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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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Naturerkenntnis und Weltanschauung

hinabsteigen und die Ergebnisse paläontologischer Forschung zu Rate ziehen
müssen.

Eine Reihe von Übergangsformen finden wir zwar auch in der jetzt lebenden
Welt, z. B. den Peripatus als Verbindungsglied zwischen Ringelwürmern und
Insekten, den Amphioxus als untersten, zu den Mantelschnecken hinneigenden
Vertreter der Wirbeltiere, innerhalb dieser die sogenannten Lungenfische, Ceratodus,
Protopterus usw., als Vermittler zwischen Fischen und Amphibien, endlich das
Schnabeltier, das halb Vogel, halb Säugetier zu sein scheint. Freilich würde
man, da niemand die Säugetiere vom Vogelreich abstammen läßt, auf dieses
treffliche Vieh für die Deszendenz verzichten müssen, wenn man nicht Vögel und
Reptilien schon längst zu der gemeinsamen Klasse der Sauropsiden zusammen¬
gefaßt hätte. Zu diesen führt also der Weg durch das Schnabeltier.

Um andere Übergänge zu finden, müssen wir uns aber, wie gesagt, an
die Paläontologie wenden, und wer in das Labyrinth der fossilienführenden
Erdschichten eindringen soll, wird dankbar sein für einen Ariadnefaden, der ihm
die Richtung anzeigt, in der er zu suchen hat. Diesen Ariadnefaden will uns
Häckel geben in seinem schon vorhin erwähnten biogenetischen Grundgesetz,
welches aussagt, daß die Entwicklungsgeschichte des einzelnen Individuums, die
Ontogenie, eine kurze Rekapitulation der Stammesgeschichte, der Phylogenie,
darstellt. Die Theorie stützt sich auf vielfache, wirklich auffallende Tatsachen
der vergleichenden Anatomie und Entwicklungsgeschichte, von denen wir nur die
rudimentären Organe kurz streifen wollen. Der Laie denkt heutzutage bei der
Erwähnung dieses Wortes sofort an den Blinddarm. Er hat auch meistens
von den Zweifeln gehört, denen dessen Auffassung als rudimentäres Organ
vielerwärts begegnet, und hält damit die ganze Frage für erledigt. Es gibt
jedoch eine große Reihe wirklich rudimentärer Organe, die keine andere Deutung
zulassen, ich nenne z. B. die Hinterextremitüten der Walfische, deren Knochen¬
reste tief im massigen Körper der Tiere funktionslos begraben liegen, an den
Schultergürtel der Blindschleichen, der keine Extremitäten zu stützen hat, an die
Flügelreste des Kiwi, die oberen Schneidezähne des Kalbes, die das Rind nicht
mehr besitzt, obgleich es seine Zähne mehr braucht als das Kalb, die Kiemen
der Bergsalamander, die schon vor der Geburt wieder verschwinden, also nie
zur Funktion kommen, obgleich sie nachweislich funktionieren können, und vieles
andere.

Ohne noch auf die. anderen Gründe für die Theorie eingehen zu können,
muß ich noch das kurz erwähnen, was gegen sie spricht. Schon Häckel selbst
sah sich genötigt, neben der echten Palingenese, d. h. der Wiederholung von
Zuständen, die die Ahnen einst durchgemacht haben, eine sogenannte Känogenese,
d. h. Neuentstehung mancher Organe anzunehmen, die nicht mit der Stammes¬
geschichte in Einklang zu bringen sind. Es ist aber dadurch der Willkür natürlich
Tür und Tor geöffnet, indem man nun jedes Organ, je nachdem es in den ^
hypothetischen Entwicklungsgang paßt oder nicht, als palingenetisch oder taro-


Naturerkenntnis und Weltanschauung

hinabsteigen und die Ergebnisse paläontologischer Forschung zu Rate ziehen
müssen.

Eine Reihe von Übergangsformen finden wir zwar auch in der jetzt lebenden
Welt, z. B. den Peripatus als Verbindungsglied zwischen Ringelwürmern und
Insekten, den Amphioxus als untersten, zu den Mantelschnecken hinneigenden
Vertreter der Wirbeltiere, innerhalb dieser die sogenannten Lungenfische, Ceratodus,
Protopterus usw., als Vermittler zwischen Fischen und Amphibien, endlich das
Schnabeltier, das halb Vogel, halb Säugetier zu sein scheint. Freilich würde
man, da niemand die Säugetiere vom Vogelreich abstammen läßt, auf dieses
treffliche Vieh für die Deszendenz verzichten müssen, wenn man nicht Vögel und
Reptilien schon längst zu der gemeinsamen Klasse der Sauropsiden zusammen¬
gefaßt hätte. Zu diesen führt also der Weg durch das Schnabeltier.

