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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

Erfolges im Kriege ernstlich wieder zu
erinnern. Die Angaben in Heft 10 der
Grenzboten entsprechen leider den Tatsachen.
Bewaffnung und Ausbildung sind bei den
großen Militärmächten allgemein auf so hoher
Stufe der Vervollkommnung, daß die geringen
Unterschiede in dieser Richtung für den Aus¬
gang eines Krieges ohne entscheidende Be¬
deutung bleiben. Die Führung und die
moralischen Größen, der kriegerische Geist,
sind es, die zum Siege führen.

Ebenso wie in unserem großen Kriege
1870/71 sind dnrch die Siege und Nieder¬
lagen des jüngsten, des russisch-japanischen
Krieges die schlagendsten Beweise dafür er¬
bracht, daß der Geist der Führung oben und
unten in erster Linie siegbringend ist, und
daß mit ihm der Geist der Truppe in un-
trennbarer Wechselwirkung steht.

Die erste Forderung für ein kriegstüchtiges
Heer muß sein: Verantwortungsmutige,
Selbsttätige Führer in allen Graden.
So sehr die Erfahrung zunehmender Dienst¬
jahre geeignet ist, das "Wägen" zu vertiefen
und je nach der Persönlichkeit die Klarheit
und Schärfe des Urteils zu heben, so wird
doch anerkannt werden müssen, daß das
"Wagen", der verantwortungsfreudige Mut,
aus eigenster Entschließung zu handeln und
Befehle von oben nicht erst abzuwarten oder
nach Umständen von ihnen abzuweichen, ein
besonderes Geschenk der Jugend ist.

In: menschlichen Leben gibt es Höhepunkte
der Entwicklung für Verstand und Charakter,
die je nach der Veranlagung des einzelnen
früher oder später eintreten. Die Erfahrungen
im alltäglichen Leben ebenso wie die Beob¬
achtungen in der Geschichte der Völker haben
Mir die Überzeugung gegeben, daß die Höhe¬
punkte in der Entwicklung der Charakter¬
eigenschaften sehr viel früher erreicht werden
als in der Entwicklung der Verstandeskräfte,
lind nicht selten habe ich die Erfahrung
machen können, daß der andauernde Kampf
des Lebens mit den Jahren den Charakter
Mürbe macht und vor allem diejenigen
Charaktereigenschaften zum Kränkeln bringt,
deren der Führer iniKriege vor allen anderen be¬
darf: BercmtwortnngSmut und Entschlossenheit.

Die Tntsache, daß unsere Führer im
Jahre 1870 zum großen Teil nicht wesentlich

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jünger waren als unsere Generale von heute,
darf uns nicht davon abhalten, unserer Armee
jugendliche Führer, vor allein in den mittleren
Stellen, zu geben. Wir dürfen nicht vergessen,
daß 1870/71 um der Spitze der Heeresleitung
ein Geist stand, wie er einem Volke nur
selten vom Schicksal geschenkt wird, und daß
die Führer in der Praktischen Schule vorher¬
gegangener Kriege groß geworden sind. Ans
die Hoffnung, daß der Zuknnftskrieg um der
Spitze des deutschen Heeres ebensolche genialen
Männer wie 1870/71 wiederfinden wird, läßt
sich nicht bauen. Die jüngsten Kriegs-
erfahrnngen im russisch-japanischen Kriege
geben eine deutliche Mahnung, die Heran¬
bildung der Führer bei der Kricgsvorbereitung
in erste Linie zu stellen.

