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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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Menschen so zur Darstellung zu bringen, daß
sowohl auf die Kultur der Zeit wie auf die
persönliche Eigenart des Mannes Helles Licht
fällt. Die Übersetzung ist getreu und, von
geringfügigen Einzelheiten abgesehen, fließend;
von den den Text geschmackvoll begleitenden
Abbildungen werden zwei, Wiedergaben von
Bildnissen Eneas und Friedrichs des Dritten,
S. zum ersten Male veröffentlicht.

Bildende Aunst

Theovald Hofmann: Raffacl in seiner
Bedeutung als Architekt. Z.Band: "Palast-
imd Wohnbauten". Gilberssche Verlagsbuch¬
handlung. Leipzig 1911.

Einer Zeit, die in Raffael, dein "Götter¬
gleichen", die Vollendung jedes Künstlertums
erblickte, war der Rückschlag gefolgt. Das
Gleichmaß seiner Werke bezeichnete man als
langweilig, und um ihn als krassen Eklektiker
zu brandmarken, wurden die Quellen all
seines Tuns bloßgelegt. Allmählich beginnt
man dem Menschen und Künstler Raffael
gegenüber den richtigen Standpunkt zu ge¬
winnen. Wohl bemerken auch wir, daß ihm
die Urkraft eines Pfadfinders im Reiche der
Kunst nicht gegeben war; aber wir erkennen,
daß alle Anregungen der Vorzeit und seiner
Gegenwart in ihn? wie in einem Brennpunkt
zusammenstrahlen, daß sie hier erst die Einheit
finden, in der sie der Zukunft als Überlieferung
geboten werden. Es gibt uns zu denken, daß
kritische, ihm fernstehende Zeitgenossen, wie
Vasari, acht Jahre nach Vollendung der Decke
der Sixtina durch Michelangelo bei^ Raffaels
Tode klagen: "Wohl konnte beim Tode dieses
edlen Künstlers auch die Malerei sterben,
denn als er die Augen schloß, blieb sie fast
blind zurück." Noch mehr aber bedeutet für
seine Schätzung Bramantes letztwillige Bitte,
Raffael als Baumeister von Sankt Peter zu
bestellen. Gerade ein Architekt von der Größe
Bramantes erkannte die wichtigste Begabung
seines jungen Landsmanns, das glückliche
Empfinden für Ebenmaß und Harmonie der
Verhältnisse. Darum war erwiekein anderer--
denn ein Titane von der Kraft der Buona-
rotti verachtet die Beschränkung durch das
Maß -- bestimmt, die Entwicklungsreihe der
Renaissance zur Höhe, zum Abschluß zu führen.
Die Architektur erweist sich darin vor allem

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als die Mutter der Künste, daß sie klar wie
keine andere Gleichmaß der Verhältnisse mit
ihrer Bestimmung verlangt, und daß wir erst
dann von der Lösung eines architektonischen
Problems sprechen dürfen, wenn das Antlitz
des Bauwerks, seine Front, der harmonische
Ausdruck seiner inneren Raumordnung ge¬
worden ist. Wollen wir also zu der Er¬
kenntnis des ursprünglichen Genius in Raffael
gelangen, so gilt es, Raffael als Baumeister
zu erforschen. In Hofmanns großangelegtem
Werke, dessen zweiten Band Karl Oehring
1909 in Ur. 42 der Grenzboten gewürdigt
hat, wird uns der Zugang geebnet. Gerade
in den Palast- und Wohnbauten zeigt sich,
wie Raffael den Zwecken entsprechend den
Grundriß schuf, den die Fassade als der Aus¬
druck seiner inneren Gestaltung umkleidet.
' Deutlich erkennbar tritt das Obergeschoß zurück,
dadurch wie in allen anderen Bauteilen die
Harmonie der Horizontal- und Vertikalgliede¬
rung betonend. Gesimse bezeichnen die Eintei¬
lung in Geschosse, und Halb- oder Dreiviertel¬
säulen schließen das Obergeschoß gegenüber
der Rustikamauer des Unterbaus zusammen.
Durch diese Trennung von Ober- und Unterbau
erzielt Raffael Klarheit und Einheit, die ihr
Vorbild in den griechischen Tempeln, ihres¬
gleichen nur in Michelangelos Entwurf für
Se. Peter hat. Die organische Geschlossenheit
der Paläste Raffaels, die beim ersten Eindruck,
ohne daß man sie schon im einzelnen deutlich
erfaßt, sich offenbart (man denke an den
Palazzo Pandolfini in Florenz), beruht nicht
nur in dem Zusammenklang der großen Ver¬
hältnisse, wie Obergeschoß zu Untergeschoß
und zur Gesamtfassade, sondern auch in der
Harmonie der kleinen Verhältnisse der Fenster
und Türöffnungen, der Steinfugen in? Einzel-
gcschoß. Da diese Harmonie der kleinen
Verhältnisse, wie ich sie nannte, allen seinen
Bauten eigen ist, stellt Hofmann in dem
Kapitel "Vereinigung Raffaelischer Bau¬
formen" die Geschosse verschiedener Bauten
zusammen, um so neue, harmonische Gebilde
zu erhalten. Mit ganz einzigartiger Liebe
versenkt sich Hofmann in das Schaffen
Raffaels, einfühlend spürt er allen Entwick¬
lungsgängen seiner Kunst nach , sie deutlich
klarlegend. Sollten einst die sieben Bände
dieser Publikation vorliegen, dann wird

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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Menschen so zur Darstellung zu bringen, daß
sowohl auf die Kultur der Zeit wie auf die
persönliche Eigenart des Mannes Helles Licht
fällt. Die Übersetzung ist getreu und, von
geringfügigen Einzelheiten abgesehen, fließend;
von den den Text geschmackvoll begleitenden
Abbildungen werden zwei, Wiedergaben von
Bildnissen Eneas und Friedrichs des Dritten,
S. zum ersten Male veröffentlicht.

