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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]
Schöne Literatur

Wendelin und das Dorf. Roman von
Victor Fleischer. Berlin, Meyer u, Jessen.
Preis M, S^S0.

Fleischer schildert in diesem Roman mit
scharfer Beobachtung und feinem dichterischen
Empfinden den Kampf zwischen Dorf und
Stadt. Er führt uns nach Nordböhmen in
die Gegend des Erzgebirges, die er in früher
erschienenen Novellen und Erzählungen schon
verherrlicht hat ("Das Steinmetzendorf",
Stuttgart, Deutsche Verlagsanstalt. "Leute
vom Dorf", Kürschners Bücherschatz. "Bcwern-
gcschichten", Reklmns Universalbibliothek). --
Wendelin, der Sohn des Bachseitsbcmern,
hat das Abiturienteneramen gemacht und
erwartet mit Ungeduld den Tag, der ihn
aus der heimatlichen Enge zum Studium
der Medizin nach Wien bringen wird. Der
Vater, ein Prächtig gezeichneter Mann "von
altem Schrot und Korn", ist nicht ein¬
verstanden mit den neumodischen Ansichten
seines Sohnes, der so gar keine Ehrfurcht
vor dem Althergebrachten hat, aber er läßt
ihn: doch seinen Willen. Mit jugendlichem
Feuer stürzt sich der Student in das leichte
Leben der Hauptstadt, bis sich, nachdem der
erste Rausch verflogen, langsam, ganz langsam
das Heimweh meldet. Die Heimat zieht den
Flüchtling mit tausend Fäden zurück in
ihren Bannkreis, und wie er auch gegen
dies ungewohnte Gefühl ankämpft, Weihnachten
packt er Hals über Kopf seinen Koffer, um
wenigstens auf ein Paar Tage Heimatluft zu
atmen. Er kehrt nach Wien zurück, aber die
Sehnsucht läßt ihn nicht mehr los. Nach
Beendigung der Studien kehrt er als Prak¬
tischer Arzt in sein Dorf zurück. Und nun
beginnt die Tragödie. In der Heimat hat
sich vieles verändert; die nahe Stadt wächst
mit unheimlicher Schnelligkeit an das Dorf
heran, und es ist nur noch eine Frage der

[Spaltenumbruch]

Zeit, wann der letzte Bauernhof verschwunden
sein wird. Den Lockungen des Geldes haben
nur wenige Bauern widerstehen können. Mit
künstlerischer Kraft wird nun der Kampf
Wendclins mit den harten Bauernschädeln
und der eindringenden Arbeiterbevölkerung
um die Erhaltung der Heimat geschildert,
der Kampf des gebildeten, Weitschauenden
Mannes, der von glühender Liebe für sein
Dorf erfüllt ist. Es ist wahrlich kein
beneidenswertes Leben, das dieser Dorfarzt
führt. Er liebt die Tochter deS jüdischen
Kaufmanns Deutsch und heiratet sie, die ihm
eine tapfere Mitstreiterin wird. Aber sie
stirbt bald, ehe noch die in der Verschieden¬
heit der Weltanschauungen liegenden Konflikte
das Glück trüben konnten. Wendelin selbst
verläßt die Heimat, äußerlich als Besiegter,
aber mit der festen Zuversicht, sich anderswo
ein neues Glück zu schaffen. -- Was wird
nun aus ihm? Soll der Roman eine Fort¬
setzung erhalten? So fragt man unwillkürlich
am Ende des Buches. Fleischer hat den
Stoff, der einen tragischen Schluß verlangte,
nicht bis zur äußersten Konsequenz durch¬
geführt. Das ist um der künstlerischen
Wirkung Nullen zu bedauern; aber das Buch
bedeutet zweifellos einen kräftigen und ver¬
heißungsvoller Fortschritt in der Entwicklung
des jungen Künstlers.

W. I. R.
Justiz und Verwaltung

Das Recht als Ursache der Rechts-
unsicherheit. Vor kurzem hatte ich zum
erstenmal in meinem Leben einen Prozeß
zu führen. Da mein Anspruch auf den
klaren Worten eines geschriebenen Vertrages
beruhte, hielt ich meinen Sieg für gewiß;
doch bei meinen Freunden, soweit sie nicht
Juristen waren, begegnete ich allgemeinem
Mitleid. Einer davon verstieg sich sogar zu
den: Ausspruch: "Ein anständiger Mensch
kann niemals einen Prozeß gewinnen; dazu

[Ende Spaltensatz]


Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]
Schöne Literatur

Wendelin und das Dorf. Roman von
Victor Fleischer. Berlin, Meyer u, Jessen.
Preis M, S^S0.

