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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

Dennoch erwächst das alles nur aus der
folgerichtigen Entwicklung von Nietzsches Ge¬
dankenwelt. Schon in Leipzig war das starke
Band des engsten Freundeskreises Schopen¬
hauers Philosophie gewesen. Dieses Band hält
die nächsten Freunde auch nach der Geburt
der Tragödie zusammen. Aus demSchopen-
hauerschen Gedankenkreise her tritt Nietzsche
aber in Basel in den benachbarten und geistes¬
verwandten Wagners.

Von nun an ist es dieser Boden Philo¬
sophisch-ästhetischer Gedankengänge, auf dem
Nietzsche mit Enthusiasmus Freunde sucht und
findet.

Auch diese Periode hat aber keine Dauer.
Seine Entwicklung treibt ihn auch über Wagner
hinaus, er muß sich auch aus diesem Kreise
loslösen. Mit welchem Schmerze er es getan
hat, ist bekannt, davon zeugt er selber in
seinen Briefen vielfach (vgl. z. B. Ur. 80 u. 84
unserer Ausgabe).

Dazu kommt, daß es nicht nur die Richtung
seiner Gedankengänge ist, die Nietzsche, den
Menschen, dem alles daran lag, Gleichgestimmte,
Gleichgesinnte, für seine Schriften zustimmen¬
den Widerhall und Beifall zu finden, zum
Einsamen macht; sein körperliches Leiden greift
immer mehr mir sich, verbannt ihn immer
häufiger aus der Mitte der Gesunden, der
Lebenden, und verdammt ihn zur Zurück-
gezogenheit oder zum Wandern, zum unsteten
Ziehen von Ort zu Ort, um das Klima zu
suchen, daß dein Leidenden ruhige Tage und
Rächte verspricht.

So klingen die Briefe ans der letzten Pe¬
riode, der italienischen Wanderzeit Nietzsches,
Wider von .Magen über seine Einsamkeit, her¬
vorgerufen durch diese zwei Ursachen: Krank¬
heit und Abfall der nicht mehr verstehenden
Freunde.

Ich glaube, man hat die Wirkung dieser
erzwungenen Einsamkeit auf die Entwicklung
der individualistischen Gedankengänge Nietzsches
bisher noch zu wenig beachtet und noch nicht
genügend hoch gewertet.

Gerade die individualistische Gedankenwelt
Zarathustras bildet die letzte, tröstende und stär¬
kende Zuflucht für den vereinsamten Nietzsche,
dessen ganze Seele dennoch auch jetzt noch
immer sucht und klagt nach zustimmenden
Freunden, der seine einsame Größe, von der


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r selbst sich mit Gewalt überzeugt, auch aus
em Munde der Vielen anerkannt hören möchte.
Man denke an seine Frende über die Vorträge
von G. Brandes in Kopenhagen (vgl. Ur. 147,
49, 160 der Auswahl).

Von diesem Gesichtspunkte ans betrachtet,
rscheint Nietzsches extremer Individualismus
als die letzte Waffe des vereinsamten Zarcr-
hustra gegen die Verständnislosigkeit der Viel-
uvielen, den Abfall der Freunde; denn er
ührt zum Stolz, und er führt zur Verachtung.

Und dennoch klingen aus den Briefen dieser
etzten Zeit für den aufmerksamen Leser leise,
aber deutlich vernehmbar schon die ersten
grollenden Töne des nahenden Endes heraus,
der Geisteskrankheit, welche Nietzsches Indi¬
vidualismus in seinem Schoße trug. Man
darf die Psychischen Einflüsse und Erregungen,
die für Nietzsche mit seiner Vereinsamung zu¬
ammenhängen, in seiner Krankheitsgeschichte
nicht zu niedrig einschätzen. Man hat viel¬
eicht bisher die Physiologisch-organische Seite
bei den Forschungen, die sich mit der Patho¬
ogie Nietzsches beschäftigen, zu sehr betont
und einseitig berücksichtigt; ich möchte hier die
Wichtigkeit der psychischen Faktoren daher aus¬
rücklich betonen, sie tragen mit einen großen
Teil der Schuld am schließlichen Zusammen¬
ruch.

