Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Rußlands Lage und Aufgaben im fernen Osten

der Aufmarsch im vorigen Kriege. Es ist auch kein Zweifel, daß, wenn die
sibirische Bahn zu Anfang des Krieges so leistungsfähig gewesen wäre, wie sie
es gegen Schluß war, der Krieg früher und für die Russen wohl auch erfolgreich
hätte beendet werden können. Diese von den Japanern voll gewürdigte Wahr¬
scheinlichkeit Und ihre Kenntnis der damaligen beschränkten Leistungsfähigkeit der
Eisenbahn waren für sie wohleinHauptgrund, esdurch entschlossen vorgehende Politik
zu günstiger Zeit zum Bruch zu treiben. Durch nichts wird diese Ansicht besser
bestätigt, als durch die Äußerung des am Ualu gefangen genommenen Majors
im javanischen Generalstabe: "Wir-wissen, daß Rußland ein mächtiges Reich
und an Hilfsquellen stärker ist als Japan; aber seine Stärke ruht in Europa.
Auf der anderen Seite des asiatischen Kontinents ist es vorläufig schwächer als
Japan; hier können beträchtliche Truppenstärken, überlegene Kräfte erst vereinigt
werden, wenn Japan das Ziel des Krieges erreicht hat."

Es kommt also auch jetzt sür Rußland nicht sowohl darauf an, an der
fernen Grenze viele Armeekorps zu unterhalten, als vielmehr in: Bedarfsfalle
über den asiatischen Kontinent schnell Armeen hinüberführen zu können. Vor
dieser Aufgabe müssen alle weiteren Fragen, auch die des Festungsbaues, in
zweite Linie treten. Denn nur eine Armee kann den Gegner zwingen, eine
begonnene Belagerung aufzuheben. Aber allerdings, wenn Festungen auch nicht
die Möglichkeit der Heranführung von starken Kräften in bedrohte Gebiete
ersetzen können, so geben sie doch die Aussicht, Zeit zu gewinnen und die
Operationen des Gegners an einer Stelle zu sesseln, um sich an einer anderen
auf ihn stürzen zu können. Wenn dann die an Ort und Stelle befindlichen
Streitkräfte so stark sind, daß sie, gestützt auf Festungen, die ersten Stöße des
Feindes bis zur Ankunft von Verstärkungen aus Europa aushalten können, so
ist der richtige Mittelweg zwischen Truppenaufgebot und Vorbereitung der Landes¬
verteidigung gefunden. Welche Kräfte können Rußland in: fernen Osten zunächst
entgegentreten?

Japan hatte schon zu Ende des Krieges die Notwendigkeit einer weiteren
erheblichen Verstärkung seiner Streitkräfte erkannt, nachdem während des Krieges
die Zahl der Feldtruppen um ein Drittel vermehrt und die Reserveverbände
erweitert worden waren. Nach dem japanischen Grundsatz: "Wenn du Erfolg im
Kampfe gehabt hast, so setze dir den Helm fester", ist die Zahl der Divisionen von
dreizehn auf neunzehn Divisionen (ungerechnet die selbständigen Kavallerie-, Artillerie-
und Vcrkehrstruppenbrigaden und die schwere Artillerie) erhöht worden; die
Reservebrigaden sind Divisionen geworden, und die jährliche Aushebungsziffer
hat sich verdoppelt; die Einführung der zweijährigen Dienstzeit bei der Infanterie
ergibt eine beträchtliche Vermehrung der Zahl der gedienten Mannschaften. Der
Zugang an Offizieren hat sich verdreifacht. Neue Bewaffnung und Ausrüstung
ist eingeführt, und die Ausgaben für das Heer haben sich um das Doppelte
gehoben. Unzweifelhaft hat dieser Verstärkung der Streitmacht der Gedanke
zugrunde gelegen, sich gegen einen Revanchekrieg mit Rußland sichern zu müssen --


