Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite


Reichsspiegel
Innere Politik

Beginn des Wahlkampfs -- Die deutsche Sozialdemokratie -- Ihre Beziehungen zur
russisch-jüdischen Revolution -- Entschluß der Nationalliberalen in Düsseldorf --
Schlußsitzungen des "sterbenden" Reichstags -- Aufgaben der Herbsttagung -- Der
Wechsel in Posen -- Herr v. Waldow -- Exzellenz Schwartzkopff

Mit Ausgabe der Parole auf dem sozialdemokratischen Parteitage zu Jena
hat wie erwartet der Wahlkampf begonnen, aus dem der kommende Reichstag
erstehen soll. Die Presseerörterungen über Bebels Sirenensänge haben gezeigt,
daß man auch im linksliberalen Lager deren Wert richtig erkannt hat. Das amt¬
liche Organ der Fortschrittlichen Volkspartei hat es unverhohlen ausgesprochen, daß
es der Sozialdemokratie noch immer durchaus mißtraue. Und das ist gut. Die
Sozialdemokratie hat sich noch nicht soweit gemausert, daß man sie eine Reichs¬
partei oder nationale Volkspartei nennen könnte, die die Wahrnehmung der reichs-
deutschen Interessen auch als ihre Aufgabe auf internationalem Gebiet betrachtet.
Noch haftet ihrem politischen Streben zu viel märzliches an, das den Interessen
des Reichs direkt zuwiderläuft. Wenn wir auch nicht zu denen gehören, die da
annehmen, die deutsche Sozialdemokratie würde bei Ausbruch eines Krieges
das Land revolutionieren können oder auch nur wollen, so lehrt der Augenschein
doch, daß sie in Friedenszeiten noch nicht das richtige Augenmaß für die wahren
Interessen des Reichs gefunden hat. Hier und da dämmert es zwar in ihren
Reihen, aber auf solche sporadisch auftretenden Erscheinungen darf sich eine Re¬
gierung in ihrer Politik nicht stützen. Vertrauen kann die Partei sich erst durch
längere positive Mitarbeit im Parlament erwerben. Je mehr und je gründlicher
sie daran Anteil nimmt, um so eher wird sie auch auf den Weg gelangen, von
dem aus sich allein Verständnis für die historischen Grundlagen des Reichs und
damit Preußens gewinnen läßt. Das kann aber noch Jahre währen, weil sich
die Tradition eines halben Jahrhunderts nicht mit der Rede eines Führers aus
dem Herzen vieler Tausender auslöschen läßt. Das muß von den bürgerlichen
Parteien beachtet werden. Eine Partei, die dem Reich nicht die Mittel gewährt,
um die militärische und maritime Rüstung instant halten zu können, verkennt die
historische Mission Deutschlands und darf infolgedessen nicht zur herrschenden
Partei im Reichstage gemacht werden. Sollte aber die Sozialdemokratie einmal
zur Erkenntnis der Notwendigkeit unserer Rüstungen kommen, dann wäre auch




Reichsspiegel
Innere Politik

Beginn des Wahlkampfs — Die deutsche Sozialdemokratie — Ihre Beziehungen zur
russisch-jüdischen Revolution — Entschluß der Nationalliberalen in Düsseldorf —
Schlußsitzungen des „sterbenden" Reichstags — Aufgaben der Herbsttagung — Der
Wechsel in Posen — Herr v. Waldow — Exzellenz Schwartzkopff