Mag es Zufall, mag es Absicht des Heraus¬
ebers gewesen sein: die vorliegende Auswahl
äßt uns die Wirksamkeit gerade dieser Motive
mit außerordentlicher Stärke fühlen, sie zeigt
ns das Zugrundegehen eines großen Menschen
n ihnen und bietet uns daher in engem
Nahmen und in dieser gedrängten Form um
o eindrucksvoller eine Tragödie in ihrenr
anzen Verlaufe dar, nämlich die Tragödie:
Friedrich Nietzsche.

or. w. Warsta

Die Feier, die zu Wilhelm Naabes acht¬
igsten Geburtstage geplant war, verwandelte
ch in eine erhebende Gedächtnisfeier im Braun¬
chweiger Hoftheater, in deren Mittelpunkte eine
ormvollendete ergreifende Rede von Wilhelm
Brandes stand, die Wohl das Beste und Schönste
nthielt, was bisher über den großen Dichter
nd edlen Menschen gesagt und geschrieben
worden ist. Sie wird allen denen, die sie
ehört, unvergeßlich bleiben und wird, denk'

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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Dennoch erwächst das alles nur aus der
folgerichtigen Entwicklung von Nietzsches Ge¬
dankenwelt. Schon in Leipzig war das starke
Band des engsten Freundeskreises Schopen¬
hauers Philosophie gewesen. Dieses Band hält
die nächsten Freunde auch nach der Geburt
der Tragödie zusammen. Aus demSchopen-
hauerschen Gedankenkreise her tritt Nietzsche
aber in Basel in den benachbarten und geistes¬
verwandten Wagners.

Von nun an ist es dieser Boden Philo¬
sophisch-ästhetischer Gedankengänge, auf dem
Nietzsche mit Enthusiasmus Freunde sucht und
findet.

Auch diese Periode hat aber keine Dauer.
Seine Entwicklung treibt ihn auch über Wagner
hinaus, er muß sich auch aus diesem Kreise
loslösen. Mit welchem Schmerze er es getan
hat, ist bekannt, davon zeugt er selber in
seinen Briefen vielfach (vgl. z. B. Ur. 80 u. 84
unserer Ausgabe).

Dazu kommt, daß es nicht nur die Richtung
seiner Gedankengänge ist, die Nietzsche, den
Menschen, dem alles daran lag, Gleichgestimmte,
Gleichgesinnte, für seine Schriften zustimmen¬
den Widerhall und Beifall zu finden, zum
Einsamen macht; sein körperliches Leiden greift
immer mehr mir sich, verbannt ihn immer
häufiger aus der Mitte der Gesunden, der
Lebenden, und verdammt ihn zur Zurück-
gezogenheit oder zum Wandern, zum unsteten
Ziehen von Ort zu Ort, um das Klima zu
suchen, daß dein Leidenden ruhige Tage und
Rächte verspricht.

So klingen die Briefe ans der letzten Pe¬
riode, der italienischen Wanderzeit Nietzsches,
Wider von .Magen über seine Einsamkeit, her¬
vorgerufen durch diese zwei Ursachen: Krank¬
heit und Abfall der nicht mehr verstehenden
Freunde.

Ich glaube, man hat die Wirkung dieser
erzwungenen Einsamkeit auf die Entwicklung
der individualistischen Gedankengänge Nietzsches
bisher noch zu wenig beachtet und noch nicht
genügend hoch gewertet.