Die Nltersverhältnisse der oberen Führer
in den verschiedenen Feldzügen bieten be¬
sonderes Interesse. Abgesehen von Steinmetz,
der im 74. Lebensjahre stand, hatten wir 1870
jugendliche Armeeführcr; Kronprinz Friedrich
Wilhelm war 39, Prinz Friedrich Karl und
der Kronprinz von Sachsen waren 42 Jahre
alt. Die Korpsführer hatten im allgemeinen
das 60. Lebensjahr überschritten; der be¬
deutendste von diesen, Goeben, zahlte 54 Jahre.
Die japanischen Führer im Kriege gegen
Rußland waren durchschnittlich jünger als
die nichtfürstlicheu deutschen Führer. Das
60. Lebensjahr hatten Oynma und Nodzu
um weniges überschritten; Kuroki war S0,
Otu 58, Nogi 55, während der Chef deS
Generalstabes, Kodamn, als jüngster 52 Jahre
zählte. Bei dem im 56. Lebensjahre stehenden
russischen Führer Kuropatkin, der in jugend¬
lichem Alter im Kriege Beweise großer Ent¬
schlossenheit gegeben und in seiner Friedens¬
tätigkeit sich besonders bewährt hatte, brachen
unter dem Drucke der seine Fähigkeiten über¬
steigenden Verantwortung auch die in der
Jugend bewährten Charaktereigenschaften des
Wagemuth und der Entschlossenheit zusammen,
freilich nach einem Jahre währenden
Schlcmmerleben in Petersburg. Wenn wir
Vergleiche ziehen wollen, um die Bedeutung
des Lebensalters für die oberen Führer eines
Heeres richtig zu würdigen, dürfen wir nie
vergessen, daß die glänzende Siegeslaufbahn
Napoleons nicht zum wenigsten der gewaltigen
Kraft und Frische der Jugend zuzuschreiben

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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Erfolges im Kriege ernstlich wieder zu
erinnern. Die Angaben in Heft 10 der
Grenzboten entsprechen leider den Tatsachen.
Bewaffnung und Ausbildung sind bei den
großen Militärmächten allgemein auf so hoher
Stufe der Vervollkommnung, daß die geringen
Unterschiede in dieser Richtung für den Aus¬
gang eines Krieges ohne entscheidende Be¬
deutung bleiben. Die Führung und die
moralischen Größen, der kriegerische Geist,
sind es, die zum Siege führen.

Ebenso wie in unserem großen Kriege
1870/71 sind dnrch die Siege und Nieder¬
lagen des jüngsten, des russisch-japanischen
Krieges die schlagendsten Beweise dafür er¬
bracht, daß der Geist der Führung oben und
unten in erster Linie siegbringend ist, und
daß mit ihm der Geist der Truppe in un-
trennbarer Wechselwirkung steht.

Die erste Forderung für ein kriegstüchtiges
Heer muß sein: Verantwortungsmutige,
Selbsttätige Führer in allen Graden.
So sehr die Erfahrung zunehmender Dienst¬
jahre geeignet ist, das „Wägen" zu vertiefen
und je nach der Persönlichkeit die Klarheit
und Schärfe des Urteils zu heben, so wird
doch anerkannt werden müssen, daß das
„Wagen", der verantwortungsfreudige Mut,
aus eigenster Entschließung zu handeln und
Befehle von oben nicht erst abzuwarten oder
nach Umständen von ihnen abzuweichen, ein
besonderes Geschenk der Jugend ist.

In: menschlichen Leben gibt es Höhepunkte
der Entwicklung für Verstand und Charakter,
die je nach der Veranlagung des einzelnen
früher oder später eintreten. Die Erfahrungen
im alltäglichen Leben ebenso wie die Beob¬
achtungen in der Geschichte der Völker haben
Mir die Überzeugung gegeben, daß die Höhe¬
punkte in der Entwicklung der Charakter¬
eigenschaften sehr viel früher erreicht werden
als in der Entwicklung der Verstandeskräfte,
lind nicht selten habe ich die Erfahrung
machen können, daß der andauernde Kampf
des Lebens mit den Jahren den Charakter
Mürbe macht und vor allem diejenigen
Charaktereigenschaften zum Kränkeln bringt,
deren der Führer iniKriege vor allen anderen be¬
darf: BercmtwortnngSmut und Entschlossenheit.

