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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Reichsspiegel

Glaubens, und für die politische Betätigung der marokkanischen, tunesischen,
tripManischen, ägyptischen, arabischen, europäischen, persischen, indischen, russischen
und chinesischen Mohammedaner spielen Beweggründe die treibende Kraft, die,
wenn auch häufig mit religiösen Fragen bemäntelt, doch mit der Religion nichts
zu tun haben. Bei den arabischen Stämmen wird man als wichtigstes Motiv
für ihr Verhalten Freiheitsdrang, bei den mongolischen Mohammedanern Gewinn¬
sucht annehmen dürfen. Dementsprechend sind diese friedliebender und staat¬
licher Organisation zugänglicher als jene, -- dementsprechend kämpfen die Araber
nicht nur gegen die "Ungläubigen", sondern mit dem gleichen Fanatismus auch
gegen den eigenen Sultan und gegen die türkische Regierungsgewalt! Einen
neuen Beweis für die Richtigkeit meiner Auffassung bietet das Sonntag bekannt
gewordene Rundschreiben der Pforte an die Mächte wegen Übernahme der
Friedensvermittlung.

Ich glaube, daß es falsch wäre, wenn unsere Diplomatie allein auf die
derzeitige Beliebtheit der Deutschen bei den Türken oder Arabern hin
die Richtung der Reichspolitik einstellen wollte. Diese Beliebtheit ist durchaus
negativer Art; sie beruht einstweilen nur auf der Tatsache, daß bisher Eng¬
länder, Franzosen, Spanier und Italiener die Herrschaft über jene ausgeübt
haben, während die Deutschen ausschließlich als Kaufleute auftraten und dem¬
gemäß nicht als Autoritäten sondern als Förderer aller der Neigungen, die
den- Absatz ihrer Waren erhöhen mußten. Bei der Korrektheit und Moralität
und damit Schwerfälligkeit unserer Verwaltungsprinzipien würden wir wahr¬
scheinlich viel schneller und gründlicher den Haß der Marokkaner erregt haben,
als es die Franzosen vermochten, die selbstverständlich bei den Freiheit liebenden
Araberstämmen gegenwärtig im Mittelpunkt der Feindschaft stehen. Aber damit
ist für die Weltpolitik wenig anzufangen. Es kommt für die Politik weniger
auf die Unzufriedenheit an sich an, als darauf, ob diese Unzufriedenheit für einen
bestimmten Zweck organisiert und in den Dienst einer bestimmten Politik gestellt
werden kann. In dieser Beziehung aber hat der sogenannte Fanatismus des
Islam vollständig versagt. Er hat nur in früheren Jahrhunderten organisatorische,
staatenbildende Kraft gezeigt, hat aber seit hundert Jahren in keiner Phase der
Unterwerfung Asiens oder Afrikas durch die europäischen Staaten sich befähigt
erwiesen, dem Ansturm von Norden Ansätze neuer Kulturkräfte entgegenzusetzen.
Die Deutschen haben, seit sie sich zum Deutschen Reiche zusammengeschlossen,
zwei Versuche gemacht, den staatlichen Rückgang des Islam aufzuhalten: in
Marokko und in der Türkei. Alle auf dies Fundament gestellten Verträge und
sonstige Unternehmungen sind in Marokko endgiltig, in der Türkei vorläufig
gescheitert; immerhin steht die unwiderrufliche Entscheidung in der Türkei noch
aus, aber nicht Deutschland, sondern die Türkei selbst muß zunächst beweisen,
ob sie noch genügend moralische Werte in sich hat, um diese vielleicht schwerste
Prüfung noch bestehen zu können.

In der alldeutschen Presse wird nun an die deutsche Regierung die Forderung
gerichtet, sie solle Italien den Laufpaß geben und sich offen auf die Seite


Reichsspiegel

Glaubens, und für die politische Betätigung der marokkanischen, tunesischen,
tripManischen, ägyptischen, arabischen, europäischen, persischen, indischen, russischen
und chinesischen Mohammedaner spielen Beweggründe die treibende Kraft, die,
wenn auch häufig mit religiösen Fragen bemäntelt, doch mit der Religion nichts
zu tun haben. Bei den arabischen Stämmen wird man als wichtigstes Motiv
für ihr Verhalten Freiheitsdrang, bei den mongolischen Mohammedanern Gewinn¬
sucht annehmen dürfen. Dementsprechend sind diese friedliebender und staat¬
licher Organisation zugänglicher als jene, — dementsprechend kämpfen die Araber
nicht nur gegen die „Ungläubigen", sondern mit dem gleichen Fanatismus auch
gegen den eigenen Sultan und gegen die türkische Regierungsgewalt! Einen
neuen Beweis für die Richtigkeit meiner Auffassung bietet das Sonntag bekannt
gewordene Rundschreiben der Pforte an die Mächte wegen Übernahme der
Friedensvermittlung.

