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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.

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Bausteine der chinesischen Uultuv

Dadurch gerade ist China für den Historiker eine so außerordentlich lehr¬
reiche Erscheinung, daß hier das Altertum in ungeschwächter Kraft in der Gegen¬
wart fortlebt.

Die Anfänge der chinesischen Kultur verlieren sich, wie das ja bei jeder
alten und autochthonen Kultur der Fall ist, im undurchdringlichen Dunkel einer
vorgeschichtlichen Urzeit. Bereits in der ältesten Überlieferung steht China als
ein wohlorganisiertes, monarchisch regiertes Staatswesen da, wie es nur als
Ergebnis einer langen Entwicklungsdauer denkbar ist.

Diese Monarchie ist von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart erblich
gewesen in dem Sinne, daß dem Monarchen allein das Recht zusteht, seinen
Nachfolger aus eigener Machtvollkommenheit zu ernennen, ohne sich bei seiner
Wahl, theoretisch wenigstens, auf seine Leibeserben beschränken zu müssen. Auch
genießt der älteste Sohn des regierenden Kaisers keinerlei Vorrechte vor seinen
Brüdern, insonderheit hat er als der älteste Sohn durchaus kein legitimes
Anrecht auf die Thronfolge, vielmehr ist diese, wie gesagt, ausschließlich der
persönlichen Entscheidung des Monarchen vorbehalten, und zwar ist in dieser
Beziehung die Praxis in keiner Weise von der Theorie abgewichen.

Ferner ist der Monarch absolut, da er als solcher Stellvertreter des Himmels,
d. h. Gottes ist. Der Fürst erhält sein Amt als ein Mandat des Himmels
und ist somit, wie wir sagen würden, von Gottes Gnaden Herrscher über sein
Reich: nach unten hin Mandatar und Sachwalter des Himmels, nach oben hin
Vertreter seines Volkes. Daher die uralte Bezeichnung t'im-t8?L, d. h. Himmels¬
sohn für Kaiser. Demnach ist das chinesische Kaisertum keine Theokratie im
eigentlichen Sinne; denn wie der Himmel dem Fürsten sein Amt verleiht, so
kann er das Mandat auch jederzeit zurückziehen, und das geschieht, sobald der
Fürst nicht zur Zufriedenheit des Himmels seines Amtes waltet. In Fällen
dieser Art gibt der Himmel durch mannigfache Heimsuchungen, wie Dürre und
Überschwemmung, Hungersnot und Seuchen, seinen Zorn zu erkennen; dem
Volke aber gelten solche Schickungen des Himmels als Fingerzeig, daß mit der
bestehenden Regierung zu brechen sei -- die vox Oel wird zur vox populi.

Und hiermit sind wir bei einem Punkte angelangt, der für eine gerechte
Würdigung des Chinesentums und seiner Geschichte von maßgebender Bedeutung
ist. Von alters her nimmt nämlich das chinesische Volk das auf religiös-ethischer
Grundlage fußende Recht für sich in Anspruch, der herrschenden Dynastie, sobald
es die Umstände erfordern, den Gehorsam zu kündigen, -- mit anderen Worten:
das Recht der Auflehnung gegen die bestehende Gewalt. In seinem vor bereits
sechzig Jahren erschienenen, aber noch immer lesenswerten Buche: "l'Ke LKiness
emä tkeir Kebsllions" präzisiert Meadows den Unterschied zwischen Revolution
und Rebellion dahin, daß die Revolution eine Änderung der Regierungsform
erstrebe, wohingegen die Rebellion sich nur gegen die Regierenden richte, ohne
daß sie deshalb die bestehende Regierungsform anzutasten brauche, und formuliert
dann sein Urteil über die Chinesen mit den Worten: "Von allen Nationen.


Bausteine der chinesischen Uultuv

Dadurch gerade ist China für den Historiker eine so außerordentlich lehr¬
reiche Erscheinung, daß hier das Altertum in ungeschwächter Kraft in der Gegen¬
wart fortlebt.

Die Anfänge der chinesischen Kultur verlieren sich, wie das ja bei jeder
alten und autochthonen Kultur der Fall ist, im undurchdringlichen Dunkel einer
vorgeschichtlichen Urzeit. Bereits in der ältesten Überlieferung steht China als
ein wohlorganisiertes, monarchisch regiertes Staatswesen da, wie es nur als
Ergebnis einer langen Entwicklungsdauer denkbar ist.

Diese Monarchie ist von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart erblich
gewesen in dem Sinne, daß dem Monarchen allein das Recht zusteht, seinen
Nachfolger aus eigener Machtvollkommenheit zu ernennen, ohne sich bei seiner
Wahl, theoretisch wenigstens, auf seine Leibeserben beschränken zu müssen. Auch
genießt der älteste Sohn des regierenden Kaisers keinerlei Vorrechte vor seinen
Brüdern, insonderheit hat er als der älteste Sohn durchaus kein legitimes
Anrecht auf die Thronfolge, vielmehr ist diese, wie gesagt, ausschließlich der
persönlichen Entscheidung des Monarchen vorbehalten, und zwar ist in dieser
Beziehung die Praxis in keiner Weise von der Theorie abgewichen.

