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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.

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Über Wilhelm Gstwalds Unlturphilosophic

Über Wilhelm Gstwalds Rulturphilosophie
von Dr. Wilhelm Martin Lenker Grundlagen

er moderne Individualismus sieht sein Ziel nicht mehr wie der-
I jenige früherer Zeiten in der harmonischen Ausbildung der Persön¬
lichkeit, sondern er läuft, genauer betrachtet, -- wenigstens in vielen
I Fällen -- darauf hinaus, die angeborenen und anerzogenen Ein-
! seitigkeiten des menschlichen Wesens zu betonen und durchsetzen zu
helfen. Diese Einseitigkeiten sind natürlich zum Teil qualitative, indem gewisse
Zweige der menschlichen Naturanlage in besonderer Art, nach besonderer Richtung
entwickelt sind. Aber sie sind ebenso oft auch quantitative, denn die Stärke der
einzelnen Zweige ist verschieden, sie können anormal stark oder anormal schwach
sein, ja ganze Gruppen können auch völlig fehlen. Der Sinn für Kunst oder
spezieller der für Musik kann die Dominante des ganzen Wesens sein, oder er kann
so schwach sein, daß er im Zusammenklang aller Wesenseigentümlichkeiten nicht
gehört wird. Der Intellekt kann alles andere beherrschen und die Gefühlsseite
ganz zur Seite drängen; oder die Phantasie kann wuchernd emporschießen und die
schwächeren Seiten des inneren Wesens, Verstand und Gefühl, ganz ersticken. Es
hat große Maler gegeben, die im gewöhnlichen Leben extreme Dummköpfe waren,
und große Gelehrte, denen für die Kunst jedes Organ versagt war; es hat Geschäfts¬
leute von weltumspannender Bedeutung gegeben, die weder zur Kunst noch zur
Wissenschaft irgendein Verhältnis gewinnen konnten, und selbst philosophisch¬
spekulative Köpfe, die nur auf engem Gebiete Bedeutsames leisteten. Oft finden
wir, daß der einzelne einseitig Begabte außerstande ist, die ihm mangelnden Wesens¬
seiten bei anderen zu begreifen, geschweige zu würdigen, ihr Fehlen als einen
Mangel zu empfinden. Im Gegenteil, er neigt oft in diesem Falle zur Intoleranz.
Was er nicht münzt, das, meint er, gelte nicht.

Der Individualismus von heute läßt auch die Einseitigen gelten, ja er
bevorzugt die Einseitigkeit, weil er in ihr ein Zeichen der Originalität sieht.
Gefährlich aber wird die Einseitigkeit, wenn sie mit dem Anspruch auftritt, Allseitig¬
keit zu sein, und diesen Anspruch mit Geschick und Ansehen zu vertreten weiß.

Diese Gedanken werden wohl manchem sich aufdrängen, der die neuen
Ostwaldschen Bücher liest. Der Verfasser, als verdienter Forscher auf dem Gebiete
der Chemie und ihrer Grenzwissenschaften längst bekannt, neuerdings auch als
Führer des Monistenbundes mehrfach genannt, versucht es in ihnen, die auf dem
Gebiete der Naturwissenschaft gewonnenen höchsten Prinzipien zu einer allgemeinen
Kulturphilosophie auszubauen und aus dieser wiederum praktische Folgerungen
auf den verschiedensten Gebieten zu ziehen. Die Art seines Auftretens, die Ent¬
schiedenheit seines Urteilens wirkt fortreißend und suggestiv, und insofern ist Ostwald
in der Tat geeignet, das Haupt und der Prophet eines Bundes zu werden, zu
dessen Absichten es gehört, die Menschen in einer Weltanschauung zu einen, ihnen
hierin einen Ersatz der angeblich überwundenen kirchlichen Religionen zu bieten.
Es paßt zu diesem Bilde, daß Ostwald neuerdings auch monistische Sonntags¬
predigten veröffentlicht.


