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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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Rußlands Lage und Aufgaben im fernen Gsten

jedes Provinzblcitt hat ja argwöhnisch alle Schritte der inneren und äußeren
Politik Rußlands und alle Veränderungen in seinem Heerwesen verfolgt. Dem
Gedanken entspricht die Art und der Umfang der Vervollkommnung des javanischen
Heerwesens.

In China haben die sich an seinen Toren abspielenden Ereignisse des
Krieges 1904/05 der Negierung in Peking die Augen völlig dafür geöffnet,
daß die Furcht vor den elementaren Kräften des gewaltigen Reiches lediglich
in ihrer Einbildung vorhanden war und daß ein moderner Staat ein wirkliches
Heer und eine wirkliche Flotte nicht entbehren kann. Eine Reihe Verordnungen
hatte allerdings schon vorher unter scharfen Strafandrohungen den Erfolg gehabt,
daß die Generalgouverneure sich mit der Umbildung ihrer Truppen befaßten.
Aber der Anfang war schwer. Es fehlte an einer geeigneten Grundlage, an
brauchbaren Persönlichkeiten, an Mitteln und an der durchaus notwendigen
Einheit in der Auffassung, an Gemeinsinn. Die Truppen erreichten niemals
die vorgeschriebenen Stärken. Es herrschten im Rechnungswesen unsagbare
Mißbräuche: die älteren Offiziere benutzten ihre Stellung nicht zur militärischen
Ausbildung, sondern um ihre Taschen zu füllen. Zudem stand der Militär¬
dienst durchaus in keiner besonderen Achtung. Erst seit Unan fehl kais energisch
einsetzender Tätigkeit schritt das Reformwerk schneller vorwärts. Aber die
Truppenneubildungen sind mit etwa 250 Jnfanteriebataillonen und 20 Reiter¬
regimentern für das weite Reich immer noch verschwindend wenig. Dazu kommt,
daß die Truppen sich durch Anwerbung ergänzen und nach dem chinesischen
Sprichwort: "Aus gutem Eisen fertigt man keine Nägel, tüchtige Männer werden
nicht Soldaten", nicht gerade das beste Material erhalten, daß von territorialer
Ergänzung keine Rede und Fahnenflucht eine häufige Erscheinung ist, sowie
daß diese Art der Ergänzung, wenn der Krieg droht, ganz wenig Erfolg ver¬
spricht. Solange schließlich der Reichsgedanke durch die große Selbständigkeit
der Provinzen beeinträchtigt ist, solange kann auch von einem nationalen Heere
und von gemeinsamer Verwendung nicht recht die Rede sein.

Die jetzt bestehenden Anfänge kranken an dem Mangel tüchtiger Offiziere
namentlich in den oberen Stellungen. Sie führen eine ganz verschiedenartige
und vielfach veraltete Bewaffnung und Ausstattung in technischer Beziehung.
Aber wenn der chinesischen bewaffneten Macht auch noch ein langer und beschwer¬
licher Pfad aufwärts zur Höhe moderner Heeresverfassung nach europäischem
Muster bevorsteht, so darf doch nicht verkannt werden, daß unleugbare, vor
zehn Jahren undenkbare Fortschritte bereits gemacht sind und mit den besser
bewaffneten und ausgebildeten Divisionen Chinas ernstlich gerechnet werden muß.

Gegenüber dieser Entwicklung der Streitkräfte der beiden Großstaaten des
fernen Ostens darf Rußland sich nicht auf politische Bündnisse und Abkommen
verlassen und die Hände in den Schoß legen. Vielmehr muß es die Neichs-
verteidigung in jeder Hinsicht zu verbessern und zu vervollkommnen, nämlich
die aktiven Streitkräfte zu vermehren, die Verteidigungsmittel zu verstärken, die


Rußlands Lage und Aufgaben im fernen Gsten

jedes Provinzblcitt hat ja argwöhnisch alle Schritte der inneren und äußeren
Politik Rußlands und alle Veränderungen in seinem Heerwesen verfolgt. Dem
Gedanken entspricht die Art und der Umfang der Vervollkommnung des javanischen
Heerwesens.

In China haben die sich an seinen Toren abspielenden Ereignisse des
Krieges 1904/05 der Negierung in Peking die Augen völlig dafür geöffnet,
daß die Furcht vor den elementaren Kräften des gewaltigen Reiches lediglich
in ihrer Einbildung vorhanden war und daß ein moderner Staat ein wirkliches
Heer und eine wirkliche Flotte nicht entbehren kann. Eine Reihe Verordnungen
hatte allerdings schon vorher unter scharfen Strafandrohungen den Erfolg gehabt,
daß die Generalgouverneure sich mit der Umbildung ihrer Truppen befaßten.
Aber der Anfang war schwer. Es fehlte an einer geeigneten Grundlage, an
brauchbaren Persönlichkeiten, an Mitteln und an der durchaus notwendigen
Einheit in der Auffassung, an Gemeinsinn. Die Truppen erreichten niemals
die vorgeschriebenen Stärken. Es herrschten im Rechnungswesen unsagbare
Mißbräuche: die älteren Offiziere benutzten ihre Stellung nicht zur militärischen
Ausbildung, sondern um ihre Taschen zu füllen. Zudem stand der Militär¬
dienst durchaus in keiner besonderen Achtung. Erst seit Unan fehl kais energisch
einsetzender Tätigkeit schritt das Reformwerk schneller vorwärts. Aber die
Truppenneubildungen sind mit etwa 250 Jnfanteriebataillonen und 20 Reiter¬
regimentern für das weite Reich immer noch verschwindend wenig. Dazu kommt,
daß die Truppen sich durch Anwerbung ergänzen und nach dem chinesischen
Sprichwort: „Aus gutem Eisen fertigt man keine Nägel, tüchtige Männer werden
nicht Soldaten", nicht gerade das beste Material erhalten, daß von territorialer
Ergänzung keine Rede und Fahnenflucht eine häufige Erscheinung ist, sowie
daß diese Art der Ergänzung, wenn der Krieg droht, ganz wenig Erfolg ver¬
spricht. Solange schließlich der Reichsgedanke durch die große Selbständigkeit
der Provinzen beeinträchtigt ist, solange kann auch von einem nationalen Heere
und von gemeinsamer Verwendung nicht recht die Rede sein.

