Auch Italien
wird aus diesem durch tausendjährige Mißwirtschaft verödeten Lande keine Korn¬
kammer machen und es auch rein militärisch nicht zu einem solchen Stützpunkt
umgestalten, daß dadurch eine Verschiebung in der Machtverteilung im Mittelmeer
einträte. Solche Aufwendungen zu ertragen, ist der italienische Staatskredit außer¬
stande, wenn nicht von neuem Unordnung in die Finanzen einziehen soll. Die
Einverleibung von Tripolis wird daher an dem wirtschaftlichen und politischen
Status gar nichts ändern. Diese Auffassung der Dinge prägt sich deutlich in der
Haltung der Börsen aus. Denn nachdem der erste Schrecken über den unver¬
muteten Kriegsausbruch überwunden war, ist allenthalben eine auffällige Gleich¬
gültigkeit gegen den weiteren Verlauf des Konfliktes zur Herrschaft gekommen. Ja,
in der Überzeugung, daß eine Fortsetzung des Kampfes eigentlich sinnlos sei,


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[0160] Reichsspiegel freier entwickeln, manche unsittliche Ehe würde nicht geschlossen, aber dem Prinzip der Entwicklung und Erhaltung einer Aristokratie könnte besser gedient werden als bei der gegenwärtigen Adelspolitik. Würde nicht damit auch ein Reiz gegeben werden, die Hervoragenden in den alten Familien schlummernden Kräfte besser und vielseitiger zu entwickeln, als es bisher unter den Beschränkungen möglich ist? Sollten Goethes Worte Was du ererbt von deinen Vätern seist, Erwirb es, um es zu besitze!?, G. Li. nicht mit neuem Inhalt für den Adel zu füllen sein? Bank und Geld Tripolis und die Börsen — Der Krieg und sein Einfluß auf Handel und Industrie — Die Lage des Geldmarktes — Konjunkturaussichten der Montanindustrie .— Der deutsche Erdöltrust Mit bemerkenswerten Gleichmut schauen die Weltbörsen dem Satyrspiel zu, das sich italienisch-türkischer Krieg betitelt. Die Gefahr, welche aller Welt drohte, als das italienische entlud terrible plötzlich anfing, mit dem Schießgewehr zu spielen, ist abgewendet; nun mag es zusehen, wie es sich allein mit Anstand aus der Affäre zieht, die ihm wenig Ruhm, keinerlei wirtschaftliche Vorteile, wohl aber riesige Kosten, unfruchtbare Mühen und als erstes und sicheres Ergebnis einen Boykott des italienischen Handels in der Levante in Aussicht stellt. Die Türkei ist politisch und wirtschaftlich in einer augenscheinlich besseren Situation als der Angreifer. Wenn sie, wie es immer mehr den Anschein hat, Tripolis einfach sich selbst überläßt, kann dieser Krieg im Frieden so lange dauern als Italien es aushält. Denn dieses hat allein den Schaden zu tragen. Die Türkei auf dem Balkan angreifen will es nicht und wagt es nicht, sei es auch nur aus Scheu vor der dann unvermeidlichen Intervention der Mächte. Also wird Handel und Wandel auf dem Balkan, in Kleinasien und im Ägäischcn Meer durch den Krieg kaum gestört; nur Italien wird daraus ausgeschaltet und muß zusehen, wie die Konkurrenz, bereit zum Zugreifen, seinen Platz am Tische einnimmt. Mit diesem Verlauf der Dinge können die Staaten, welche in erster Linie wirtschaftlich in der Türkei interessiert sind, durchaus zufrieden sein. Ob Tripolis schließlich italienisch oder türkisch, ob souverän oder Suzerän ist, wird für absehbare Zeiten vom wirt¬ schaftlichen wie vom politischen Standpunkte aus ziemlich gleichgültig sein. Auch Italien wird aus diesem durch tausendjährige Mißwirtschaft verödeten Lande keine Korn¬ kammer machen und es auch rein militärisch nicht zu einem solchen Stützpunkt umgestalten, daß dadurch eine Verschiebung in der Machtverteilung im Mittelmeer einträte. Solche Aufwendungen zu ertragen, ist der italienische Staatskredit außer¬ stande, wenn nicht von neuem Unordnung in die Finanzen einziehen soll. Die Einverleibung von Tripolis wird daher an dem wirtschaftlichen und politischen Status gar nichts ändern. Diese Auffassung der Dinge prägt sich deutlich in der Haltung der Börsen aus. Denn nachdem der erste Schrecken über den unver¬ muteten Kriegsausbruch überwunden war, ist allenthalben eine auffällige Gleich¬ gültigkeit gegen den weiteren Verlauf des Konfliktes zur Herrschaft gekommen. Ja, in der Überzeugung, daß eine Fortsetzung des Kampfes eigentlich sinnlos sei,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/160>, abgerufen am 23.07.2024.