Rußlands Lage und Aufgaben im fernen Osten

der Aufmarsch im vorigen Kriege. Es ist auch kein Zweifel, daß, wenn die
sibirische Bahn zu Anfang des Krieges so leistungsfähig gewesen wäre, wie sie
es gegen Schluß war, der Krieg früher und für die Russen wohl auch erfolgreich
hätte beendet werden können. Diese von den Japanern voll gewürdigte Wahr¬
scheinlichkeit Und ihre Kenntnis der damaligen beschränkten Leistungsfähigkeit der
Eisenbahn waren für sie wohleinHauptgrund, esdurch entschlossen vorgehende Politik
zu günstiger Zeit zum Bruch zu treiben. Durch nichts wird diese Ansicht besser
bestätigt, als durch die Äußerung des am Ualu gefangen genommenen Majors
im javanischen Generalstabe: „Wir-wissen, daß Rußland ein mächtiges Reich
und an Hilfsquellen stärker ist als Japan; aber seine Stärke ruht in Europa.
Auf der anderen Seite des asiatischen Kontinents ist es vorläufig schwächer als
Japan; hier können beträchtliche Truppenstärken, überlegene Kräfte erst vereinigt
werden, wenn Japan das Ziel des Krieges erreicht hat."

Es kommt also auch jetzt sür Rußland nicht sowohl darauf an, an der
fernen Grenze viele Armeekorps zu unterhalten, als vielmehr in: Bedarfsfalle
über den asiatischen Kontinent schnell Armeen hinüberführen zu können. Vor
dieser Aufgabe müssen alle weiteren Fragen, auch die des Festungsbaues, in
zweite Linie treten. Denn nur eine Armee kann den Gegner zwingen, eine
begonnene Belagerung aufzuheben. Aber allerdings, wenn Festungen auch nicht
die Möglichkeit der Heranführung von starken Kräften in bedrohte Gebiete
ersetzen können, so geben sie doch die Aussicht, Zeit zu gewinnen und die
Operationen des Gegners an einer Stelle zu sesseln, um sich an einer anderen
auf ihn stürzen zu können. Wenn dann die an Ort und Stelle befindlichen
Streitkräfte so stark sind, daß sie, gestützt auf Festungen, die ersten Stöße des
Feindes bis zur Ankunft von Verstärkungen aus Europa aushalten können, so
ist der richtige Mittelweg zwischen Truppenaufgebot und Vorbereitung der Landes¬
verteidigung gefunden. Welche Kräfte können Rußland in: fernen Osten zunächst
entgegentreten?

Japan hatte schon zu Ende des Krieges die Notwendigkeit einer weiteren
erheblichen Verstärkung seiner Streitkräfte erkannt, nachdem während des Krieges
die Zahl der Feldtruppen um ein Drittel vermehrt und die Reserveverbände
erweitert worden waren. Nach dem japanischen Grundsatz: „Wenn du Erfolg im
Kampfe gehabt hast, so setze dir den Helm fester", ist die Zahl der Divisionen von
dreizehn auf neunzehn Divisionen (ungerechnet die selbständigen Kavallerie-, Artillerie-
und Vcrkehrstruppenbrigaden und die schwere Artillerie) erhöht worden; die
Reservebrigaden sind Divisionen geworden, und die jährliche Aushebungsziffer
hat sich verdoppelt; die Einführung der zweijährigen Dienstzeit bei der Infanterie
ergibt eine beträchtliche Vermehrung der Zahl der gedienten Mannschaften. Der
Zugang an Offizieren hat sich verdreifacht. Neue Bewaffnung und Ausrüstung
ist eingeführt, und die Ausgaben für das Heer haben sich um das Doppelte
gehoben. Unzweifelhaft hat dieser Verstärkung der Streitmacht der Gedanke
zugrunde gelegen, sich gegen einen Revanchekrieg mit Rußland sichern zu müssen —


