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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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Kulturgeschichtliche Glossen zum Latte Jatho

bekannt, nicht zum wenigsten Kant und Schleiermacher. Soll also wirklich die
Fülle von Lebensweisheit und Erfahrung, von Herzensgüte und milder Versöhn¬
lichkeit, die in Jathos Reden so sympathisch berührt, von ehrlichem Streben nach
Wahrheit verkümmern, weil sie nicht mehr übereinzustimmen vermag mit der "aber¬
gläubischen Opinion" (Apostolikum), die von der wissenschaftlichen Forschung längst
ins Reich der Legende verwiesen wurde? Soll die evangelische Freiheit, in deren
Luft nur wurzelechterGlaube gedeihen kann, abermals durchZwang und Pharisäismus
seitens der "Rechtgläubigen" gehemmt und der lebendige Pulsschlag einer großen
Gemeinde nach Gewissensfreiheit und religiöser Erkenntnis auf das klägliche Niveau
einer im Dienste des toten Buchstabens erstarrten Glaubensmeinung herabgedrückt
werden? Noch stets war Zwang der Feind der Wahrheit, durch den diese selbst
verlogen wird. Auch kirchenregimentliche Schulmeisterei, der jedes Verständnis
fehlt für die Energie einer wahrhaft religiösen Gesinnung, war noch von jeher
vom Übel.

Fort deshalb mit dem Jrrlehregesetz und SpruchkollegiumI Sie'sind ihrem
Wesen nach römisch, nicht protestantisch, nicht deutsch und unseren: Rechts- und
evangelischen Wahrheitsbewußtsein einfach unerträglich.

Protestanten soll man nicht, wie den Römlingen, zumuten, ein Opfer ihres
Intellekts zu bringen veralteten Formeln und Dogmen zuliebe. Überdies hat sich
der Oberkirchenrat auch mit sich selbst in Widerspruch gesetzt. Man vergleiche nur
seinen Bescheid an den Pfarrer O. Fischer in Berlin (1903) oder an das Kon¬
sistorium in Münster im Falle Cösar (November 1906), mit der.jüngst auf seinen
Vorschlag erfolgten Berufung Harnacks ins Spruchkollegium. Gleich diesen beiden
Pfarrern leugnet auch Harnack die Gottheit Christi; er erfüllt also die vom Ober¬
kirchenrat gestellte Bedingung für die Wirksamkeit eines evangelischen Pfarrers
selbst nicht. Dennoch soll Harnack, nach positiver Auffassung ebenfalls ein "Ketzer",
geeignet sein, im Spruchkollegium über einen anderen "Ketzer" zu Gericht zu sitzen --
sonderbar!

Der Fall Jatho bietet mithin zu irgendwelcher pessimistischen Auffassung keinen
Anlaß, dagegen kann er zur Gesundung und Reformation der jetzt herrschenden
unerquicklichen Verhältnisse in der Landeskirche viel beitragen. Die Wöllner und
Konsorten gehen vorüber; die großen Gedanken großer Männer ringen sich schließlich
aber doch durch. Und wie in den vierziger Jahren einst David Strauß im Hinblick
auf Schleiermacher schrieb, wird es dann vielleicht auch von einem Jatho und
anderen "Jrrlehrern" heißen:




Kulturgeschichtliche Glossen zum Latte Jatho

bekannt, nicht zum wenigsten Kant und Schleiermacher. Soll also wirklich die
Fülle von Lebensweisheit und Erfahrung, von Herzensgüte und milder Versöhn¬
lichkeit, die in Jathos Reden so sympathisch berührt, von ehrlichem Streben nach
Wahrheit verkümmern, weil sie nicht mehr übereinzustimmen vermag mit der „aber¬
gläubischen Opinion" (Apostolikum), die von der wissenschaftlichen Forschung längst
ins Reich der Legende verwiesen wurde? Soll die evangelische Freiheit, in deren
Luft nur wurzelechterGlaube gedeihen kann, abermals durchZwang und Pharisäismus
seitens der „Rechtgläubigen" gehemmt und der lebendige Pulsschlag einer großen
Gemeinde nach Gewissensfreiheit und religiöser Erkenntnis auf das klägliche Niveau
einer im Dienste des toten Buchstabens erstarrten Glaubensmeinung herabgedrückt
werden? Noch stets war Zwang der Feind der Wahrheit, durch den diese selbst
verlogen wird. Auch kirchenregimentliche Schulmeisterei, der jedes Verständnis
fehlt für die Energie einer wahrhaft religiösen Gesinnung, war noch von jeher
vom Übel.

Fort deshalb mit dem Jrrlehregesetz und SpruchkollegiumI Sie'sind ihrem
Wesen nach römisch, nicht protestantisch, nicht deutsch und unseren: Rechts- und
evangelischen Wahrheitsbewußtsein einfach unerträglich.