Fleischer schildert in diesem Roman mit
scharfer Beobachtung und feinem dichterischen
Empfinden den Kampf zwischen Dorf und
Stadt. Er führt uns nach Nordböhmen in
die Gegend des Erzgebirges, die er in früher
erschienenen Novellen und Erzählungen schon
verherrlicht hat („Das Steinmetzendorf",
Stuttgart, Deutsche Verlagsanstalt. „Leute
vom Dorf", Kürschners Bücherschatz. „Bcwern-
gcschichten", Reklmns Universalbibliothek). —
Wendelin, der Sohn des Bachseitsbcmern,
hat das Abiturienteneramen gemacht und
erwartet mit Ungeduld den Tag, der ihn
aus der heimatlichen Enge zum Studium
der Medizin nach Wien bringen wird. Der
Vater, ein Prächtig gezeichneter Mann „von
altem Schrot und Korn", ist nicht ein¬
verstanden mit den neumodischen Ansichten
seines Sohnes, der so gar keine Ehrfurcht
vor dem Althergebrachten hat, aber er läßt
ihn: doch seinen Willen. Mit jugendlichem
Feuer stürzt sich der Student in das leichte
Leben der Hauptstadt, bis sich, nachdem der
erste Rausch verflogen, langsam, ganz langsam
das Heimweh meldet. Die Heimat zieht den
Flüchtling mit tausend Fäden zurück in
ihren Bannkreis, und wie er auch gegen
dies ungewohnte Gefühl ankämpft, Weihnachten
packt er Hals über Kopf seinen Koffer, um
wenigstens auf ein Paar Tage Heimatluft zu
atmen. Er kehrt nach Wien zurück, aber die
Sehnsucht läßt ihn nicht mehr los. Nach
Beendigung der Studien kehrt er als Prak¬
tischer Arzt in sein Dorf zurück. Und nun
beginnt die Tragödie. In der Heimat hat
sich vieles verändert; die nahe Stadt wächst
mit unheimlicher Schnelligkeit an das Dorf
heran, und es ist nur noch eine Frage der

[Spaltenumbruch]

Zeit, wann der letzte Bauernhof verschwunden
sein wird. Den Lockungen des Geldes haben
nur wenige Bauern widerstehen können. Mit
künstlerischer Kraft wird nun der Kampf
Wendclins mit den harten Bauernschädeln
und der eindringenden Arbeiterbevölkerung
um die Erhaltung der Heimat geschildert,
der Kampf des gebildeten, Weitschauenden
Mannes, der von glühender Liebe für sein
Dorf erfüllt ist. Es ist wahrlich kein
beneidenswertes Leben, das dieser Dorfarzt
führt. Er liebt die Tochter deS jüdischen
Kaufmanns Deutsch und heiratet sie, die ihm
eine tapfere Mitstreiterin wird. Aber sie
stirbt bald, ehe noch die in der Verschieden¬
heit der Weltanschauungen liegenden Konflikte
das Glück trüben konnten. Wendelin selbst
verläßt die Heimat, äußerlich als Besiegter,
aber mit der festen Zuversicht, sich anderswo
ein neues Glück zu schaffen. — Was wird
nun aus ihm? Soll der Roman eine Fort¬
setzung erhalten? So fragt man unwillkürlich
am Ende des Buches. Fleischer hat den
Stoff, der einen tragischen Schluß verlangte,
nicht bis zur äußersten Konsequenz durch¬
geführt. Das ist um der künstlerischen
Wirkung Nullen zu bedauern; aber das Buch
bedeutet zweifellos einen kräftigen und ver¬
heißungsvoller Fortschritt in der Entwicklung
des jungen Künstlers.