Über Wilhelm Gstwalds Unlturphilosophic

Über Wilhelm Gstwalds Rulturphilosophie
von Dr. Wilhelm Martin Lenker Grundlagen

er moderne Individualismus sieht sein Ziel nicht mehr wie der-
I jenige früherer Zeiten in der harmonischen Ausbildung der Persön¬
lichkeit, sondern er läuft, genauer betrachtet, — wenigstens in vielen
I Fällen — darauf hinaus, die angeborenen und anerzogenen Ein-
! seitigkeiten des menschlichen Wesens zu betonen und durchsetzen zu
helfen. Diese Einseitigkeiten sind natürlich zum Teil qualitative, indem gewisse
Zweige der menschlichen Naturanlage in besonderer Art, nach besonderer Richtung
entwickelt sind. Aber sie sind ebenso oft auch quantitative, denn die Stärke der
einzelnen Zweige ist verschieden, sie können anormal stark oder anormal schwach
sein, ja ganze Gruppen können auch völlig fehlen. Der Sinn für Kunst oder
spezieller der für Musik kann die Dominante des ganzen Wesens sein, oder er kann
so schwach sein, daß er im Zusammenklang aller Wesenseigentümlichkeiten nicht
gehört wird. Der Intellekt kann alles andere beherrschen und die Gefühlsseite
ganz zur Seite drängen; oder die Phantasie kann wuchernd emporschießen und die
schwächeren Seiten des inneren Wesens, Verstand und Gefühl, ganz ersticken. Es
hat große Maler gegeben, die im gewöhnlichen Leben extreme Dummköpfe waren,
und große Gelehrte, denen für die Kunst jedes Organ versagt war; es hat Geschäfts¬
leute von weltumspannender Bedeutung gegeben, die weder zur Kunst noch zur
Wissenschaft irgendein Verhältnis gewinnen konnten, und selbst philosophisch¬
spekulative Köpfe, die nur auf engem Gebiete Bedeutsames leisteten. Oft finden
wir, daß der einzelne einseitig Begabte außerstande ist, die ihm mangelnden Wesens¬
seiten bei anderen zu begreifen, geschweige zu würdigen, ihr Fehlen als einen
Mangel zu empfinden. Im Gegenteil, er neigt oft in diesem Falle zur Intoleranz.
Was er nicht münzt, das, meint er, gelte nicht.

Der Individualismus von heute läßt auch die Einseitigen gelten, ja er
bevorzugt die Einseitigkeit, weil er in ihr ein Zeichen der Originalität sieht.
Gefährlich aber wird die Einseitigkeit, wenn sie mit dem Anspruch auftritt, Allseitig¬
keit zu sein, und diesen Anspruch mit Geschick und Ansehen zu vertreten weiß.

Diese Gedanken werden wohl manchem sich aufdrängen, der die neuen
Ostwaldschen Bücher liest. Der Verfasser, als verdienter Forscher auf dem Gebiete
der Chemie und ihrer Grenzwissenschaften längst bekannt, neuerdings auch als
Führer des Monistenbundes mehrfach genannt, versucht es in ihnen, die auf dem
Gebiete der Naturwissenschaft gewonnenen höchsten Prinzipien zu einer allgemeinen
Kulturphilosophie auszubauen und aus dieser wiederum praktische Folgerungen
auf den verschiedensten Gebieten zu ziehen. Die Art seines Auftretens, die Ent¬
schiedenheit seines Urteilens wirkt fortreißend und suggestiv, und insofern ist Ostwald
in der Tat geeignet, das Haupt und der Prophet eines Bundes zu werden, zu
dessen Absichten es gehört, die Menschen in einer Weltanschauung zu einen, ihnen
hierin einen Ersatz der angeblich überwundenen kirchlichen Religionen zu bieten.
Es paßt zu diesem Bilde, daß Ostwald neuerdings auch monistische Sonntags¬
predigten veröffentlicht.


