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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.

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Daß die Sozialdemokraten bei ihrer Bereitwilligkeit, mit der ihnen ver¬
haßten Regierung zu paktieren, nicht allein an die Reichslande denken, bedarf
kaum einer Erwähnung. Aber es ist doch interessant zu vernehmen, wie die
Besonnenen unter ihnen den Handel bewerten. In den sozialistischen Monats¬
heften (Ur. 13) verteidigt Albert Südekum die Reichstagsfraktion gegen Rosa
Luxemburg, die kürzlich in der Leipziger Volkszeitung die Fraktion wegen ihres
"unsozialdemokratischen" Verhaltens beschimpft hat. "Nur der Not gehorchend,"
schreibt Südekum, "haben sich Regierung und bürgerliche Parteien zu dem Zu¬
geständnis des gleichen Wahlrechts für Elsaß-Lothringen verstanden. Die
Liberalen möchten es jetzt gern so darstellen, als ob sie dabei die Hauptrolle
gespielt hätten. Um dieser Legende ein für allemall den Garaus zu machen,
sei erwähnt, daß sich die Freisinnigen mit einer Pluralstimine abzufinden bereit
erklärt hatten, und daß es nur der Festigkeit unserer eigenen Vertreter zu
danken ist, daß wir den Triumph des gleichen Wahlrechts feiern dürfen" (S. 817).

"Seit Jahr und Tag Hetzen die preußischen Reaktionäre. .. gegen das
Neichstagswahlrecht; mehr als einmal hat die Regierung, hat gerade der
jetzige Kanzler der Abneigung gegen die demokratische Grundlage unserer
Reichspolitik Ausdruck gegeben; ja, in ihrer ursprünglichen Vorlage über die
Verfassungsänderung Elsaß-Lothringens selbst hatte die Regierung von neuem
ihrer Feindschaft gegen das gleiche Wahlrecht freien Lauf gelassen. Da
war es in monatelanger aufreibender Arbeit unseren Kommissionsvertretern
gelungen, unter kluger Ausnutzung der Gegensätze in den Reihen unserer
politischen Gegner die Regierung in die Zwangslage zu bringen, das gleiche
Wahlrecht zuzugestehen oder ihr Werk scheitern zu sehen. Und da hätten wir kalt¬
blütig und gleichgültig dem fallenden Wahlrecht noch einen Stoß geben sollen?
Das wäre ein Verbrechen am elsaß-lothringischen Volk, ja sogar ein politischer
Fehler gewesen. Die Einführung eines Pluralwahlrechts in Elsaß-Lothringen
hätte dem Versuch der Verschlechterung des bestehenden Reichstagswahlrechts
ebenso die Wege ebnen können, wie die Einführung des gleichen Wahlrechts
uns im preußischen Wahlrechtskampf sicher ein großes Stück vorwärts gebracht
hat. Das ist die Hauptsache. Es ist kein Geheimnis, daß die preußische
Wahlrechtsbeweguug auf einen toten Strang geraten war. Die machtvollen
Demonstrationen der letzten Jahre haben das Interesse an der Reform des
elendesten aller Wahlrechte lebhaft entfacht, aber die starken Widerstände noch
nicht zu brechen vermocht. Es ist sehr zweifelhaft, ob die bloße Wiederholung
solcher Demonstrationen uns in absehbarer Zeit dem Ziel näher gebracht hätte.
Die Lösung der preußischen Frage durch Reform des preußischen Wahlrechts
ist aber heute die Zentralfrage der ganzen deutschen Politik. Solange die
kleine, aber mächtige Partei Preußen regieren kann, wie wenn dieser mächtigste
deutsche Staat ein ostelbischer Gutsbezirk wäre, solange ist ein merklicher
Fortschritt in der Demokratisierung unseres politischen Lebens undenkbar. Will
man seine Zuflucht nicht zu der nach meiner Überzeugung vollkommen cmssichts-


