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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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Ständegliedcrung und Ständevcrfassung

von 1909), auch im Königreich Sachsen in der ursprünglichen Wahlreform¬
vorlage für die zweite Kammer in Aussicht genommen gewesen und jetzt
wiederum und zwar für die Znsammensetzung der ersten Kammer, in dem
Gesetzentwurf über die Verfassung und das Wahlrecht von Elsaß-Lothringen
ins Ange gefaßt*).

Daß sich Wandlungen in der bezeichneten Richtung im Rahmen einer
Verfassungs- oder Wahlreform auch im Reiche und in Preußen oder anderen
Bundesstaaten früher oder später durchsetzen dürften, muß nach dem Werdegang
der Ständcgliedernng und Ständeverfassung in der Vergangenheit sowie nach
der uns heute umgebenden wirtschaftlichen und politischen Entwicklung wenn
nicht als wahrscheinlich, so doch als sehr wohl möglich gelten. Unerörtert soll
hier, als ein politisches Problem, die Frage bleiben, ob eine solche Entwicklung
erstrebenswert und aussichtsvoll ist und welche Formen für sie geeignet und zu
empfehlen sein würden. Denkbar wäre vielleicht die Entstehung eines neben
den Reichstag tretenden, aus Vertretern der Landwirtschaft und gewerblichen
Erwcrbsstünde, der Angestellten und Arbeiter, der öffentlichen Beamten und
freien Berufe bestehenden Ständehanses, ebenso aber auch die Einordnung einer
solchen ständischen Vertretung in den Reichstag oder ihre Verbindung mit dem
Bundesrat, ferner bei den Bundesstaaten ihre Einführung im Rahmen oder
an Stelle der ersten oder zweiten Kammer, wie weiter auch, mit gewissen Ein¬
schränkungen oder Abänderungen, eine entsprechende Reform der Provinzial-
und Kreisvertrctungen einmal in den Bereich der Erwägung rücke" könnte.

Daß aber mit Wandlungen solcher Art als Möglichkeiten gerechnet werden
darf und Tatsachen der Vergangenheit und Gegenwart an sie denken lassen,
wird jedenfalls nicht durch den Hinweis auf das Wesen unserer heutigen
Parlamente oder durch den Einwand entkräftet, daß darin ein knltnr widriger
Rückschritt zu überlebten mittelalterlichen Einrichtungen liegen würde.

Von Vertretern des gesamten Volkes, die sie sein sollen und jeder vou
seinem Standpunkt ans zu sein glauben, sind unsere Abgeordneten über der
immer mehr in den Vordergrund tretenden, das politische Leben fast ausschließlich
beherrschenden Wirtschafts- und Sozialgesetzgebung notgedrungen mehr oder
weniger zu Beauftragten derjenigen Stande geworden, aus deren Händen sie
ihre Mandate hauptsächlich erhalten habe", und die parlamentarischen Parteien
zu einer Gestaltung und Betätigung gelaugt, die sie gleichfalls als Vertreter
vorwiegend bestimmter Stände erscheinen lassen. Die sachliche Erörterung und
Abwägung der wirtschaftlichen Interessen der einzelnen Stände, die sich hieraus
an sich ergeben könnte, wird aber einmal dadurch getrübt, daß die verschiedenen



*) Inzwischen bekanntlich erfolgt; hinzuweisen ist hier ferner auf die jüngst erschienene,
wieder zurückgezogene Mecklenburgische Verfassungsvorlage, sowie mich auf die Ende Januar 1911
erfolgte erstmalige Berufung eines Handwerkers, des Klempner-Obermeisters Plate, Vorsitzenden
der Handwerkskammer Hannover und des Deutschen Handwerks- und Gewerbekammertages
zu Berlin, in das preußische Herrenhaus.
Ständegliedcrung und Ständevcrfassung

von 1909), auch im Königreich Sachsen in der ursprünglichen Wahlreform¬
vorlage für die zweite Kammer in Aussicht genommen gewesen und jetzt
wiederum und zwar für die Znsammensetzung der ersten Kammer, in dem
Gesetzentwurf über die Verfassung und das Wahlrecht von Elsaß-Lothringen
ins Ange gefaßt*).

Daß sich Wandlungen in der bezeichneten Richtung im Rahmen einer
Verfassungs- oder Wahlreform auch im Reiche und in Preußen oder anderen
Bundesstaaten früher oder später durchsetzen dürften, muß nach dem Werdegang
der Ständcgliedernng und Ständeverfassung in der Vergangenheit sowie nach
der uns heute umgebenden wirtschaftlichen und politischen Entwicklung wenn
nicht als wahrscheinlich, so doch als sehr wohl möglich gelten. Unerörtert soll
hier, als ein politisches Problem, die Frage bleiben, ob eine solche Entwicklung
erstrebenswert und aussichtsvoll ist und welche Formen für sie geeignet und zu
empfehlen sein würden. Denkbar wäre vielleicht die Entstehung eines neben
den Reichstag tretenden, aus Vertretern der Landwirtschaft und gewerblichen
Erwcrbsstünde, der Angestellten und Arbeiter, der öffentlichen Beamten und
freien Berufe bestehenden Ständehanses, ebenso aber auch die Einordnung einer
solchen ständischen Vertretung in den Reichstag oder ihre Verbindung mit dem
Bundesrat, ferner bei den Bundesstaaten ihre Einführung im Rahmen oder
an Stelle der ersten oder zweiten Kammer, wie weiter auch, mit gewissen Ein¬
schränkungen oder Abänderungen, eine entsprechende Reform der Provinzial-
und Kreisvertrctungen einmal in den Bereich der Erwägung rücke» könnte.