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[0311] Über Wilhelm Gstwalds Unlturphilosophic Über Wilhelm Gstwalds Rulturphilosophie von Dr. Wilhelm Martin Lenker Grundlagen er moderne Individualismus sieht sein Ziel nicht mehr wie der- I jenige früherer Zeiten in der harmonischen Ausbildung der Persön¬ lichkeit, sondern er läuft, genauer betrachtet, — wenigstens in vielen I Fällen — darauf hinaus, die angeborenen und anerzogenen Ein- ! seitigkeiten des menschlichen Wesens zu betonen und durchsetzen zu helfen. Diese Einseitigkeiten sind natürlich zum Teil qualitative, indem gewisse Zweige der menschlichen Naturanlage in besonderer Art, nach besonderer Richtung entwickelt sind. Aber sie sind ebenso oft auch quantitative, denn die Stärke der einzelnen Zweige ist verschieden, sie können anormal stark oder anormal schwach sein, ja ganze Gruppen können auch völlig fehlen. Der Sinn für Kunst oder spezieller der für Musik kann die Dominante des ganzen Wesens sein, oder er kann so schwach sein, daß er im Zusammenklang aller Wesenseigentümlichkeiten nicht gehört wird. Der Intellekt kann alles andere beherrschen und die Gefühlsseite ganz zur Seite drängen; oder die Phantasie kann wuchernd emporschießen und die schwächeren Seiten des inneren Wesens, Verstand und Gefühl, ganz ersticken. Es hat große Maler gegeben, die im gewöhnlichen Leben extreme Dummköpfe waren, und große Gelehrte, denen für die Kunst jedes Organ versagt war; es hat Geschäfts¬ leute von weltumspannender Bedeutung gegeben, die weder zur Kunst noch zur Wissenschaft irgendein Verhältnis gewinnen konnten, und selbst philosophisch¬ spekulative Köpfe, die nur auf engem Gebiete Bedeutsames leisteten. Oft finden wir, daß der einzelne einseitig Begabte außerstande ist, die ihm mangelnden Wesens¬ seiten bei anderen zu begreifen, geschweige zu würdigen, ihr Fehlen als einen Mangel zu empfinden. Im Gegenteil, er neigt oft in diesem Falle zur Intoleranz. Was er nicht münzt, das, meint er, gelte nicht. Der Individualismus von heute läßt auch die Einseitigen gelten, ja er bevorzugt die Einseitigkeit, weil er in ihr ein Zeichen der Originalität sieht. Gefährlich aber wird die Einseitigkeit, wenn sie mit dem Anspruch auftritt, Allseitig¬ keit zu sein, und diesen Anspruch mit Geschick und Ansehen zu vertreten weiß. Diese Gedanken werden wohl manchem sich aufdrängen, der die neuen Ostwaldschen Bücher liest. Der Verfasser, als verdienter Forscher auf dem Gebiete der Chemie und ihrer Grenzwissenschaften längst bekannt, neuerdings auch als Führer des Monistenbundes mehrfach genannt, versucht es in ihnen, die auf dem Gebiete der Naturwissenschaft gewonnenen höchsten Prinzipien zu einer allgemeinen Kulturphilosophie auszubauen und aus dieser wiederum praktische Folgerungen auf den verschiedensten Gebieten zu ziehen. Die Art seines Auftretens, die Ent¬ schiedenheit seines Urteilens wirkt fortreißend und suggestiv, und insofern ist Ostwald in der Tat geeignet, das Haupt und der Prophet eines Bundes zu werden, zu dessen Absichten es gehört, die Menschen in einer Weltanschauung zu einen, ihnen hierin einen Ersatz der angeblich überwundenen kirchlichen Religionen zu bieten. Es paßt zu diesem Bilde, daß Ostwald neuerdings auch monistische Sonntags¬ predigten veröffentlicht.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948/311>, abgerufen am 29.12.2024.