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0070" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/318353"/>
          <fw type="header" place="top"> Rußlands Lage und Aufgaben im fernen Osten</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_269" prev="#ID_268"> der Aufmarsch im vorigen Kriege. Es ist auch kein Zweifel, daß, wenn die<lb/>
sibirische Bahn zu Anfang des Krieges so leistungsfähig gewesen wäre, wie sie<lb/>
es gegen Schluß war, der Krieg früher und für die Russen wohl auch erfolgreich<lb/>
hätte beendet werden können. Diese von den Japanern voll gewürdigte Wahr¬<lb/>
scheinlichkeit Und ihre Kenntnis der damaligen beschränkten Leistungsfähigkeit der<lb/>
Eisenbahn waren für sie wohleinHauptgrund, esdurch entschlossen vorgehende Politik<lb/>
zu günstiger Zeit zum Bruch zu treiben. Durch nichts wird diese Ansicht besser<lb/>
bestätigt, als durch die Äußerung des am Ualu gefangen genommenen Majors<lb/>
im javanischen Generalstabe: &#x201E;Wir-wissen, daß Rußland ein mächtiges Reich<lb/>
und an Hilfsquellen stärker ist als Japan; aber seine Stärke ruht in Europa.<lb/>
Auf der anderen Seite des asiatischen Kontinents ist es vorläufig schwächer als<lb/>
Japan; hier können beträchtliche Truppenstärken, überlegene Kräfte erst vereinigt<lb/>
werden, wenn Japan das Ziel des Krieges erreicht hat."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_270"> Es kommt also auch jetzt sür Rußland nicht sowohl darauf an, an der<lb/>
fernen Grenze viele Armeekorps zu unterhalten, als vielmehr in: Bedarfsfalle<lb/>
über den asiatischen Kontinent schnell Armeen hinüberführen zu können. Vor<lb/>
dieser Aufgabe müssen alle weiteren Fragen, auch die des Festungsbaues, in<lb/>
zweite Linie treten. Denn nur eine Armee kann den Gegner zwingen, eine<lb/>
begonnene Belagerung aufzuheben. Aber allerdings, wenn Festungen auch nicht<lb/>
die Möglichkeit der Heranführung von starken Kräften in bedrohte Gebiete<lb/>
ersetzen können, so geben sie doch die Aussicht, Zeit zu gewinnen und die<lb/>
Operationen des Gegners an einer Stelle zu sesseln, um sich an einer anderen<lb/>
auf ihn stürzen zu können. Wenn dann die an Ort und Stelle befindlichen<lb/>
Streitkräfte so stark sind, daß sie, gestützt auf Festungen, die ersten Stöße des<lb/>
Feindes bis zur Ankunft von Verstärkungen aus Europa aushalten können, so<lb/>
ist der richtige Mittelweg zwischen Truppenaufgebot und Vorbereitung der Landes¬<lb/>
verteidigung gefunden. Welche Kräfte können Rußland in: fernen Osten zunächst<lb/>
entgegentreten?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_271" next="#ID_272"> Japan hatte schon zu Ende des Krieges die Notwendigkeit einer weiteren<lb/>
erheblichen Verstärkung seiner Streitkräfte erkannt, nachdem während des Krieges<lb/>
die Zahl der Feldtruppen um ein Drittel vermehrt und die Reserveverbände<lb/>
erweitert worden waren. Nach dem japanischen Grundsatz: &#x201E;Wenn du Erfolg im<lb/>
Kampfe gehabt hast, so setze dir den Helm fester", ist die Zahl der Divisionen von<lb/>
dreizehn auf neunzehn Divisionen (ungerechnet die selbständigen Kavallerie-, Artillerie-<lb/>
und Vcrkehrstruppenbrigaden und die schwere Artillerie) erhöht worden; die<lb/>
Reservebrigaden sind Divisionen geworden, und die jährliche Aushebungsziffer<lb/>
hat sich verdoppelt; die Einführung der zweijährigen Dienstzeit bei der Infanterie<lb/>
ergibt eine beträchtliche Vermehrung der Zahl der gedienten Mannschaften. Der<lb/>
Zugang an Offizieren hat sich verdreifacht. Neue Bewaffnung und Ausrüstung<lb/>
ist eingeführt, und die Ausgaben für das Heer haben sich um das Doppelte<lb/>
