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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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Musik und Satire

Seit der Ausbreitung der Musik im neunzehnten Jahrhundert ist auch der
Ruf "Zu viel Musik" allgemein geworden. Zwar berichtet schon Abraham a Santa
Clara von "Musizierenden Närrinnen", die ihre Hausfrauenpflichten vergessen:

Aber das war doch eine besondere Erscheinung. Später hat das "gassatim
gehen", das Ständchcnbringen die philiströsen Gemüter, die die Ruhe liebten,
verärgert. Der Großbetrieb, wie er im vorigen Jahrhundert sich entwickelte, hat
freilich noch ganz andere Auswüchse gezeitigt, die der Satire reichen und mannig¬
faltigen Stoff liefern. Das ewige Ableiern derselben und dazu noch meist der
minderwertigsten Tonstücke, das erfolglose Abmühen um die schwierigen Werke der
Klassiker reizt bcgreiflichermaßen die Gemüter der passiven Dulder -- aber auch
der sachverständigen Professionisten. Wie humorvoll geißelt Berlioz die Unsitte
des Pariser Konservatoriums, bei den Prüfungen sämtliche Kandidaten dasselbe
Werk spielen zu lassen. Ein Mitglied der Jury muß infolge der Strapazen Äther
zur Auffrischung erhalten, ein zweites gar zur Ader gelassen werden. Der Flügel
spielt sich unter den Fingern von dreißig Kandidaten immer leichter und flüssiger,
bis er beim einunddreißigsten ganz von selbst anfängt und das dreißigmal gehörte
Mendelssohn-Konzert mit allen Tonleitern, Trillern und Arpeggien herunterspielt.
"Der Flügel hatte sich an das Mendelssohnsche Konzert gewöhnt und trug es
ganz allein vor." Man eiferte auch besonders gegen die Tonkunst, da man ihrem
äußeren Sinnenreiz schädliche Einflüsse aus den Geist andichtete. So schilt
Immermann im "Tulifäntchen":

Also wieder ist es die Oper in erster Linie, die man als packendstes Beispiel
der schädigenden Musik anführt. Besonders schwierig gestalten sich die Über¬
tragungen eigengebildeter Nationalwerke in fremde Art und Sprache. Bei dem
Pariser Versuch, Webers Freischütz, den man erst als "Kobin ach dois" in der
Ovöra comiims versucht hatte, in entsprechender Umgestaltung und Ergänzung
nach dem Vorbild der Großen Oper zu formen, nimmt Richard Wagner das


Musik und Satire

Seit der Ausbreitung der Musik im neunzehnten Jahrhundert ist auch der
Ruf „Zu viel Musik" allgemein geworden. Zwar berichtet schon Abraham a Santa
Clara von „Musizierenden Närrinnen", die ihre Hausfrauenpflichten vergessen:

Aber das war doch eine besondere Erscheinung. Später hat das „gassatim
gehen", das Ständchcnbringen die philiströsen Gemüter, die die Ruhe liebten,
verärgert. Der Großbetrieb, wie er im vorigen Jahrhundert sich entwickelte, hat
freilich noch ganz andere Auswüchse gezeitigt, die der Satire reichen und mannig¬
faltigen Stoff liefern. Das ewige Ableiern derselben und dazu noch meist der
minderwertigsten Tonstücke, das erfolglose Abmühen um die schwierigen Werke der
Klassiker reizt bcgreiflichermaßen die Gemüter der passiven Dulder — aber auch
der sachverständigen Professionisten. Wie humorvoll geißelt Berlioz die Unsitte
des Pariser Konservatoriums, bei den Prüfungen sämtliche Kandidaten dasselbe
Werk spielen zu lassen. Ein Mitglied der Jury muß infolge der Strapazen Äther
zur Auffrischung erhalten, ein zweites gar zur Ader gelassen werden. Der Flügel
spielt sich unter den Fingern von dreißig Kandidaten immer leichter und flüssiger,
bis er beim einunddreißigsten ganz von selbst anfängt und das dreißigmal gehörte
Mendelssohn-Konzert mit allen Tonleitern, Trillern und Arpeggien herunterspielt.
„Der Flügel hatte sich an das Mendelssohnsche Konzert gewöhnt und trug es
ganz allein vor." Man eiferte auch besonders gegen die Tonkunst, da man ihrem
äußeren Sinnenreiz schädliche Einflüsse aus den Geist andichtete. So schilt
Immermann im „Tulifäntchen":

Also wieder ist es die Oper in erster Linie, die man als packendstes Beispiel
der schädigenden Musik anführt. Besonders schwierig gestalten sich die Über¬
tragungen eigengebildeter Nationalwerke in fremde Art und Sprache. Bei dem
Pariser Versuch, Webers Freischütz, den man erst als „Kobin ach dois" in der
Ovöra comiims versucht hatte, in entsprechender Umgestaltung und Ergänzung
nach dem Vorbild der Großen Oper zu formen, nimmt Richard Wagner das


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[0570] Musik und Satire Seit der Ausbreitung der Musik im neunzehnten Jahrhundert ist auch der Ruf „Zu viel Musik" allgemein geworden. Zwar berichtet schon Abraham a Santa Clara von „Musizierenden Närrinnen", die ihre Hausfrauenpflichten vergessen: Aber das war doch eine besondere Erscheinung. Später hat das „gassatim gehen", das Ständchcnbringen die philiströsen Gemüter, die die Ruhe liebten, verärgert. Der Großbetrieb, wie er im vorigen Jahrhundert sich entwickelte, hat freilich noch ganz andere Auswüchse gezeitigt, die der Satire reichen und mannig¬ faltigen Stoff liefern. Das ewige Ableiern derselben und dazu noch meist der minderwertigsten Tonstücke, das erfolglose Abmühen um die schwierigen Werke der Klassiker reizt bcgreiflichermaßen die Gemüter der passiven Dulder — aber auch der sachverständigen Professionisten. Wie humorvoll geißelt Berlioz die Unsitte des Pariser Konservatoriums, bei den Prüfungen sämtliche Kandidaten dasselbe Werk spielen zu lassen. Ein Mitglied der Jury muß infolge der Strapazen Äther zur Auffrischung erhalten, ein zweites gar zur Ader gelassen werden. Der Flügel spielt sich unter den Fingern von dreißig Kandidaten immer leichter und flüssiger, bis er beim einunddreißigsten ganz von selbst anfängt und das dreißigmal gehörte Mendelssohn-Konzert mit allen Tonleitern, Trillern und Arpeggien herunterspielt. „Der Flügel hatte sich an das Mendelssohnsche Konzert gewöhnt und trug es ganz allein vor." Man eiferte auch besonders gegen die Tonkunst, da man ihrem äußeren Sinnenreiz schädliche Einflüsse aus den Geist andichtete. So schilt Immermann im „Tulifäntchen": Also wieder ist es die Oper in erster Linie, die man als packendstes Beispiel der schädigenden Musik anführt. Besonders schwierig gestalten sich die Über¬ tragungen eigengebildeter Nationalwerke in fremde Art und Sprache. Bei dem Pariser Versuch, Webers Freischütz, den man erst als „Kobin ach dois" in der Ovöra comiims versucht hatte, in entsprechender Umgestaltung und Ergänzung nach dem Vorbild der Großen Oper zu formen, nimmt Richard Wagner das

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/570>, abgerufen am 23.07.2024.