Reichsspiegcl

Daß die Sozialdemokraten bei ihrer Bereitwilligkeit, mit der ihnen ver¬
haßten Regierung zu paktieren, nicht allein an die Reichslande denken, bedarf
kaum einer Erwähnung. Aber es ist doch interessant zu vernehmen, wie die
Besonnenen unter ihnen den Handel bewerten. In den sozialistischen Monats¬
heften (Ur. 13) verteidigt Albert Südekum die Reichstagsfraktion gegen Rosa
Luxemburg, die kürzlich in der Leipziger Volkszeitung die Fraktion wegen ihres
„unsozialdemokratischen" Verhaltens beschimpft hat. „Nur der Not gehorchend,"
schreibt Südekum, „haben sich Regierung und bürgerliche Parteien zu dem Zu¬
geständnis des gleichen Wahlrechts für Elsaß-Lothringen verstanden. Die
Liberalen möchten es jetzt gern so darstellen, als ob sie dabei die Hauptrolle
gespielt hätten. Um dieser Legende ein für allemall den Garaus zu machen,
sei erwähnt, daß sich die Freisinnigen mit einer Pluralstimine abzufinden bereit
erklärt hatten, und daß es nur der Festigkeit unserer eigenen Vertreter zu
danken ist, daß wir den Triumph des gleichen Wahlrechts feiern dürfen" (S. 817).

„Seit Jahr und Tag Hetzen die preußischen Reaktionäre. .. gegen das
Neichstagswahlrecht; mehr als einmal hat die Regierung, hat gerade der
jetzige Kanzler der Abneigung gegen die demokratische Grundlage unserer
Reichspolitik Ausdruck gegeben; ja, in ihrer ursprünglichen Vorlage über die
Verfassungsänderung Elsaß-Lothringens selbst hatte die Regierung von neuem
ihrer Feindschaft gegen das gleiche Wahlrecht freien Lauf gelassen. Da
war es in monatelanger aufreibender Arbeit unseren Kommissionsvertretern
gelungen, unter kluger Ausnutzung der Gegensätze in den Reihen unserer
politischen Gegner die Regierung in die Zwangslage zu bringen, das gleiche
Wahlrecht zuzugestehen oder ihr Werk scheitern zu sehen. Und da hätten wir kalt¬
blütig und gleichgültig dem fallenden Wahlrecht noch einen Stoß geben sollen?
Das wäre ein Verbrechen am elsaß-lothringischen Volk, ja sogar ein politischer
Fehler gewesen. Die Einführung eines Pluralwahlrechts in Elsaß-Lothringen
hätte dem Versuch der Verschlechterung des bestehenden Reichstagswahlrechts
ebenso die Wege ebnen können, wie die Einführung des gleichen Wahlrechts
uns im preußischen Wahlrechtskampf sicher ein großes Stück vorwärts gebracht
hat. Das ist die Hauptsache. Es ist kein Geheimnis, daß die preußische
Wahlrechtsbeweguug auf einen toten Strang geraten war. Die machtvollen
Demonstrationen der letzten Jahre haben das Interesse an der Reform des
elendesten aller Wahlrechte lebhaft entfacht, aber die starken Widerstände noch
nicht zu brechen vermocht. Es ist sehr zweifelhaft, ob die bloße Wiederholung
solcher Demonstrationen uns in absehbarer Zeit dem Ziel näher gebracht hätte.
Die Lösung der preußischen Frage durch Reform des preußischen Wahlrechts
ist aber heute die Zentralfrage der ganzen deutschen Politik. Solange die
kleine, aber mächtige Partei Preußen regieren kann, wie wenn dieser mächtigste
deutsche Staat ein ostelbischer Gutsbezirk wäre, solange ist ein merklicher
Fortschritt in der Demokratisierung unseres politischen Lebens undenkbar. Will
man seine Zuflucht nicht zu der nach meiner Überzeugung vollkommen cmssichts-