gehoben. Unzweifelhaft hat dieser Verstärkung der Streitmacht der Gedanke<lb/>
zugrunde gelegen, sich gegen einen Revanchekrieg mit Rußland sichern zu müssen &#x2014;</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0070] Rußlands Lage und Aufgaben im fernen Osten der Aufmarsch im vorigen Kriege. Es ist auch kein Zweifel, daß, wenn die sibirische Bahn zu Anfang des Krieges so leistungsfähig gewesen wäre, wie sie es gegen Schluß war, der Krieg früher und für die Russen wohl auch erfolgreich hätte beendet werden können. Diese von den Japanern voll gewürdigte Wahr¬ scheinlichkeit Und ihre Kenntnis der damaligen beschränkten Leistungsfähigkeit der Eisenbahn waren für sie wohleinHauptgrund, esdurch entschlossen vorgehende Politik zu günstiger Zeit zum Bruch zu treiben. Durch nichts wird diese Ansicht besser bestätigt, als durch die Äußerung des am Ualu gefangen genommenen Majors im javanischen Generalstabe: „Wir-wissen, daß Rußland ein mächtiges Reich und an Hilfsquellen stärker ist als Japan; aber seine Stärke ruht in Europa. Auf der anderen Seite des asiatischen Kontinents ist es vorläufig schwächer als Japan; hier können beträchtliche Truppenstärken, überlegene Kräfte erst vereinigt werden, wenn Japan das Ziel des Krieges erreicht hat." Es kommt also auch jetzt sür Rußland nicht sowohl darauf an, an der fernen Grenze viele Armeekorps zu unterhalten, als vielmehr in: Bedarfsfalle über den asiatischen Kontinent schnell Armeen hinüberführen zu können. Vor dieser Aufgabe müssen alle weiteren Fragen, auch die des Festungsbaues, in zweite Linie treten. Denn nur eine Armee kann den Gegner zwingen, eine begonnene Belagerung aufzuheben. Aber allerdings, wenn Festungen auch nicht die Möglichkeit der Heranführung von starken Kräften in bedrohte Gebiete ersetzen können, so geben sie doch die Aussicht, Zeit zu gewinnen und die Operationen des Gegners an einer Stelle zu sesseln, um sich an einer anderen auf ihn stürzen zu können. Wenn dann die an Ort und Stelle befindlichen Streitkräfte so stark sind, daß sie, gestützt auf Festungen, die ersten Stöße des Feindes bis zur Ankunft von Verstärkungen aus Europa aushalten können, so ist der richtige Mittelweg zwischen Truppenaufgebot und Vorbereitung der Landes¬ verteidigung gefunden. Welche Kräfte können Rußland in: fernen Osten zunächst entgegentreten? Japan hatte schon zu Ende des Krieges die Notwendigkeit einer weiteren erheblichen Verstärkung seiner Streitkräfte erkannt, nachdem während des Krieges die Zahl der Feldtruppen um ein Drittel vermehrt und die Reserveverbände erweitert worden waren. Nach dem japanischen Grundsatz: „Wenn du Erfolg im Kampfe gehabt hast, so setze dir den Helm fester", ist die Zahl der Divisionen von dreizehn auf neunzehn Divisionen (ungerechnet die selbständigen Kavallerie-, Artillerie- und Vcrkehrstruppenbrigaden und die schwere Artillerie) erhöht worden; die Reservebrigaden sind Divisionen geworden, und die jährliche Aushebungsziffer hat sich verdoppelt; die Einführung der zweijährigen Dienstzeit bei der Infanterie ergibt eine beträchtliche Vermehrung der Zahl der gedienten Mannschaften. Der Zugang an Offizieren hat sich verdreifacht. Neue Bewaffnung und Ausrüstung ist eingeführt, und die Ausgaben für das Heer haben sich um das Doppelte gehoben. Unzweifelhaft hat dieser Verstärkung der Streitmacht der Gedanke zugrunde gelegen, sich gegen einen Revanchekrieg mit Rußland sichern zu müssen —

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/70
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/70>, abgerufen am 01.10.2024.