Bildende Aunst

Theovald Hofmann: Raffacl in seiner
Bedeutung als Architekt. Z.Band: „Palast-
imd Wohnbauten". Gilberssche Verlagsbuch¬
handlung. Leipzig 1911.

Einer Zeit, die in Raffael, dein „Götter¬
gleichen", die Vollendung jedes Künstlertums
erblickte, war der Rückschlag gefolgt. Das
Gleichmaß seiner Werke bezeichnete man als
langweilig, und um ihn als krassen Eklektiker
zu brandmarken, wurden die Quellen all
seines Tuns bloßgelegt. Allmählich beginnt
man dem Menschen und Künstler Raffael
gegenüber den richtigen Standpunkt zu ge¬
winnen. Wohl bemerken auch wir, daß ihm
die Urkraft eines Pfadfinders im Reiche der
Kunst nicht gegeben war; aber wir erkennen,
daß alle Anregungen der Vorzeit und seiner
Gegenwart in ihn? wie in einem Brennpunkt
zusammenstrahlen, daß sie hier erst die Einheit
finden, in der sie der Zukunft als Überlieferung
geboten werden. Es gibt uns zu denken, daß
kritische, ihm fernstehende Zeitgenossen, wie
Vasari, acht Jahre nach Vollendung der Decke
der Sixtina durch Michelangelo bei^ Raffaels
Tode klagen: „Wohl konnte beim Tode dieses
edlen Künstlers auch die Malerei sterben,
denn als er die Augen schloß, blieb sie fast
blind zurück." Noch mehr aber bedeutet für
seine Schätzung Bramantes letztwillige Bitte,
Raffael als Baumeister von Sankt Peter zu
bestellen. Gerade ein Architekt von der Größe
Bramantes erkannte die wichtigste Begabung
seines jungen Landsmanns, das glückliche
Empfinden für Ebenmaß und Harmonie der
Verhältnisse. Darum war erwiekein anderer—
denn ein Titane von der Kraft der Buona-
rotti verachtet die Beschränkung durch das
Maß — bestimmt, die Entwicklungsreihe der
Renaissance zur Höhe, zum Abschluß zu führen.
Die Architektur erweist sich darin vor allem

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als die Mutter der Künste, daß sie klar wie
keine andere Gleichmaß der Verhältnisse mit
ihrer Bestimmung verlangt, und daß wir erst
dann von der Lösung eines architektonischen
Problems sprechen dürfen, wenn das Antlitz
des Bauwerks, seine Front, der harmonische
Ausdruck seiner inneren Raumordnung ge¬
worden ist. Wollen wir also zu der Er¬
kenntnis des ursprünglichen Genius in Raffael
gelangen, so gilt es, Raffael als Baumeister
zu erforschen. In Hofmanns großangelegtem
Werke, dessen zweiten Band Karl Oehring
1909 in Ur. 42 der Grenzboten gewürdigt
hat, wird uns der Zugang geebnet. Gerade
in den Palast- und Wohnbauten zeigt sich,
wie Raffael den Zwecken entsprechend den
Grundriß schuf, den die Fassade als der Aus¬
druck seiner inneren Gestaltung umkleidet.
' Deutlich erkennbar tritt das Obergeschoß zurück,
dadurch wie in allen anderen Bauteilen die
Harmonie der Horizontal- und Vertikalgliede¬
rung betonend. Gesimse bezeichnen die Eintei¬
lung in Geschosse, und Halb- oder Dreiviertel¬
säulen schließen das Obergeschoß gegenüber
der Rustikamauer des Unterbaus zusammen.
Durch diese Trennung von Ober- und Unterbau
erzielt Raffael Klarheit und Einheit, die ihr
Vorbild in den griechischen Tempeln, ihres¬
gleichen nur in Michelangelos Entwurf für
Se. Peter hat. Die organische Geschlossenheit
der Paläste Raffaels, die beim ersten Eindruck,
ohne daß man sie schon im einzelnen deutlich
erfaßt, sich offenbart (man denke an den
Palazzo Pandolfini in Florenz), beruht nicht
nur in dem Zusammenklang der großen Ver¬
hältnisse, wie Obergeschoß zu Untergeschoß
und zur Gesamtfassade, sondern auch in der
Harmonie der kleinen Verhältnisse der Fenster
und Türöffnungen, der Steinfugen in? Einzel-
gcschoß. Da diese Harmonie der kleinen
Verhältnisse, wie ich sie nannte, allen seinen
Bauten eigen ist, stellt Hofmann in dem
Kapitel „Vereinigung Raffaelischer Bau¬
formen" die Geschosse verschiedener Bauten
zusammen, um so neue, harmonische Gebilde
zu erhalten. Mit ganz einzigartiger Liebe
versenkt sich Hofmann in das Schaffen
Raffaels, einfühlend spürt er allen Entwick¬
lungsgängen seiner Kunst nach , sie deutlich
klarlegend. Sollten einst die sieben Bände
dieser Publikation vorliegen, dann wird

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948/240>, abgerufen am 29.12.2024.