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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.

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(Lhristian Dietrich Grabbe
von Fritz Tychow

s ist traurig anzusehen, wie ein außerordentlicher Mensch sich gar
oft mit sich selbst, seinen Umständen, seiner Zeit herumwürgt, ohne
auf einen grünen Zweig zu kommen. Trauriges Beispiel: Bürger.

Diese Worte Goethes könnten ohne jede Veränderung auf
Grabbe angewandt werden und ebenso die kurze Charakteristik
des genialen Lyrikers Günther, die auch aus Goethes Werkstatt stammt: "Er
wußte sich nicht zu zähmen, und so zerrann ihm sein Leben wie sein Dichten."
Grabbe, Bürger, Günther! Noch ein anderer verirrter Deutscher gehört zu
dieser Gruppe problematischer Naturen: der zarte Goetheschatten Lenz, "das
seltsamste und indefinibelste Individuum", wie Goethe ihn nennt. "Neben seinem
Talent, das von einer genialen, aber barocken Ansicht der Welt zeugte, hatte
er ein travel^, das darin bestand, alles, auch das Simpelste, durch Intrige
zu tun, dergestalt, daß er sich die Verhältnisse erst als Mißverhältnisse vor¬
stellte, um sie durch politische Behandlung wieder ins gleiche zu bringen."

Doch paßt von dieser Lenzschen Eigenschaft nur die eine Seite auf Grabbe,
der sich durchaus keine Mühe gab, zerstörte Verhältnisse durch diplomatische
Behandlung wieder ins gleiche zu bringen.

Wie vielen deutschen Jünglingen ist so das Leben in wildem Sturm und
Drang zerflossen! Namen, Gestalten schweben uns vor von Dichtern und
Künstlern, eine unübersehbare Schar; und dazu kommt die lange Liste der
genialen Verkommenen, die nichts hinterlassen haben, kaum ein Verschen, kein
einziges namhaftes Kunstwerk, die schon in der Jugend gestorben, verdorben
sind -- namenlos auf ewig dahin. Aus irren trostlosen Augen schauen uns
wilde, unstete Gesellen ins Gesicht, aber ihr Blick haftet nicht, wirr tastet er
weiter und starrt über uns hinweg in ein Land, das wilde Phantasien ihnen
als das Reich der ungebundenen Geister, als ihre Heimat vorgespiegelt haben.
Aber sie haben das Land der Sehnsucht nicht gefunden. Mit der Welt der
Wirklichkeiten wußten sie nichts anzufangen, und da sie die Welt verkannten,
glaubten sie sich verkannt, und die romantisch-dämmerhafte Auffassung vom




(Lhristian Dietrich Grabbe
von Fritz Tychow

s ist traurig anzusehen, wie ein außerordentlicher Mensch sich gar
oft mit sich selbst, seinen Umständen, seiner Zeit herumwürgt, ohne
auf einen grünen Zweig zu kommen. Trauriges Beispiel: Bürger.

Diese Worte Goethes könnten ohne jede Veränderung auf
Grabbe angewandt werden und ebenso die kurze Charakteristik
des genialen Lyrikers Günther, die auch aus Goethes Werkstatt stammt: „Er
wußte sich nicht zu zähmen, und so zerrann ihm sein Leben wie sein Dichten."
Grabbe, Bürger, Günther! Noch ein anderer verirrter Deutscher gehört zu
dieser Gruppe problematischer Naturen: der zarte Goetheschatten Lenz, „das
seltsamste und indefinibelste Individuum", wie Goethe ihn nennt. „Neben seinem
Talent, das von einer genialen, aber barocken Ansicht der Welt zeugte, hatte
er ein travel^, das darin bestand, alles, auch das Simpelste, durch Intrige
zu tun, dergestalt, daß er sich die Verhältnisse erst als Mißverhältnisse vor¬
stellte, um sie durch politische Behandlung wieder ins gleiche zu bringen."

