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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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Naturerkcnntnis und Meltcmschcmmig

Willens, also eines persönlichen Gottes. Auf der anderen Seite aber ist es
selbstverständlich, daß die Naturwissenschaft in ihren: Bestreben, die Welt unter dem
Gesichtspunkte von Ursache und Wirkung zu erfassen, darauf aus sein muß, den
Begriff eines allmächtigen Gottes als etwas Inkommensurables möglichst aus¬
zuschalten. Das wird erreicht, wenn es gelingt, an Stelle von Teleologie
Kausalität nachzuweisen, d. h. an Stelle von erstrebten Zwecken zwingende, aber
blinde Gründe. Dies ist das Ziel und der Anspruch des Darwinismus.

Während Darwins Vorgänger, Lamarck, bei der vorausgesetzten Umwandlung
einer Art in die andere zwar den Verlust vorhandener Organe auf den Nicht-
gebrauch, also etwas Mechanisches, zurückführt, dagegen die Neuerwerbung von
Organen einem inneren, wenn auch unbewußt empfundenen Bedürfnis zuschreibt,
also etwas Psychischen, sucht Charles Darwin dieses Psychische, die inkommensurable
Größe, auszuschalten. Es gilt ihm also, die Entstehung einer jeden höher
organisierten Tierklasse aus niederen usw. bis aus einzelligen Arten plausibel
zu machen, schließlich das einzellige Wesen von anorganischen Stoffe entstehen
zu lassen, und das alles ohne Ziel, nur nach zwingenden Gründen.

Die drei Hilfsmittel, die der schaffenden Natur zugestanden werden, sind
1. die Variation, 2. die Vererbung. 3. der Kampf ums Dasein mit Einschluß
der Veränderung der äußeren Umgebung. Alle drei liegen im Bereich der Erfahrung
eines jeden, so daß es nicht einmal des umfassenden Materials bedürfte, was
Darwin und seine Nachfolger beigebracht haben, um ihre Realität zu beweisen.

Als Beispiel nehmen wir ein Hasenpaar, das durch seine Wanderungen
nach dem Norden verschlagen ist. In einem Wurf befinden sich einige Junge,
deren Winterkleid etwas Heller ist als das der Geschwister, also eine Variation.
Infolgedessen sind sie im langen schneereichen Winter durch bessere Anpassung
an das Gelände vor Verfolgung besser geschützt als die dunkleren Hasen. Sie
werden leichter dazu kommen, ihr Geschlecht fortzupflanzen; in ihren: Nachwuchs
befinden sich infolge der Vererbung mehr helle Hasen als in anderen Wurfen;
für diese gelten dieselben Vorteile wie für die Eltern, und so entsteht allmählich
im Laufe der Jahrhunderte der Schneehase mit fast ganz weißem Winterpelz.
Man bezeichnet diesen Vorgang als Selektion oder natürliche Zuchtwahl und
hat damit nach Darwin den Weg gefunden, auf dem alle Tier- und Pflanzen¬
arten sich im Laufe der Erdgeschichte aus niederen und schließlich aus der ein¬
zelnen Zelle entwickelt haben.

Man darf sich nun die Sache nicht so vorstellen, als ob sämtliche jetzt
lebenden Tierarten in eine kontinuierliche Reihe gebracht werden könnten, wo
immer eine Art den unmittelbaren Vorfahren der nächst höheren darstellte. Man
muß vielmehr, auch wenn man an der monophyletischen, d. h. eine gemeinsame
Urform annehmenden Entwicklung festhält, an einen Stammbaum denken, der
sich schon sehr frühzeitig verästelte und dessen äußerste Zweigspitzen durch die
heute lebenden Organismen repräsentiert werden. Um die Verbindungsglieder
kennen zu lernen, wird man daher vielfach in die Vorgeschichte der Erde


Naturerkcnntnis und Meltcmschcmmig

Willens, also eines persönlichen Gottes. Auf der anderen Seite aber ist es
selbstverständlich, daß die Naturwissenschaft in ihren: Bestreben, die Welt unter dem
Gesichtspunkte von Ursache und Wirkung zu erfassen, darauf aus sein muß, den
Begriff eines allmächtigen Gottes als etwas Inkommensurables möglichst aus¬
zuschalten. Das wird erreicht, wenn es gelingt, an Stelle von Teleologie
Kausalität nachzuweisen, d. h. an Stelle von erstrebten Zwecken zwingende, aber
blinde Gründe. Dies ist das Ziel und der Anspruch des Darwinismus.

Während Darwins Vorgänger, Lamarck, bei der vorausgesetzten Umwandlung
einer Art in die andere zwar den Verlust vorhandener Organe auf den Nicht-
gebrauch, also etwas Mechanisches, zurückführt, dagegen die Neuerwerbung von
Organen einem inneren, wenn auch unbewußt empfundenen Bedürfnis zuschreibt,
also etwas Psychischen, sucht Charles Darwin dieses Psychische, die inkommensurable
Größe, auszuschalten. Es gilt ihm also, die Entstehung einer jeden höher
organisierten Tierklasse aus niederen usw. bis aus einzelligen Arten plausibel
zu machen, schließlich das einzellige Wesen von anorganischen Stoffe entstehen
zu lassen, und das alles ohne Ziel, nur nach zwingenden Gründen.

Die drei Hilfsmittel, die der schaffenden Natur zugestanden werden, sind
1. die Variation, 2. die Vererbung. 3. der Kampf ums Dasein mit Einschluß
der Veränderung der äußeren Umgebung. Alle drei liegen im Bereich der Erfahrung
eines jeden, so daß es nicht einmal des umfassenden Materials bedürfte, was
Darwin und seine Nachfolger beigebracht haben, um ihre Realität zu beweisen.