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[0055] Reichsspiegcl Daß die Sozialdemokraten bei ihrer Bereitwilligkeit, mit der ihnen ver¬ haßten Regierung zu paktieren, nicht allein an die Reichslande denken, bedarf kaum einer Erwähnung. Aber es ist doch interessant zu vernehmen, wie die Besonnenen unter ihnen den Handel bewerten. In den sozialistischen Monats¬ heften (Ur. 13) verteidigt Albert Südekum die Reichstagsfraktion gegen Rosa Luxemburg, die kürzlich in der Leipziger Volkszeitung die Fraktion wegen ihres „unsozialdemokratischen" Verhaltens beschimpft hat. „Nur der Not gehorchend," schreibt Südekum, „haben sich Regierung und bürgerliche Parteien zu dem Zu¬ geständnis des gleichen Wahlrechts für Elsaß-Lothringen verstanden. Die Liberalen möchten es jetzt gern so darstellen, als ob sie dabei die Hauptrolle gespielt hätten. Um dieser Legende ein für allemall den Garaus zu machen, sei erwähnt, daß sich die Freisinnigen mit einer Pluralstimine abzufinden bereit erklärt hatten, und daß es nur der Festigkeit unserer eigenen Vertreter zu danken ist, daß wir den Triumph des gleichen Wahlrechts feiern dürfen" (S. 817). „Seit Jahr und Tag Hetzen die preußischen Reaktionäre. .. gegen das Neichstagswahlrecht; mehr als einmal hat die Regierung, hat gerade der jetzige Kanzler der Abneigung gegen die demokratische Grundlage unserer Reichspolitik Ausdruck gegeben; ja, in ihrer ursprünglichen Vorlage über die Verfassungsänderung Elsaß-Lothringens selbst hatte die Regierung von neuem ihrer Feindschaft gegen das gleiche Wahlrecht freien Lauf gelassen. Da war es in monatelanger aufreibender Arbeit unseren Kommissionsvertretern gelungen, unter kluger Ausnutzung der Gegensätze in den Reihen unserer politischen Gegner die Regierung in die Zwangslage zu bringen, das gleiche Wahlrecht zuzugestehen oder ihr Werk scheitern zu sehen. Und da hätten wir kalt¬ blütig und gleichgültig dem fallenden Wahlrecht noch einen Stoß geben sollen? Das wäre ein Verbrechen am elsaß-lothringischen Volk, ja sogar ein politischer Fehler gewesen. Die Einführung eines Pluralwahlrechts in Elsaß-Lothringen hätte dem Versuch der Verschlechterung des bestehenden Reichstagswahlrechts ebenso die Wege ebnen können, wie die Einführung des gleichen Wahlrechts uns im preußischen Wahlrechtskampf sicher ein großes Stück vorwärts gebracht hat. Das ist die Hauptsache. Es ist kein Geheimnis, daß die preußische Wahlrechtsbeweguug auf einen toten Strang geraten war. Die machtvollen Demonstrationen der letzten Jahre haben das Interesse an der Reform des elendesten aller Wahlrechte lebhaft entfacht, aber die starken Widerstände noch nicht zu brechen vermocht. Es ist sehr zweifelhaft, ob die bloße Wiederholung solcher Demonstrationen uns in absehbarer Zeit dem Ziel näher gebracht hätte. Die Lösung der preußischen Frage durch Reform des preußischen Wahlrechts ist aber heute die Zentralfrage der ganzen deutschen Politik. Solange die kleine, aber mächtige Partei Preußen regieren kann, wie wenn dieser mächtigste deutsche Staat ein ostelbischer Gutsbezirk wäre, solange ist ein merklicher Fortschritt in der Demokratisierung unseres politischen Lebens undenkbar. Will man seine Zuflucht nicht zu der nach meiner Überzeugung vollkommen cmssichts-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948/55>, abgerufen am 27.12.2024.