Doch paßt von dieser Lenzschen Eigenschaft nur die eine Seite auf Grabbe,
der sich durchaus keine Mühe gab, zerstörte Verhältnisse durch diplomatische
Behandlung wieder ins gleiche zu bringen.

Wie vielen deutschen Jünglingen ist so das Leben in wildem Sturm und
Drang zerflossen! Namen, Gestalten schweben uns vor von Dichtern und
Künstlern, eine unübersehbare Schar; und dazu kommt die lange Liste der
genialen Verkommenen, die nichts hinterlassen haben, kaum ein Verschen, kein
einziges namhaftes Kunstwerk, die schon in der Jugend gestorben, verdorben
sind — namenlos auf ewig dahin. Aus irren trostlosen Augen schauen uns
wilde, unstete Gesellen ins Gesicht, aber ihr Blick haftet nicht, wirr tastet er
weiter und starrt über uns hinweg in ein Land, das wilde Phantasien ihnen
als das Reich der ungebundenen Geister, als ihre Heimat vorgespiegelt haben.
Aber sie haben das Land der Sehnsucht nicht gefunden. Mit der Welt der
Wirklichkeiten wußten sie nichts anzufangen, und da sie die Welt verkannten,
glaubten sie sich verkannt, und die romantisch-dämmerhafte Auffassung vom


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[0404] [Abbildung] (Lhristian Dietrich Grabbe von Fritz Tychow s ist traurig anzusehen, wie ein außerordentlicher Mensch sich gar oft mit sich selbst, seinen Umständen, seiner Zeit herumwürgt, ohne auf einen grünen Zweig zu kommen. Trauriges Beispiel: Bürger. Diese Worte Goethes könnten ohne jede Veränderung auf Grabbe angewandt werden und ebenso die kurze Charakteristik des genialen Lyrikers Günther, die auch aus Goethes Werkstatt stammt: „Er wußte sich nicht zu zähmen, und so zerrann ihm sein Leben wie sein Dichten." Grabbe, Bürger, Günther! Noch ein anderer verirrter Deutscher gehört zu dieser Gruppe problematischer Naturen: der zarte Goetheschatten Lenz, „das seltsamste und indefinibelste Individuum", wie Goethe ihn nennt. „Neben seinem Talent, das von einer genialen, aber barocken Ansicht der Welt zeugte, hatte er ein travel^, das darin bestand, alles, auch das Simpelste, durch Intrige zu tun, dergestalt, daß er sich die Verhältnisse erst als Mißverhältnisse vor¬ stellte, um sie durch politische Behandlung wieder ins gleiche zu bringen." Doch paßt von dieser Lenzschen Eigenschaft nur die eine Seite auf Grabbe, der sich durchaus keine Mühe gab, zerstörte Verhältnisse durch diplomatische Behandlung wieder ins gleiche zu bringen. Wie vielen deutschen Jünglingen ist so das Leben in wildem Sturm und Drang zerflossen! Namen, Gestalten schweben uns vor von Dichtern und Künstlern, eine unübersehbare Schar; und dazu kommt die lange Liste der genialen Verkommenen, die nichts hinterlassen haben, kaum ein Verschen, kein einziges namhaftes Kunstwerk, die schon in der Jugend gestorben, verdorben sind — namenlos auf ewig dahin. Aus irren trostlosen Augen schauen uns wilde, unstete Gesellen ins Gesicht, aber ihr Blick haftet nicht, wirr tastet er weiter und starrt über uns hinweg in ein Land, das wilde Phantasien ihnen als das Reich der ungebundenen Geister, als ihre Heimat vorgespiegelt haben. Aber sie haben das Land der Sehnsucht nicht gefunden. Mit der Welt der Wirklichkeiten wußten sie nichts anzufangen, und da sie die Welt verkannten, glaubten sie sich verkannt, und die romantisch-dämmerhafte Auffassung vom

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948/404>, abgerufen am 29.12.2024.