Ferner ist der Monarch absolut, da er als solcher Stellvertreter des Himmels,
d. h. Gottes ist. Der Fürst erhält sein Amt als ein Mandat des Himmels
und ist somit, wie wir sagen würden, von Gottes Gnaden Herrscher über sein
Reich: nach unten hin Mandatar und Sachwalter des Himmels, nach oben hin
Vertreter seines Volkes. Daher die uralte Bezeichnung t'im-t8?L, d. h. Himmels¬
sohn für Kaiser. Demnach ist das chinesische Kaisertum keine Theokratie im
eigentlichen Sinne; denn wie der Himmel dem Fürsten sein Amt verleiht, so
kann er das Mandat auch jederzeit zurückziehen, und das geschieht, sobald der
Fürst nicht zur Zufriedenheit des Himmels seines Amtes waltet. In Fällen
dieser Art gibt der Himmel durch mannigfache Heimsuchungen, wie Dürre und
Überschwemmung, Hungersnot und Seuchen, seinen Zorn zu erkennen; dem
Volke aber gelten solche Schickungen des Himmels als Fingerzeig, daß mit der
bestehenden Regierung zu brechen sei — die vox Oel wird zur vox populi.

Und hiermit sind wir bei einem Punkte angelangt, der für eine gerechte
Würdigung des Chinesentums und seiner Geschichte von maßgebender Bedeutung
ist. Von alters her nimmt nämlich das chinesische Volk das auf religiös-ethischer
Grundlage fußende Recht für sich in Anspruch, der herrschenden Dynastie, sobald
es die Umstände erfordern, den Gehorsam zu kündigen, — mit anderen Worten:
das Recht der Auflehnung gegen die bestehende Gewalt. In seinem vor bereits
sechzig Jahren erschienenen, aber noch immer lesenswerten Buche: „l'Ke LKiness
emä tkeir Kebsllions" präzisiert Meadows den Unterschied zwischen Revolution
und Rebellion dahin, daß die Revolution eine Änderung der Regierungsform
erstrebe, wohingegen die Rebellion sich nur gegen die Regierenden richte, ohne
daß sie deshalb die bestehende Regierungsform anzutasten brauche, und formuliert
dann sein Urteil über die Chinesen mit den Worten: „Von allen Nationen.


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[0123] Bausteine der chinesischen Uultuv Dadurch gerade ist China für den Historiker eine so außerordentlich lehr¬ reiche Erscheinung, daß hier das Altertum in ungeschwächter Kraft in der Gegen¬ wart fortlebt. Die Anfänge der chinesischen Kultur verlieren sich, wie das ja bei jeder alten und autochthonen Kultur der Fall ist, im undurchdringlichen Dunkel einer vorgeschichtlichen Urzeit. Bereits in der ältesten Überlieferung steht China als ein wohlorganisiertes, monarchisch regiertes Staatswesen da, wie es nur als Ergebnis einer langen Entwicklungsdauer denkbar ist. Diese Monarchie ist von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart erblich gewesen in dem Sinne, daß dem Monarchen allein das Recht zusteht, seinen Nachfolger aus eigener Machtvollkommenheit zu ernennen, ohne sich bei seiner Wahl, theoretisch wenigstens, auf seine Leibeserben beschränken zu müssen. Auch genießt der älteste Sohn des regierenden Kaisers keinerlei Vorrechte vor seinen Brüdern, insonderheit hat er als der älteste Sohn durchaus kein legitimes Anrecht auf die Thronfolge, vielmehr ist diese, wie gesagt, ausschließlich der persönlichen Entscheidung des Monarchen vorbehalten, und zwar ist in dieser Beziehung die Praxis in keiner Weise von der Theorie abgewichen. Ferner ist der Monarch absolut, da er als solcher Stellvertreter des Himmels, d. h. Gottes ist. Der Fürst erhält sein Amt als ein Mandat des Himmels und ist somit, wie wir sagen würden, von Gottes Gnaden Herrscher über sein Reich: nach unten hin Mandatar und Sachwalter des Himmels, nach oben hin Vertreter seines Volkes. Daher die uralte Bezeichnung t'im-t8?L, d. h. Himmels¬ sohn für Kaiser. Demnach ist das chinesische Kaisertum keine Theokratie im eigentlichen Sinne; denn wie der Himmel dem Fürsten sein Amt verleiht, so kann er das Mandat auch jederzeit zurückziehen, und das geschieht, sobald der Fürst nicht zur Zufriedenheit des Himmels seines Amtes waltet. In Fällen dieser Art gibt der Himmel durch mannigfache Heimsuchungen, wie Dürre und Überschwemmung, Hungersnot und Seuchen, seinen Zorn zu erkennen; dem Volke aber gelten solche Schickungen des Himmels als Fingerzeig, daß mit der bestehenden Regierung zu brechen sei — die vox Oel wird zur vox populi. Und hiermit sind wir bei einem Punkte angelangt, der für eine gerechte Würdigung des Chinesentums und seiner Geschichte von maßgebender Bedeutung ist. Von alters her nimmt nämlich das chinesische Volk das auf religiös-ethischer Grundlage fußende Recht für sich in Anspruch, der herrschenden Dynastie, sobald es die Umstände erfordern, den Gehorsam zu kündigen, — mit anderen Worten: das Recht der Auflehnung gegen die bestehende Gewalt. In seinem vor bereits sechzig Jahren erschienenen, aber noch immer lesenswerten Buche: „l'Ke LKiness emä tkeir Kebsllions" präzisiert Meadows den Unterschied zwischen Revolution und Rebellion dahin, daß die Revolution eine Änderung der Regierungsform erstrebe, wohingegen die Rebellion sich nur gegen die Regierenden richte, ohne daß sie deshalb die bestehende Regierungsform anzutasten brauche, und formuliert dann sein Urteil über die Chinesen mit den Worten: „Von allen Nationen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948/123>, abgerufen am 10.01.2025.