Die jetzt bestehenden Anfänge kranken an dem Mangel tüchtiger Offiziere
namentlich in den oberen Stellungen. Sie führen eine ganz verschiedenartige
und vielfach veraltete Bewaffnung und Ausstattung in technischer Beziehung.
Aber wenn der chinesischen bewaffneten Macht auch noch ein langer und beschwer¬
licher Pfad aufwärts zur Höhe moderner Heeresverfassung nach europäischem
Muster bevorsteht, so darf doch nicht verkannt werden, daß unleugbare, vor
zehn Jahren undenkbare Fortschritte bereits gemacht sind und mit den besser
bewaffneten und ausgebildeten Divisionen Chinas ernstlich gerechnet werden muß.

Gegenüber dieser Entwicklung der Streitkräfte der beiden Großstaaten des
fernen Ostens darf Rußland sich nicht auf politische Bündnisse und Abkommen
verlassen und die Hände in den Schoß legen. Vielmehr muß es die Neichs-
verteidigung in jeder Hinsicht zu verbessern und zu vervollkommnen, nämlich
die aktiven Streitkräfte zu vermehren, die Verteidigungsmittel zu verstärken, die


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[0071] Rußlands Lage und Aufgaben im fernen Gsten jedes Provinzblcitt hat ja argwöhnisch alle Schritte der inneren und äußeren Politik Rußlands und alle Veränderungen in seinem Heerwesen verfolgt. Dem Gedanken entspricht die Art und der Umfang der Vervollkommnung des javanischen Heerwesens. In China haben die sich an seinen Toren abspielenden Ereignisse des Krieges 1904/05 der Negierung in Peking die Augen völlig dafür geöffnet, daß die Furcht vor den elementaren Kräften des gewaltigen Reiches lediglich in ihrer Einbildung vorhanden war und daß ein moderner Staat ein wirkliches Heer und eine wirkliche Flotte nicht entbehren kann. Eine Reihe Verordnungen hatte allerdings schon vorher unter scharfen Strafandrohungen den Erfolg gehabt, daß die Generalgouverneure sich mit der Umbildung ihrer Truppen befaßten. Aber der Anfang war schwer. Es fehlte an einer geeigneten Grundlage, an brauchbaren Persönlichkeiten, an Mitteln und an der durchaus notwendigen Einheit in der Auffassung, an Gemeinsinn. Die Truppen erreichten niemals die vorgeschriebenen Stärken. Es herrschten im Rechnungswesen unsagbare Mißbräuche: die älteren Offiziere benutzten ihre Stellung nicht zur militärischen Ausbildung, sondern um ihre Taschen zu füllen. Zudem stand der Militär¬ dienst durchaus in keiner besonderen Achtung. Erst seit Unan fehl kais energisch einsetzender Tätigkeit schritt das Reformwerk schneller vorwärts. Aber die Truppenneubildungen sind mit etwa 250 Jnfanteriebataillonen und 20 Reiter¬ regimentern für das weite Reich immer noch verschwindend wenig. Dazu kommt, daß die Truppen sich durch Anwerbung ergänzen und nach dem chinesischen Sprichwort: „Aus gutem Eisen fertigt man keine Nägel, tüchtige Männer werden nicht Soldaten", nicht gerade das beste Material erhalten, daß von territorialer Ergänzung keine Rede und Fahnenflucht eine häufige Erscheinung ist, sowie daß diese Art der Ergänzung, wenn der Krieg droht, ganz wenig Erfolg ver¬ spricht. Solange schließlich der Reichsgedanke durch die große Selbständigkeit der Provinzen beeinträchtigt ist, solange kann auch von einem nationalen Heere und von gemeinsamer Verwendung nicht recht die Rede sein. Die jetzt bestehenden Anfänge kranken an dem Mangel tüchtiger Offiziere namentlich in den oberen Stellungen. Sie führen eine ganz verschiedenartige und vielfach veraltete Bewaffnung und Ausstattung in technischer Beziehung. Aber wenn der chinesischen bewaffneten Macht auch noch ein langer und beschwer¬ licher Pfad aufwärts zur Höhe moderner Heeresverfassung nach europäischem Muster bevorsteht, so darf doch nicht verkannt werden, daß unleugbare, vor zehn Jahren undenkbare Fortschritte bereits gemacht sind und mit den besser bewaffneten und ausgebildeten Divisionen Chinas ernstlich gerechnet werden muß. Gegenüber dieser Entwicklung der Streitkräfte der beiden Großstaaten des fernen Ostens darf Rußland sich nicht auf politische Bündnisse und Abkommen verlassen und die Hände in den Schoß legen. Vielmehr muß es die Neichs- verteidigung in jeder Hinsicht zu verbessern und zu vervollkommnen, nämlich die aktiven Streitkräfte zu vermehren, die Verteidigungsmittel zu verstärken, die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/71>, abgerufen am 01.10.2024.