W. I. R.
Justiz und Verwaltung

Das Recht als Ursache der Rechts-
unsicherheit. Vor kurzem hatte ich zum
erstenmal in meinem Leben einen Prozeß
zu führen. Da mein Anspruch auf den
klaren Worten eines geschriebenen Vertrages
beruhte, hielt ich meinen Sieg für gewiß;
doch bei meinen Freunden, soweit sie nicht
Juristen waren, begegnete ich allgemeinem
Mitleid. Einer davon verstieg sich sogar zu
den: Ausspruch: „Ein anständiger Mensch
kann niemals einen Prozeß gewinnen; dazu

[Ende Spaltensatz]
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[0143] [Abbildung] Maßgebliches und Unmaßgebliches Schöne Literatur Wendelin und das Dorf. Roman von Victor Fleischer. Berlin, Meyer u, Jessen. Preis M, S^S0. Fleischer schildert in diesem Roman mit scharfer Beobachtung und feinem dichterischen Empfinden den Kampf zwischen Dorf und Stadt. Er führt uns nach Nordböhmen in die Gegend des Erzgebirges, die er in früher erschienenen Novellen und Erzählungen schon verherrlicht hat („Das Steinmetzendorf", Stuttgart, Deutsche Verlagsanstalt. „Leute vom Dorf", Kürschners Bücherschatz. „Bcwern- gcschichten", Reklmns Universalbibliothek). — Wendelin, der Sohn des Bachseitsbcmern, hat das Abiturienteneramen gemacht und erwartet mit Ungeduld den Tag, der ihn aus der heimatlichen Enge zum Studium der Medizin nach Wien bringen wird. Der Vater, ein Prächtig gezeichneter Mann „von altem Schrot und Korn", ist nicht ein¬ verstanden mit den neumodischen Ansichten seines Sohnes, der so gar keine Ehrfurcht vor dem Althergebrachten hat, aber er läßt ihn: doch seinen Willen. Mit jugendlichem Feuer stürzt sich der Student in das leichte Leben der Hauptstadt, bis sich, nachdem der erste Rausch verflogen, langsam, ganz langsam das Heimweh meldet. Die Heimat zieht den Flüchtling mit tausend Fäden zurück in ihren Bannkreis, und wie er auch gegen dies ungewohnte Gefühl ankämpft, Weihnachten packt er Hals über Kopf seinen Koffer, um wenigstens auf ein Paar Tage Heimatluft zu atmen. Er kehrt nach Wien zurück, aber die Sehnsucht läßt ihn nicht mehr los. Nach Beendigung der Studien kehrt er als Prak¬ tischer Arzt in sein Dorf zurück. Und nun beginnt die Tragödie. In der Heimat hat sich vieles verändert; die nahe Stadt wächst mit unheimlicher Schnelligkeit an das Dorf heran, und es ist nur noch eine Frage der Zeit, wann der letzte Bauernhof verschwunden sein wird. Den Lockungen des Geldes haben nur wenige Bauern widerstehen können. Mit künstlerischer Kraft wird nun der Kampf Wendclins mit den harten Bauernschädeln und der eindringenden Arbeiterbevölkerung um die Erhaltung der Heimat geschildert, der Kampf des gebildeten, Weitschauenden Mannes, der von glühender Liebe für sein Dorf erfüllt ist. Es ist wahrlich kein beneidenswertes Leben, das dieser Dorfarzt führt. Er liebt die Tochter deS jüdischen Kaufmanns Deutsch und heiratet sie, die ihm eine tapfere Mitstreiterin wird. Aber sie stirbt bald, ehe noch die in der Verschieden¬ heit der Weltanschauungen liegenden Konflikte das Glück trüben konnten. Wendelin selbst verläßt die Heimat, äußerlich als Besiegter, aber mit der festen Zuversicht, sich anderswo ein neues Glück zu schaffen. — Was wird nun aus ihm? Soll der Roman eine Fort¬ setzung erhalten? So fragt man unwillkürlich am Ende des Buches. Fleischer hat den Stoff, der einen tragischen Schluß verlangte, nicht bis zur äußersten Konsequenz durch¬ geführt. Das ist um der künstlerischen Wirkung Nullen zu bedauern; aber das Buch bedeutet zweifellos einen kräftigen und ver¬ heißungsvoller Fortschritt in der Entwicklung des jungen Künstlers. W. I. R. Justiz und Verwaltung Das Recht als Ursache der Rechts- unsicherheit. Vor kurzem hatte ich zum erstenmal in meinem Leben einen Prozeß zu führen. Da mein Anspruch auf den klaren Worten eines geschriebenen Vertrages beruhte, hielt ich meinen Sieg für gewiß; doch bei meinen Freunden, soweit sie nicht Juristen waren, begegnete ich allgemeinem Mitleid. Einer davon verstieg sich sogar zu den: Ausspruch: „Ein anständiger Mensch kann niemals einen Prozeß gewinnen; dazu

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948/143>, abgerufen am 29.12.2024.