Protestanten soll man nicht, wie den Römlingen, zumuten, ein Opfer ihres
Intellekts zu bringen veralteten Formeln und Dogmen zuliebe. Überdies hat sich
der Oberkirchenrat auch mit sich selbst in Widerspruch gesetzt. Man vergleiche nur
seinen Bescheid an den Pfarrer O. Fischer in Berlin (1903) oder an das Kon¬
sistorium in Münster im Falle Cösar (November 1906), mit der.jüngst auf seinen
Vorschlag erfolgten Berufung Harnacks ins Spruchkollegium. Gleich diesen beiden
Pfarrern leugnet auch Harnack die Gottheit Christi; er erfüllt also die vom Ober¬
kirchenrat gestellte Bedingung für die Wirksamkeit eines evangelischen Pfarrers
selbst nicht. Dennoch soll Harnack, nach positiver Auffassung ebenfalls ein „Ketzer",
geeignet sein, im Spruchkollegium über einen anderen „Ketzer" zu Gericht zu sitzen —
sonderbar!

Der Fall Jatho bietet mithin zu irgendwelcher pessimistischen Auffassung keinen
Anlaß, dagegen kann er zur Gesundung und Reformation der jetzt herrschenden
unerquicklichen Verhältnisse in der Landeskirche viel beitragen. Die Wöllner und
Konsorten gehen vorüber; die großen Gedanken großer Männer ringen sich schließlich
aber doch durch. Und wie in den vierziger Jahren einst David Strauß im Hinblick
auf Schleiermacher schrieb, wird es dann vielleicht auch von einem Jatho und
anderen „Jrrlehrern" heißen:




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[0479] Kulturgeschichtliche Glossen zum Latte Jatho bekannt, nicht zum wenigsten Kant und Schleiermacher. Soll also wirklich die Fülle von Lebensweisheit und Erfahrung, von Herzensgüte und milder Versöhn¬ lichkeit, die in Jathos Reden so sympathisch berührt, von ehrlichem Streben nach Wahrheit verkümmern, weil sie nicht mehr übereinzustimmen vermag mit der „aber¬ gläubischen Opinion" (Apostolikum), die von der wissenschaftlichen Forschung längst ins Reich der Legende verwiesen wurde? Soll die evangelische Freiheit, in deren Luft nur wurzelechterGlaube gedeihen kann, abermals durchZwang und Pharisäismus seitens der „Rechtgläubigen" gehemmt und der lebendige Pulsschlag einer großen Gemeinde nach Gewissensfreiheit und religiöser Erkenntnis auf das klägliche Niveau einer im Dienste des toten Buchstabens erstarrten Glaubensmeinung herabgedrückt werden? Noch stets war Zwang der Feind der Wahrheit, durch den diese selbst verlogen wird. Auch kirchenregimentliche Schulmeisterei, der jedes Verständnis fehlt für die Energie einer wahrhaft religiösen Gesinnung, war noch von jeher vom Übel. Fort deshalb mit dem Jrrlehregesetz und SpruchkollegiumI Sie'sind ihrem Wesen nach römisch, nicht protestantisch, nicht deutsch und unseren: Rechts- und evangelischen Wahrheitsbewußtsein einfach unerträglich. Protestanten soll man nicht, wie den Römlingen, zumuten, ein Opfer ihres Intellekts zu bringen veralteten Formeln und Dogmen zuliebe. Überdies hat sich der Oberkirchenrat auch mit sich selbst in Widerspruch gesetzt. Man vergleiche nur seinen Bescheid an den Pfarrer O. Fischer in Berlin (1903) oder an das Kon¬ sistorium in Münster im Falle Cösar (November 1906), mit der.jüngst auf seinen Vorschlag erfolgten Berufung Harnacks ins Spruchkollegium. Gleich diesen beiden Pfarrern leugnet auch Harnack die Gottheit Christi; er erfüllt also die vom Ober¬ kirchenrat gestellte Bedingung für die Wirksamkeit eines evangelischen Pfarrers selbst nicht. Dennoch soll Harnack, nach positiver Auffassung ebenfalls ein „Ketzer", geeignet sein, im Spruchkollegium über einen anderen „Ketzer" zu Gericht zu sitzen — sonderbar! Der Fall Jatho bietet mithin zu irgendwelcher pessimistischen Auffassung keinen Anlaß, dagegen kann er zur Gesundung und Reformation der jetzt herrschenden unerquicklichen Verhältnisse in der Landeskirche viel beitragen. Die Wöllner und Konsorten gehen vorüber; die großen Gedanken großer Männer ringen sich schließlich aber doch durch. Und wie in den vierziger Jahren einst David Strauß im Hinblick auf Schleiermacher schrieb, wird es dann vielleicht auch von einem Jatho und anderen „Jrrlehrern" heißen:

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/479>, abgerufen am 01.10.2024.