Ich glaube, daß es falsch wäre, wenn unsere Diplomatie allein auf die
derzeitige Beliebtheit der Deutschen bei den Türken oder Arabern hin
die Richtung der Reichspolitik einstellen wollte. Diese Beliebtheit ist durchaus
negativer Art; sie beruht einstweilen nur auf der Tatsache, daß bisher Eng¬
länder, Franzosen, Spanier und Italiener die Herrschaft über jene ausgeübt
haben, während die Deutschen ausschließlich als Kaufleute auftraten und dem¬
gemäß nicht als Autoritäten sondern als Förderer aller der Neigungen, die
den- Absatz ihrer Waren erhöhen mußten. Bei der Korrektheit und Moralität
und damit Schwerfälligkeit unserer Verwaltungsprinzipien würden wir wahr¬
scheinlich viel schneller und gründlicher den Haß der Marokkaner erregt haben,
als es die Franzosen vermochten, die selbstverständlich bei den Freiheit liebenden
Araberstämmen gegenwärtig im Mittelpunkt der Feindschaft stehen. Aber damit
ist für die Weltpolitik wenig anzufangen. Es kommt für die Politik weniger
auf die Unzufriedenheit an sich an, als darauf, ob diese Unzufriedenheit für einen
bestimmten Zweck organisiert und in den Dienst einer bestimmten Politik gestellt
werden kann. In dieser Beziehung aber hat der sogenannte Fanatismus des
Islam vollständig versagt. Er hat nur in früheren Jahrhunderten organisatorische,
staatenbildende Kraft gezeigt, hat aber seit hundert Jahren in keiner Phase der
Unterwerfung Asiens oder Afrikas durch die europäischen Staaten sich befähigt
erwiesen, dem Ansturm von Norden Ansätze neuer Kulturkräfte entgegenzusetzen.
Die Deutschen haben, seit sie sich zum Deutschen Reiche zusammengeschlossen,
zwei Versuche gemacht, den staatlichen Rückgang des Islam aufzuhalten: in
Marokko und in der Türkei. Alle auf dies Fundament gestellten Verträge und
sonstige Unternehmungen sind in Marokko endgiltig, in der Türkei vorläufig
gescheitert; immerhin steht die unwiderrufliche Entscheidung in der Türkei noch
aus, aber nicht Deutschland, sondern die Türkei selbst muß zunächst beweisen,
ob sie noch genügend moralische Werte in sich hat, um diese vielleicht schwerste
Prüfung noch bestehen zu können.

In der alldeutschen Presse wird nun an die deutsche Regierung die Forderung
gerichtet, sie solle Italien den Laufpaß geben und sich offen auf die Seite


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[0106] Reichsspiegel Glaubens, und für die politische Betätigung der marokkanischen, tunesischen, tripManischen, ägyptischen, arabischen, europäischen, persischen, indischen, russischen und chinesischen Mohammedaner spielen Beweggründe die treibende Kraft, die, wenn auch häufig mit religiösen Fragen bemäntelt, doch mit der Religion nichts zu tun haben. Bei den arabischen Stämmen wird man als wichtigstes Motiv für ihr Verhalten Freiheitsdrang, bei den mongolischen Mohammedanern Gewinn¬ sucht annehmen dürfen. Dementsprechend sind diese friedliebender und staat¬ licher Organisation zugänglicher als jene, — dementsprechend kämpfen die Araber nicht nur gegen die „Ungläubigen", sondern mit dem gleichen Fanatismus auch gegen den eigenen Sultan und gegen die türkische Regierungsgewalt! Einen neuen Beweis für die Richtigkeit meiner Auffassung bietet das Sonntag bekannt gewordene Rundschreiben der Pforte an die Mächte wegen Übernahme der Friedensvermittlung. Ich glaube, daß es falsch wäre, wenn unsere Diplomatie allein auf die derzeitige Beliebtheit der Deutschen bei den Türken oder Arabern hin die Richtung der Reichspolitik einstellen wollte. Diese Beliebtheit ist durchaus negativer Art; sie beruht einstweilen nur auf der Tatsache, daß bisher Eng¬ länder, Franzosen, Spanier und Italiener die Herrschaft über jene ausgeübt haben, während die Deutschen ausschließlich als Kaufleute auftraten und dem¬ gemäß nicht als Autoritäten sondern als Förderer aller der Neigungen, die den- Absatz ihrer Waren erhöhen mußten. Bei der Korrektheit und Moralität und damit Schwerfälligkeit unserer Verwaltungsprinzipien würden wir wahr¬ scheinlich viel schneller und gründlicher den Haß der Marokkaner erregt haben, als es die Franzosen vermochten, die selbstverständlich bei den Freiheit liebenden Araberstämmen gegenwärtig im Mittelpunkt der Feindschaft stehen. Aber damit ist für die Weltpolitik wenig anzufangen. Es kommt für die Politik weniger auf die Unzufriedenheit an sich an, als darauf, ob diese Unzufriedenheit für einen bestimmten Zweck organisiert und in den Dienst einer bestimmten Politik gestellt werden kann. In dieser Beziehung aber hat der sogenannte Fanatismus des Islam vollständig versagt. Er hat nur in früheren Jahrhunderten organisatorische, staatenbildende Kraft gezeigt, hat aber seit hundert Jahren in keiner Phase der Unterwerfung Asiens oder Afrikas durch die europäischen Staaten sich befähigt erwiesen, dem Ansturm von Norden Ansätze neuer Kulturkräfte entgegenzusetzen. Die Deutschen haben, seit sie sich zum Deutschen Reiche zusammengeschlossen, zwei Versuche gemacht, den staatlichen Rückgang des Islam aufzuhalten: in Marokko und in der Türkei. Alle auf dies Fundament gestellten Verträge und sonstige Unternehmungen sind in Marokko endgiltig, in der Türkei vorläufig gescheitert; immerhin steht die unwiderrufliche Entscheidung in der Türkei noch aus, aber nicht Deutschland, sondern die Türkei selbst muß zunächst beweisen, ob sie noch genügend moralische Werte in sich hat, um diese vielleicht schwerste Prüfung noch bestehen zu können. In der alldeutschen Presse wird nun an die deutsche Regierung die Forderung gerichtet, sie solle Italien den Laufpaß geben und sich offen auf die Seite

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/106>, abgerufen am 23.07.2024.