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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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Stlindoglicdcrimg und Ständevcrfassung

Stunde der Gesamtbevölkerung sowohl beim allgemeinen gleichen Rcichstags-
wahlrccht wie bei den Klassen- und Pluralwahlrechten der zweiten Kammern
und der derzeitigen Zusammensetzung der ersten Kammern eine angemessene
Vertretung oder eine Vertretung überhaupt nicht finden. Sie wird weiter dadurch
beeinträchtigt, daß den nach der Zahl oder den sonstigen Verhältnissen für die
Wahlen am meisten ins Gewicht fallenden Ständen eine vom Standpunkte des
gesamten Volkes nicht zu rechtfertigende Bevorzugung zuteil wird und die Par¬
teien sich hierbei auf Kosten der übrigen von ihnen vertretenen Stände sämtlich
beteiligen und womöglich überbieten. Eine weitere Trübung und Beeinträchti¬
gung sachgemäßer Behandlung und Beschlußfassung findet ferner dadurch statt,
daß vielfach überhaupt nicht nach sachlichen oder wirtschaftlichen Gründen und
Gesichtspunkten, sondern nach Rücksichten und Interessen der Parteipolitik ver¬
fahren und damit weder den betroffenen Ständen noch dem Volk als Ganzem
genützt wird.

> Eine Beteiligung der Stände als solcher an der Gesetzgebung, die Sicherung
eiuer ruhige", vou der Gunst der Wählcrmassen und dem Wechsel der poli¬
tischen Strömungen unabhängigen Vertretung aller Berufe und Erwerbsstände
neben den jetzigen Parlamenten oder in ihren: Rahmen würde diesen gegenüber
einen wirksamen Ausgleich bilden und die angeführten Mängel und deren nach¬
teilige Folgen verhüten helfen. Sie würde auch keineswegs ein Hinabsteigen
zu überlebten und überwundenen Einrichtungen, sondern ein Aufsteigen zu neuen,
vollkommeneren Verfassungsformen bedeuten. Was die individualistische Volks¬
wirtschaft und der moderne Staat überwinden und ablösen mußten, waren nicht
die Ständegliederung und Ständeverfassnng an sich, sondern ihre unhaltbar
und schädlich gewordenen Schranken und Vorrechte; nicht auf die Wieder¬
einführung von Schranken und Vorrechten würde aber die neue Stäudeverfassuug
abzielen, sondern auf eine unter den jetzigen Verhältnissen zu vermissende wirk¬
liche Gleichstellung aller Stände, auf die Beseitigung der Beschränkungen und
Bevorzugungen, die einzelnen Ständen aus den gegenwärtigen Zuständen
erwachsen. Auch diese neue ständische Verfassung wird aber, falls sie sich ver¬
wirklicht, kein Endziel, sondern nur eine weitere Stufe in der Gesamtentwicklnng
unserer wirtschaftlichen Erscheinungen und politischen Einrichtungen sein und
dereinst, nach Erfüllung ihres geschichtlichen Kultnrzweckes, vielleicht abermals
einen: wirtschaftlichen und politischen Individualismus, dann höherer und voll¬
kommenerer Art als dem durch sie überwundenen, Platz machen.




Stlindoglicdcrimg und Ständevcrfassung

Stunde der Gesamtbevölkerung sowohl beim allgemeinen gleichen Rcichstags-
wahlrccht wie bei den Klassen- und Pluralwahlrechten der zweiten Kammern
und der derzeitigen Zusammensetzung der ersten Kammern eine angemessene
Vertretung oder eine Vertretung überhaupt nicht finden. Sie wird weiter dadurch
beeinträchtigt, daß den nach der Zahl oder den sonstigen Verhältnissen für die
Wahlen am meisten ins Gewicht fallenden Ständen eine vom Standpunkte des
gesamten Volkes nicht zu rechtfertigende Bevorzugung zuteil wird und die Par¬
teien sich hierbei auf Kosten der übrigen von ihnen vertretenen Stände sämtlich
beteiligen und womöglich überbieten. Eine weitere Trübung und Beeinträchti¬
gung sachgemäßer Behandlung und Beschlußfassung findet ferner dadurch statt,
daß vielfach überhaupt nicht nach sachlichen oder wirtschaftlichen Gründen und
Gesichtspunkten, sondern nach Rücksichten und Interessen der Parteipolitik ver¬
fahren und damit weder den betroffenen Ständen noch dem Volk als Ganzem
genützt wird.