Mit Ausgabe der Parole auf dem sozialdemokratischen Parteitage zu Jena
hat wie erwartet der Wahlkampf begonnen, aus dem der kommende Reichstag
erstehen soll. Die Presseerörterungen über Bebels Sirenensänge haben gezeigt,
daß man auch im linksliberalen Lager deren Wert richtig erkannt hat. Das amt¬
liche Organ der Fortschrittlichen Volkspartei hat es unverhohlen ausgesprochen, daß
es der Sozialdemokratie noch immer durchaus mißtraue. Und das ist gut. Die
Sozialdemokratie hat sich noch nicht soweit gemausert, daß man sie eine Reichs¬
partei oder nationale Volkspartei nennen könnte, die die Wahrnehmung der reichs-
deutschen Interessen auch als ihre Aufgabe auf internationalem Gebiet betrachtet.
Noch haftet ihrem politischen Streben zu viel märzliches an, das den Interessen
des Reichs direkt zuwiderläuft. Wenn wir auch nicht zu denen gehören, die da
annehmen, die deutsche Sozialdemokratie würde bei Ausbruch eines Krieges
das Land revolutionieren können oder auch nur wollen, so lehrt der Augenschein
doch, daß sie in Friedenszeiten noch nicht das richtige Augenmaß für die wahren
Interessen des Reichs gefunden hat. Hier und da dämmert es zwar in ihren
Reihen, aber auf solche sporadisch auftretenden Erscheinungen darf sich eine Re¬
gierung in ihrer Politik nicht stützen. Vertrauen kann die Partei sich erst durch
längere positive Mitarbeit im Parlament erwerben. Je mehr und je gründlicher
sie daran Anteil nimmt, um so eher wird sie auch auf den Weg gelangen, von
dem aus sich allein Verständnis für die historischen Grundlagen des Reichs und
damit Preußens gewinnen läßt. Das kann aber noch Jahre währen, weil sich
die Tradition eines halben Jahrhunderts nicht mit der Rede eines Führers aus
dem Herzen vieler Tausender auslöschen läßt. Das muß von den bürgerlichen
Parteien beachtet werden. Eine Partei, die dem Reich nicht die Mittel gewährt,
um die militärische und maritime Rüstung instant halten zu können, verkennt die
historische Mission Deutschlands und darf infolgedessen nicht zur herrschenden
Partei im Reichstage gemacht werden. Sollte aber die Sozialdemokratie einmal
zur Erkenntnis der Notwendigkeit unserer Rüstungen kommen, dann wäre auch