Daß aber mit Wandlungen solcher Art als Möglichkeiten gerechnet werden
darf und Tatsachen der Vergangenheit und Gegenwart an sie denken lassen,
wird jedenfalls nicht durch den Hinweis auf das Wesen unserer heutigen
Parlamente oder durch den Einwand entkräftet, daß darin ein knltnr widriger
Rückschritt zu überlebten mittelalterlichen Einrichtungen liegen würde.

Von Vertretern des gesamten Volkes, die sie sein sollen und jeder vou
seinem Standpunkt ans zu sein glauben, sind unsere Abgeordneten über der
immer mehr in den Vordergrund tretenden, das politische Leben fast ausschließlich
beherrschenden Wirtschafts- und Sozialgesetzgebung notgedrungen mehr oder
weniger zu Beauftragten derjenigen Stande geworden, aus deren Händen sie
ihre Mandate hauptsächlich erhalten habe», und die parlamentarischen Parteien
zu einer Gestaltung und Betätigung gelaugt, die sie gleichfalls als Vertreter
vorwiegend bestimmter Stände erscheinen lassen. Die sachliche Erörterung und
Abwägung der wirtschaftlichen Interessen der einzelnen Stände, die sich hieraus
an sich ergeben könnte, wird aber einmal dadurch getrübt, daß die verschiedenen



*) Inzwischen bekanntlich erfolgt; hinzuweisen ist hier ferner auf die jüngst erschienene,
wieder zurückgezogene Mecklenburgische Verfassungsvorlage, sowie mich auf die Ende Januar 1911
erfolgte erstmalige Berufung eines Handwerkers, des Klempner-Obermeisters Plate, Vorsitzenden
der Handwerkskammer Hannover und des Deutschen Handwerks- und Gewerbekammertages
zu Berlin, in das preußische Herrenhaus.
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[0610] Ständegliedcrung und Ständevcrfassung von 1909), auch im Königreich Sachsen in der ursprünglichen Wahlreform¬ vorlage für die zweite Kammer in Aussicht genommen gewesen und jetzt wiederum und zwar für die Znsammensetzung der ersten Kammer, in dem Gesetzentwurf über die Verfassung und das Wahlrecht von Elsaß-Lothringen ins Ange gefaßt*). Daß sich Wandlungen in der bezeichneten Richtung im Rahmen einer Verfassungs- oder Wahlreform auch im Reiche und in Preußen oder anderen Bundesstaaten früher oder später durchsetzen dürften, muß nach dem Werdegang der Ständcgliedernng und Ständeverfassung in der Vergangenheit sowie nach der uns heute umgebenden wirtschaftlichen und politischen Entwicklung wenn nicht als wahrscheinlich, so doch als sehr wohl möglich gelten. Unerörtert soll hier, als ein politisches Problem, die Frage bleiben, ob eine solche Entwicklung erstrebenswert und aussichtsvoll ist und welche Formen für sie geeignet und zu empfehlen sein würden. Denkbar wäre vielleicht die Entstehung eines neben den Reichstag tretenden, aus Vertretern der Landwirtschaft und gewerblichen Erwcrbsstünde, der Angestellten und Arbeiter, der öffentlichen Beamten und freien Berufe bestehenden Ständehanses, ebenso aber auch die Einordnung einer solchen ständischen Vertretung in den Reichstag oder ihre Verbindung mit dem Bundesrat, ferner bei den Bundesstaaten ihre Einführung im Rahmen oder an Stelle der ersten oder zweiten Kammer, wie weiter auch, mit gewissen Ein¬ schränkungen oder Abänderungen, eine entsprechende Reform der Provinzial- und Kreisvertrctungen einmal in den Bereich der Erwägung rücke» könnte. Daß aber mit Wandlungen solcher Art als Möglichkeiten gerechnet werden darf und Tatsachen der Vergangenheit und Gegenwart an sie denken lassen, wird jedenfalls nicht durch den Hinweis auf das Wesen unserer heutigen Parlamente oder durch den Einwand entkräftet, daß darin ein knltnr widriger Rückschritt zu überlebten mittelalterlichen Einrichtungen liegen würde. Von Vertretern des gesamten Volkes, die sie sein sollen und jeder vou seinem Standpunkt ans zu sein glauben, sind unsere Abgeordneten über der immer mehr in den Vordergrund tretenden, das politische Leben fast ausschließlich beherrschenden Wirtschafts- und Sozialgesetzgebung notgedrungen mehr oder weniger zu Beauftragten derjenigen Stande geworden, aus deren Händen sie ihre Mandate hauptsächlich erhalten habe», und die parlamentarischen Parteien zu einer Gestaltung und Betätigung gelaugt, die sie gleichfalls als Vertreter vorwiegend bestimmter Stände erscheinen lassen. Die sachliche Erörterung und Abwägung der wirtschaftlichen Interessen der einzelnen Stände, die sich hieraus an sich ergeben könnte, wird aber einmal dadurch getrübt, daß die verschiedenen *) Inzwischen bekanntlich erfolgt; hinzuweisen ist hier ferner auf die jüngst erschienene, wieder zurückgezogene Mecklenburgische Verfassungsvorlage, sowie mich auf die Ende Januar 1911 erfolgte erstmalige Berufung eines Handwerkers, des Klempner-Obermeisters Plate, Vorsitzenden der Handwerkskammer Hannover und des Deutschen Handwerks- und Gewerbekammertages zu Berlin, in das preußische Herrenhaus.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/610>, abgerufen am 22.07.2024.