> Eine Beteiligung der Stände als solcher an der Gesetzgebung, die Sicherung
eiuer ruhige», vou der Gunst der Wählcrmassen und dem Wechsel der poli¬
tischen Strömungen unabhängigen Vertretung aller Berufe und Erwerbsstände
neben den jetzigen Parlamenten oder in ihren: Rahmen würde diesen gegenüber
einen wirksamen Ausgleich bilden und die angeführten Mängel und deren nach¬
teilige Folgen verhüten helfen. Sie würde auch keineswegs ein Hinabsteigen
zu überlebten und überwundenen Einrichtungen, sondern ein Aufsteigen zu neuen,
vollkommeneren Verfassungsformen bedeuten. Was die individualistische Volks¬
wirtschaft und der moderne Staat überwinden und ablösen mußten, waren nicht
die Ständegliederung und Ständeverfassnng an sich, sondern ihre unhaltbar
und schädlich gewordenen Schranken und Vorrechte; nicht auf die Wieder¬
einführung von Schranken und Vorrechten würde aber die neue Stäudeverfassuug
abzielen, sondern auf eine unter den jetzigen Verhältnissen zu vermissende wirk¬
liche Gleichstellung aller Stände, auf die Beseitigung der Beschränkungen und
Bevorzugungen, die einzelnen Ständen aus den gegenwärtigen Zuständen
erwachsen. Auch diese neue ständische Verfassung wird aber, falls sie sich ver¬
wirklicht, kein Endziel, sondern nur eine weitere Stufe in der Gesamtentwicklnng
unserer wirtschaftlichen Erscheinungen und politischen Einrichtungen sein und
dereinst, nach Erfüllung ihres geschichtlichen Kultnrzweckes, vielleicht abermals
einen: wirtschaftlichen und politischen Individualismus, dann höherer und voll¬
kommenerer Art als dem durch sie überwundenen, Platz machen.




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[0611] Stlindoglicdcrimg und Ständevcrfassung Stunde der Gesamtbevölkerung sowohl beim allgemeinen gleichen Rcichstags- wahlrccht wie bei den Klassen- und Pluralwahlrechten der zweiten Kammern und der derzeitigen Zusammensetzung der ersten Kammern eine angemessene Vertretung oder eine Vertretung überhaupt nicht finden. Sie wird weiter dadurch beeinträchtigt, daß den nach der Zahl oder den sonstigen Verhältnissen für die Wahlen am meisten ins Gewicht fallenden Ständen eine vom Standpunkte des gesamten Volkes nicht zu rechtfertigende Bevorzugung zuteil wird und die Par¬ teien sich hierbei auf Kosten der übrigen von ihnen vertretenen Stände sämtlich beteiligen und womöglich überbieten. Eine weitere Trübung und Beeinträchti¬ gung sachgemäßer Behandlung und Beschlußfassung findet ferner dadurch statt, daß vielfach überhaupt nicht nach sachlichen oder wirtschaftlichen Gründen und Gesichtspunkten, sondern nach Rücksichten und Interessen der Parteipolitik ver¬ fahren und damit weder den betroffenen Ständen noch dem Volk als Ganzem genützt wird. > Eine Beteiligung der Stände als solcher an der Gesetzgebung, die Sicherung eiuer ruhige», vou der Gunst der Wählcrmassen und dem Wechsel der poli¬ tischen Strömungen unabhängigen Vertretung aller Berufe und Erwerbsstände neben den jetzigen Parlamenten oder in ihren: Rahmen würde diesen gegenüber einen wirksamen Ausgleich bilden und die angeführten Mängel und deren nach¬ teilige Folgen verhüten helfen. Sie würde auch keineswegs ein Hinabsteigen zu überlebten und überwundenen Einrichtungen, sondern ein Aufsteigen zu neuen, vollkommeneren Verfassungsformen bedeuten. Was die individualistische Volks¬ wirtschaft und der moderne Staat überwinden und ablösen mußten, waren nicht die Ständegliederung und Ständeverfassnng an sich, sondern ihre unhaltbar und schädlich gewordenen Schranken und Vorrechte; nicht auf die Wieder¬ einführung von Schranken und Vorrechten würde aber die neue Stäudeverfassuug abzielen, sondern auf eine unter den jetzigen Verhältnissen zu vermissende wirk¬ liche Gleichstellung aller Stände, auf die Beseitigung der Beschränkungen und Bevorzugungen, die einzelnen Ständen aus den gegenwärtigen Zuständen erwachsen. Auch diese neue ständische Verfassung wird aber, falls sie sich ver¬ wirklicht, kein Endziel, sondern nur eine weitere Stufe in der Gesamtentwicklnng unserer wirtschaftlichen Erscheinungen und politischen Einrichtungen sein und dereinst, nach Erfüllung ihres geschichtlichen Kultnrzweckes, vielleicht abermals einen: wirtschaftlichen und politischen Individualismus, dann höherer und voll¬ kommenerer Art als dem durch sie überwundenen, Platz machen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/611>, abgerufen am 22.07.2024.