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0640" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/319587"/>
            <figure facs="http://media.dwds.de/dta/images/grenzboten_341893_318948/figures/grenzboten_341893_318948_319587_000.jpg"/><lb/>
          </div>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Reichsspiegel<lb/></head><lb/>
          <div n="2">
            <head> Innere Politik</head><lb/>
            <note type="argument"> Beginn des Wahlkampfs &#x2014; Die deutsche Sozialdemokratie &#x2014; Ihre Beziehungen zur<lb/>
russisch-jüdischen Revolution &#x2014; Entschluß der Nationalliberalen in Düsseldorf &#x2014;<lb/>
Schlußsitzungen des &#x201E;sterbenden" Reichstags &#x2014; Aufgaben der Herbsttagung &#x2014; Der<lb/>
Wechsel in Posen &#x2014; Herr v. Waldow &#x2014; Exzellenz Schwartzkopff</note><lb/>
            <p xml:id="ID_3022" next="#ID_3023"> Mit Ausgabe der Parole auf dem sozialdemokratischen Parteitage zu Jena<lb/>
hat wie erwartet der Wahlkampf begonnen, aus dem der kommende Reichstag<lb/>
erstehen soll. Die Presseerörterungen über Bebels Sirenensänge haben gezeigt,<lb/>
daß man auch im linksliberalen Lager deren Wert richtig erkannt hat. Das amt¬<lb/>
liche Organ der Fortschrittlichen Volkspartei hat es unverhohlen ausgesprochen, daß<lb/>
es der Sozialdemokratie noch immer durchaus mißtraue. Und das ist gut. Die<lb/>
Sozialdemokratie hat sich noch nicht soweit gemausert, daß man sie eine Reichs¬<lb/>
partei oder nationale Volkspartei nennen könnte, die die Wahrnehmung der reichs-<lb/>
deutschen Interessen auch als ihre Aufgabe auf internationalem Gebiet betrachtet.<lb/>
Noch haftet ihrem politischen Streben zu viel märzliches an, das den Interessen<lb/>
des Reichs direkt zuwiderläuft. Wenn wir auch nicht zu denen gehören, die da<lb/>
annehmen, die deutsche Sozialdemokratie würde bei Ausbruch eines Krieges<lb/>
das Land revolutionieren können oder auch nur wollen, so lehrt der Augenschein<lb/>
doch, daß sie in Friedenszeiten noch nicht das richtige Augenmaß für die wahren<lb/>
Interessen des Reichs gefunden hat. Hier und da dämmert es zwar in ihren<lb/>
Reihen, aber auf solche sporadisch auftretenden Erscheinungen darf sich eine Re¬<lb/>
gierung in ihrer Politik nicht stützen. Vertrauen kann die Partei sich erst durch<lb/>
längere positive Mitarbeit im Parlament erwerben. Je mehr und je gründlicher<lb/>
sie daran Anteil nimmt, um so eher wird sie auch auf den Weg gelangen, von<lb/>
dem aus sich allein Verständnis für die historischen Grundlagen des Reichs und<lb/>
damit Preußens gewinnen läßt. Das kann aber noch Jahre währen, weil sich<lb/>
die Tradition eines halben Jahrhunderts nicht mit der Rede eines Führers aus<lb/>
dem Herzen vieler Tausender auslöschen läßt. Das muß von den bürgerlichen<lb/>
Parteien beachtet werden. Eine Partei, die dem Reich nicht die Mittel gewährt,<lb/>
um die militärische und maritime Rüstung instant halten zu können, verkennt die<lb/>
historische Mission Deutschlands und darf infolgedessen nicht zur herrschenden<lb/>
Partei im Reichstage gemacht werden. Sollte aber die Sozialdemokratie einmal<lb/>
zur Erkenntnis der Notwendigkeit unserer Rüstungen kommen, dann wäre auch</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0640] [Abbildung] Reichsspiegel Innere Politik Beginn des Wahlkampfs — Die deutsche Sozialdemokratie — Ihre Beziehungen zur russisch-jüdischen Revolution — Entschluß der Nationalliberalen in Düsseldorf — Schlußsitzungen des „sterbenden" Reichstags — Aufgaben der Herbsttagung — Der Wechsel in Posen — Herr v. Waldow — Exzellenz Schwartzkopff Mit Ausgabe der Parole auf dem sozialdemokratischen Parteitage zu Jena hat wie erwartet der Wahlkampf begonnen, aus dem der kommende Reichstag erstehen soll. Die Presseerörterungen über Bebels Sirenensänge haben gezeigt, daß man auch im linksliberalen Lager deren Wert richtig erkannt hat. Das amt¬ liche Organ der Fortschrittlichen Volkspartei hat es unverhohlen ausgesprochen, daß es der Sozialdemokratie noch immer durchaus mißtraue. Und das ist gut. Die Sozialdemokratie hat sich noch nicht soweit gemausert, daß man sie eine Reichs¬ partei oder nationale Volkspartei nennen könnte, die die Wahrnehmung der reichs- deutschen Interessen auch als ihre Aufgabe auf internationalem Gebiet betrachtet. Noch haftet ihrem politischen Streben zu viel märzliches an, das den Interessen des Reichs direkt zuwiderläuft. Wenn wir auch nicht zu denen gehören, die da annehmen, die deutsche Sozialdemokratie würde bei Ausbruch eines Krieges das Land revolutionieren können oder auch nur wollen, so lehrt der Augenschein doch, daß sie in Friedenszeiten noch nicht das richtige Augenmaß für die wahren Interessen des Reichs gefunden hat. Hier und da dämmert es zwar in ihren Reihen, aber auf solche sporadisch auftretenden Erscheinungen darf sich eine Re¬ gierung in ihrer Politik nicht stützen. Vertrauen kann die Partei sich erst durch längere positive Mitarbeit im Parlament erwerben. Je mehr und je gründlicher sie daran Anteil nimmt, um so eher wird sie auch auf den Weg gelangen, von dem aus sich allein Verständnis für die historischen Grundlagen des Reichs und damit Preußens gewinnen läßt. Das kann aber noch Jahre währen, weil sich die Tradition eines halben Jahrhunderts nicht mit der Rede eines Führers aus dem Herzen vieler Tausender auslöschen läßt. Das muß von den bürgerlichen Parteien beachtet werden. Eine Partei, die dem Reich nicht die Mittel gewährt, um die militärische und maritime Rüstung instant halten zu können, verkennt die historische Mission Deutschlands und darf infolgedessen nicht zur herrschenden Partei im Reichstage gemacht werden. Sollte aber die Sozialdemokratie einmal zur Erkenntnis der Notwendigkeit unserer Rüstungen kommen, dann wäre auch

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948/640
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948/640>, abgerufen am 29.12.2024.