Gerade die individualistische Gedankenwelt
Zarathustras bildet die letzte, tröstende und stär¬
kende Zuflucht für den vereinsamten Nietzsche,
dessen ganze Seele dennoch auch jetzt noch
immer sucht und klagt nach zustimmenden
Freunden, der seine einsame Größe, von der


[Spaltenumbruch]

r selbst sich mit Gewalt überzeugt, auch aus
em Munde der Vielen anerkannt hören möchte.
Man denke an seine Frende über die Vorträge
von G. Brandes in Kopenhagen (vgl. Ur. 147,
49, 160 der Auswahl).

Von diesem Gesichtspunkte ans betrachtet,
rscheint Nietzsches extremer Individualismus
als die letzte Waffe des vereinsamten Zarcr-
hustra gegen die Verständnislosigkeit der Viel-
uvielen, den Abfall der Freunde; denn er
ührt zum Stolz, und er führt zur Verachtung.

Und dennoch klingen aus den Briefen dieser
etzten Zeit für den aufmerksamen Leser leise,
aber deutlich vernehmbar schon die ersten
grollenden Töne des nahenden Endes heraus,
der Geisteskrankheit, welche Nietzsches Indi¬
vidualismus in seinem Schoße trug. Man
darf die Psychischen Einflüsse und Erregungen,
die für Nietzsche mit seiner Vereinsamung zu¬
ammenhängen, in seiner Krankheitsgeschichte
nicht zu niedrig einschätzen. Man hat viel¬
eicht bisher die Physiologisch-organische Seite
bei den Forschungen, die sich mit der Patho¬
ogie Nietzsches beschäftigen, zu sehr betont
und einseitig berücksichtigt; ich möchte hier die
Wichtigkeit der psychischen Faktoren daher aus¬
rücklich betonen, sie tragen mit einen großen
Teil der Schuld am schließlichen Zusammen¬
ruch.

Mag es Zufall, mag es Absicht des Heraus¬
ebers gewesen sein: die vorliegende Auswahl
äßt uns die Wirksamkeit gerade dieser Motive
mit außerordentlicher Stärke fühlen, sie zeigt
ns das Zugrundegehen eines großen Menschen
n ihnen und bietet uns daher in engem
Nahmen und in dieser gedrängten Form um
o eindrucksvoller eine Tragödie in ihrenr
anzen Verlaufe dar, nämlich die Tragödie:
Friedrich Nietzsche.

or. w. Warsta

Die Feier, die zu Wilhelm Naabes acht¬
igsten Geburtstage geplant war, verwandelte
ch in eine erhebende Gedächtnisfeier im Braun¬
chweiger Hoftheater, in deren Mittelpunkte eine
ormvollendete ergreifende Rede von Wilhelm
Brandes stand, die Wohl das Beste und Schönste
nthielt, was bisher über den großen Dichter
nd edlen Menschen gesagt und geschrieben
worden ist. Sie wird allen denen, die sie
ehört, unvergeßlich bleiben und wird, denk'