Um andere Übergänge zu finden, müssen wir uns aber, wie gesagt, an
die Paläontologie wenden, und wer in das Labyrinth der fossilienführenden
Erdschichten eindringen soll, wird dankbar sein für einen Ariadnefaden, der ihm
die Richtung anzeigt, in der er zu suchen hat. Diesen Ariadnefaden will uns
Häckel geben in seinem schon vorhin erwähnten biogenetischen Grundgesetz,
welches aussagt, daß die Entwicklungsgeschichte des einzelnen Individuums, die
Ontogenie, eine kurze Rekapitulation der Stammesgeschichte, der Phylogenie,
darstellt. Die Theorie stützt sich auf vielfache, wirklich auffallende Tatsachen
der vergleichenden Anatomie und Entwicklungsgeschichte, von denen wir nur die
rudimentären Organe kurz streifen wollen. Der Laie denkt heutzutage bei der
Erwähnung dieses Wortes sofort an den Blinddarm. Er hat auch meistens
von den Zweifeln gehört, denen dessen Auffassung als rudimentäres Organ
vielerwärts begegnet, und hält damit die ganze Frage für erledigt. Es gibt
jedoch eine große Reihe wirklich rudimentärer Organe, die keine andere Deutung
zulassen, ich nenne z. B. die Hinterextremitüten der Walfische, deren Knochen¬
reste tief im massigen Körper der Tiere funktionslos begraben liegen, an den
Schultergürtel der Blindschleichen, der keine Extremitäten zu stützen hat, an die
Flügelreste des Kiwi, die oberen Schneidezähne des Kalbes, die das Rind nicht
mehr besitzt, obgleich es seine Zähne mehr braucht als das Kalb, die Kiemen
der Bergsalamander, die schon vor der Geburt wieder verschwinden, also nie
zur Funktion kommen, obgleich sie nachweislich funktionieren können, und vieles
andere.

Ohne noch auf die. anderen Gründe für die Theorie eingehen zu können,
muß ich noch das kurz erwähnen, was gegen sie spricht. Schon Häckel selbst
sah sich genötigt, neben der echten Palingenese, d. h. der Wiederholung von
Zuständen, die die Ahnen einst durchgemacht haben, eine sogenannte Känogenese,
d. h. Neuentstehung mancher Organe anzunehmen, die nicht mit der Stammes¬
geschichte in Einklang zu bringen sind. Es ist aber dadurch der Willkür natürlich
Tür und Tor geöffnet, indem man nun jedes Organ, je nachdem es in den ^
hypothetischen Entwicklungsgang paßt oder nicht, als palingenetisch oder taro-


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[0075] Naturerkenntnis und Weltanschauung hinabsteigen und die Ergebnisse paläontologischer Forschung zu Rate ziehen müssen. Eine Reihe von Übergangsformen finden wir zwar auch in der jetzt lebenden Welt, z. B. den Peripatus als Verbindungsglied zwischen Ringelwürmern und Insekten, den Amphioxus als untersten, zu den Mantelschnecken hinneigenden Vertreter der Wirbeltiere, innerhalb dieser die sogenannten Lungenfische, Ceratodus, Protopterus usw., als Vermittler zwischen Fischen und Amphibien, endlich das Schnabeltier, das halb Vogel, halb Säugetier zu sein scheint. Freilich würde man, da niemand die Säugetiere vom Vogelreich abstammen läßt, auf dieses treffliche Vieh für die Deszendenz verzichten müssen, wenn man nicht Vögel und Reptilien schon längst zu der gemeinsamen Klasse der Sauropsiden zusammen¬ gefaßt hätte. Zu diesen führt also der Weg durch das Schnabeltier. Um andere Übergänge zu finden, müssen wir uns aber, wie gesagt, an die Paläontologie wenden, und wer in das Labyrinth der fossilienführenden Erdschichten eindringen soll, wird dankbar sein für einen Ariadnefaden, der ihm die Richtung anzeigt, in der er zu suchen hat. Diesen Ariadnefaden will uns Häckel geben in seinem schon vorhin erwähnten biogenetischen Grundgesetz, welches aussagt, daß die Entwicklungsgeschichte des einzelnen Individuums, die Ontogenie, eine kurze Rekapitulation der Stammesgeschichte, der Phylogenie, darstellt. Die Theorie stützt sich auf vielfache, wirklich auffallende Tatsachen der vergleichenden Anatomie und Entwicklungsgeschichte, von denen wir nur die rudimentären Organe kurz streifen wollen. Der Laie denkt heutzutage bei der Erwähnung dieses Wortes sofort an den Blinddarm. Er hat auch meistens von den Zweifeln gehört, denen dessen Auffassung als rudimentäres Organ vielerwärts begegnet, und hält damit die ganze Frage für erledigt. Es gibt jedoch eine große Reihe wirklich rudimentärer Organe, die keine andere Deutung zulassen, ich nenne z. B. die Hinterextremitüten der Walfische, deren Knochen¬ reste tief im massigen Körper der Tiere funktionslos begraben liegen, an den Schultergürtel der Blindschleichen, der keine Extremitäten zu stützen hat, an die Flügelreste des Kiwi, die oberen Schneidezähne des Kalbes, die das Rind nicht mehr besitzt, obgleich es seine Zähne mehr braucht als das Kalb, die Kiemen der Bergsalamander, die schon vor der Geburt wieder verschwinden, also nie zur Funktion kommen, obgleich sie nachweislich funktionieren können, und vieles andere. Ohne noch auf die. anderen Gründe für die Theorie eingehen zu können, muß ich noch das kurz erwähnen, was gegen sie spricht. Schon Häckel selbst sah sich genötigt, neben der echten Palingenese, d. h. der Wiederholung von Zuständen, die die Ahnen einst durchgemacht haben, eine sogenannte Känogenese, d. h. Neuentstehung mancher Organe anzunehmen, die nicht mit der Stammes¬ geschichte in Einklang zu bringen sind. Es ist aber dadurch der Willkür natürlich Tür und Tor geöffnet, indem man nun jedes Organ, je nachdem es in den ^ hypothetischen Entwicklungsgang paßt oder nicht, als palingenetisch oder taro-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/75>, abgerufen am 03.07.2024.