Als Beispiel nehmen wir ein Hasenpaar, das durch seine Wanderungen
nach dem Norden verschlagen ist. In einem Wurf befinden sich einige Junge,
deren Winterkleid etwas Heller ist als das der Geschwister, also eine Variation.
Infolgedessen sind sie im langen schneereichen Winter durch bessere Anpassung
an das Gelände vor Verfolgung besser geschützt als die dunkleren Hasen. Sie
werden leichter dazu kommen, ihr Geschlecht fortzupflanzen; in ihren: Nachwuchs
befinden sich infolge der Vererbung mehr helle Hasen als in anderen Wurfen;
für diese gelten dieselben Vorteile wie für die Eltern, und so entsteht allmählich
im Laufe der Jahrhunderte der Schneehase mit fast ganz weißem Winterpelz.
Man bezeichnet diesen Vorgang als Selektion oder natürliche Zuchtwahl und
hat damit nach Darwin den Weg gefunden, auf dem alle Tier- und Pflanzen¬
arten sich im Laufe der Erdgeschichte aus niederen und schließlich aus der ein¬
zelnen Zelle entwickelt haben.

Man darf sich nun die Sache nicht so vorstellen, als ob sämtliche jetzt
lebenden Tierarten in eine kontinuierliche Reihe gebracht werden könnten, wo
immer eine Art den unmittelbaren Vorfahren der nächst höheren darstellte. Man
muß vielmehr, auch wenn man an der monophyletischen, d. h. eine gemeinsame
Urform annehmenden Entwicklung festhält, an einen Stammbaum denken, der
sich schon sehr frühzeitig verästelte und dessen äußerste Zweigspitzen durch die
heute lebenden Organismen repräsentiert werden. Um die Verbindungsglieder
kennen zu lernen, wird man daher vielfach in die Vorgeschichte der Erde


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[0074] Naturerkcnntnis und Meltcmschcmmig Willens, also eines persönlichen Gottes. Auf der anderen Seite aber ist es selbstverständlich, daß die Naturwissenschaft in ihren: Bestreben, die Welt unter dem Gesichtspunkte von Ursache und Wirkung zu erfassen, darauf aus sein muß, den Begriff eines allmächtigen Gottes als etwas Inkommensurables möglichst aus¬ zuschalten. Das wird erreicht, wenn es gelingt, an Stelle von Teleologie Kausalität nachzuweisen, d. h. an Stelle von erstrebten Zwecken zwingende, aber blinde Gründe. Dies ist das Ziel und der Anspruch des Darwinismus. Während Darwins Vorgänger, Lamarck, bei der vorausgesetzten Umwandlung einer Art in die andere zwar den Verlust vorhandener Organe auf den Nicht- gebrauch, also etwas Mechanisches, zurückführt, dagegen die Neuerwerbung von Organen einem inneren, wenn auch unbewußt empfundenen Bedürfnis zuschreibt, also etwas Psychischen, sucht Charles Darwin dieses Psychische, die inkommensurable Größe, auszuschalten. Es gilt ihm also, die Entstehung einer jeden höher organisierten Tierklasse aus niederen usw. bis aus einzelligen Arten plausibel zu machen, schließlich das einzellige Wesen von anorganischen Stoffe entstehen zu lassen, und das alles ohne Ziel, nur nach zwingenden Gründen. Die drei Hilfsmittel, die der schaffenden Natur zugestanden werden, sind 1. die Variation, 2. die Vererbung. 3. der Kampf ums Dasein mit Einschluß der Veränderung der äußeren Umgebung. Alle drei liegen im Bereich der Erfahrung eines jeden, so daß es nicht einmal des umfassenden Materials bedürfte, was Darwin und seine Nachfolger beigebracht haben, um ihre Realität zu beweisen. Als Beispiel nehmen wir ein Hasenpaar, das durch seine Wanderungen nach dem Norden verschlagen ist. In einem Wurf befinden sich einige Junge, deren Winterkleid etwas Heller ist als das der Geschwister, also eine Variation. Infolgedessen sind sie im langen schneereichen Winter durch bessere Anpassung an das Gelände vor Verfolgung besser geschützt als die dunkleren Hasen. Sie werden leichter dazu kommen, ihr Geschlecht fortzupflanzen; in ihren: Nachwuchs befinden sich infolge der Vererbung mehr helle Hasen als in anderen Wurfen; für diese gelten dieselben Vorteile wie für die Eltern, und so entsteht allmählich im Laufe der Jahrhunderte der Schneehase mit fast ganz weißem Winterpelz. Man bezeichnet diesen Vorgang als Selektion oder natürliche Zuchtwahl und hat damit nach Darwin den Weg gefunden, auf dem alle Tier- und Pflanzen¬ arten sich im Laufe der Erdgeschichte aus niederen und schließlich aus der ein¬ zelnen Zelle entwickelt haben. Man darf sich nun die Sache nicht so vorstellen, als ob sämtliche jetzt lebenden Tierarten in eine kontinuierliche Reihe gebracht werden könnten, wo immer eine Art den unmittelbaren Vorfahren der nächst höheren darstellte. Man muß vielmehr, auch wenn man an der monophyletischen, d. h. eine gemeinsame Urform annehmenden Entwicklung festhält, an einen Stammbaum denken, der sich schon sehr frühzeitig verästelte und dessen äußerste Zweigspitzen durch die heute lebenden Organismen repräsentiert werden. Um die Verbindungsglieder kennen zu lernen, wird man daher vielfach in die Vorgeschichte der Erde

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/74>, abgerufen am 03.07.2024.