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[0100] Maßgebliches und Unmaßgebliches Dennoch erwächst das alles nur aus der folgerichtigen Entwicklung von Nietzsches Ge¬ dankenwelt. Schon in Leipzig war das starke Band des engsten Freundeskreises Schopen¬ hauers Philosophie gewesen. Dieses Band hält die nächsten Freunde auch nach der Geburt der Tragödie zusammen. Aus demSchopen- hauerschen Gedankenkreise her tritt Nietzsche aber in Basel in den benachbarten und geistes¬ verwandten Wagners. Von nun an ist es dieser Boden Philo¬ sophisch-ästhetischer Gedankengänge, auf dem Nietzsche mit Enthusiasmus Freunde sucht und findet. Auch diese Periode hat aber keine Dauer. Seine Entwicklung treibt ihn auch über Wagner hinaus, er muß sich auch aus diesem Kreise loslösen. Mit welchem Schmerze er es getan hat, ist bekannt, davon zeugt er selber in seinen Briefen vielfach (vgl. z. B. Ur. 80 u. 84 unserer Ausgabe). Dazu kommt, daß es nicht nur die Richtung seiner Gedankengänge ist, die Nietzsche, den Menschen, dem alles daran lag, Gleichgestimmte, Gleichgesinnte, für seine Schriften zustimmen¬ den Widerhall und Beifall zu finden, zum Einsamen macht; sein körperliches Leiden greift immer mehr mir sich, verbannt ihn immer häufiger aus der Mitte der Gesunden, der Lebenden, und verdammt ihn zur Zurück- gezogenheit oder zum Wandern, zum unsteten Ziehen von Ort zu Ort, um das Klima zu suchen, daß dein Leidenden ruhige Tage und Rächte verspricht. So klingen die Briefe ans der letzten Pe¬ riode, der italienischen Wanderzeit Nietzsches, Wider von .Magen über seine Einsamkeit, her¬ vorgerufen durch diese zwei Ursachen: Krank¬ heit und Abfall der nicht mehr verstehenden Freunde. Ich glaube, man hat die Wirkung dieser erzwungenen Einsamkeit auf die Entwicklung der individualistischen Gedankengänge Nietzsches bisher noch zu wenig beachtet und noch nicht genügend hoch gewertet. Gerade die individualistische Gedankenwelt Zarathustras bildet die letzte, tröstende und stär¬ kende Zuflucht für den vereinsamten Nietzsche, dessen ganze Seele dennoch auch jetzt noch immer sucht und klagt nach zustimmenden Freunden, der seine einsame Größe, von der r selbst sich mit Gewalt überzeugt, auch aus em Munde der Vielen anerkannt hören möchte. Man denke an seine Frende über die Vorträge von G. Brandes in Kopenhagen (vgl. Ur. 147, 49, 160 der Auswahl). Von diesem Gesichtspunkte ans betrachtet, rscheint Nietzsches extremer Individualismus als die letzte Waffe des vereinsamten Zarcr- hustra gegen die Verständnislosigkeit der Viel- uvielen, den Abfall der Freunde; denn er ührt zum Stolz, und er führt zur Verachtung. Und dennoch klingen aus den Briefen dieser etzten Zeit für den aufmerksamen Leser leise, aber deutlich vernehmbar schon die ersten grollenden Töne des nahenden Endes heraus, der Geisteskrankheit, welche Nietzsches Indi¬ vidualismus in seinem Schoße trug. Man darf die Psychischen Einflüsse und Erregungen, die für Nietzsche mit seiner Vereinsamung zu¬ ammenhängen, in seiner Krankheitsgeschichte nicht zu niedrig einschätzen. Man hat viel¬ eicht bisher die Physiologisch-organische Seite bei den Forschungen, die sich mit der Patho¬ ogie Nietzsches beschäftigen, zu sehr betont und einseitig berücksichtigt; ich möchte hier die Wichtigkeit der psychischen Faktoren daher aus¬ rücklich betonen, sie tragen mit einen großen Teil der Schuld am schließlichen Zusammen¬ ruch. Mag es Zufall, mag es Absicht des Heraus¬ ebers gewesen sein: die vorliegende Auswahl äßt uns die Wirksamkeit gerade dieser Motive mit außerordentlicher Stärke fühlen, sie zeigt ns das Zugrundegehen eines großen Menschen n ihnen und bietet uns daher in engem Nahmen und in dieser gedrängten Form um o eindrucksvoller eine Tragödie in ihrenr anzen Verlaufe dar, nämlich die Tragödie: Friedrich Nietzsche. or. w. Warsta Die Feier, die zu Wilhelm Naabes acht¬ igsten Geburtstage geplant war, verwandelte ch in eine erhebende Gedächtnisfeier im Braun¬ chweiger Hoftheater, in deren Mittelpunkte eine ormvollendete ergreifende Rede von Wilhelm Brandes stand, die Wohl das Beste und Schönste nthielt, was bisher über den großen Dichter nd edlen Menschen gesagt und geschrieben worden ist. Sie wird allen denen, die sie ehört, unvergeßlich bleiben und wird, denk'

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/100>, abgerufen am 23.07.2024.