Die Tntsache, daß unsere Führer im
Jahre 1870 zum großen Teil nicht wesentlich

[Spaltenumbruch]

jünger waren als unsere Generale von heute,
darf uns nicht davon abhalten, unserer Armee
jugendliche Führer, vor allein in den mittleren
Stellen, zu geben. Wir dürfen nicht vergessen,
daß 1870/71 um der Spitze der Heeresleitung
ein Geist stand, wie er einem Volke nur
selten vom Schicksal geschenkt wird, und daß
die Führer in der Praktischen Schule vorher¬
gegangener Kriege groß geworden sind. Ans
die Hoffnung, daß der Zuknnftskrieg um der
Spitze des deutschen Heeres ebensolche genialen
Männer wie 1870/71 wiederfinden wird, läßt
sich nicht bauen. Die jüngsten Kriegs-
erfahrnngen im russisch-japanischen Kriege
geben eine deutliche Mahnung, die Heran¬
bildung der Führer bei der Kricgsvorbereitung
in erste Linie zu stellen.

Die Nltersverhältnisse der oberen Führer
in den verschiedenen Feldzügen bieten be¬
sonderes Interesse. Abgesehen von Steinmetz,
der im 74. Lebensjahre stand, hatten wir 1870
jugendliche Armeeführcr; Kronprinz Friedrich
Wilhelm war 39, Prinz Friedrich Karl und
der Kronprinz von Sachsen waren 42 Jahre
alt. Die Korpsführer hatten im allgemeinen
das 60. Lebensjahr überschritten; der be¬
deutendste von diesen, Goeben, zahlte 54 Jahre.
Die japanischen Führer im Kriege gegen
Rußland waren durchschnittlich jünger als
die nichtfürstlicheu deutschen Führer. Das
60. Lebensjahr hatten Oynma und Nodzu
um weniges überschritten; Kuroki war S0,
Otu 58, Nogi 55, während der Chef deS
Generalstabes, Kodamn, als jüngster 52 Jahre
zählte. Bei dem im 56. Lebensjahre stehenden
russischen Führer Kuropatkin, der in jugend¬
lichem Alter im Kriege Beweise großer Ent¬
schlossenheit gegeben und in seiner Friedens¬
tätigkeit sich besonders bewährt hatte, brachen
unter dem Drucke der seine Fähigkeiten über¬
steigenden Verantwortung auch die in der
Jugend bewährten Charaktereigenschaften des
Wagemuth und der Entschlossenheit zusammen,
freilich nach einem Jahre währenden
Schlcmmerleben in Petersburg. Wenn wir
Vergleiche ziehen wollen, um die Bedeutung
des Lebensalters für die oberen Führer eines
Heeres richtig zu würdigen, dürfen wir nie
vergessen, daß die glänzende Siegeslaufbahn
Napoleons nicht zum wenigsten der gewaltigen
Kraft und Frische der Jugend zuzuschreiben

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[0435] Maßgebliches und Unmaßgebliches Erfolges im Kriege ernstlich wieder zu erinnern. Die Angaben in Heft 10 der Grenzboten entsprechen leider den Tatsachen. Bewaffnung und Ausbildung sind bei den großen Militärmächten allgemein auf so hoher Stufe der Vervollkommnung, daß die geringen Unterschiede in dieser Richtung für den Aus¬ gang eines Krieges ohne entscheidende Be¬ deutung bleiben. Die Führung und die moralischen Größen, der kriegerische Geist, sind es, die zum Siege führen. Ebenso wie in unserem großen Kriege 1870/71 sind dnrch die Siege und Nieder¬ lagen des jüngsten, des russisch-japanischen Krieges die schlagendsten Beweise dafür er¬ bracht, daß der Geist der Führung oben und unten in erster Linie siegbringend ist, und daß mit ihm der Geist der Truppe in un- trennbarer Wechselwirkung steht. Die erste Forderung für ein kriegstüchtiges Heer muß sein: Verantwortungsmutige, Selbsttätige Führer in allen Graden. So sehr die Erfahrung zunehmender Dienst¬ jahre geeignet ist, das „Wägen" zu vertiefen und je nach der Persönlichkeit die Klarheit und Schärfe des Urteils zu heben, so wird doch anerkannt werden müssen, daß das „Wagen", der verantwortungsfreudige Mut, aus eigenster Entschließung zu handeln und Befehle von oben nicht erst abzuwarten oder nach Umständen von ihnen abzuweichen, ein besonderes Geschenk der Jugend ist. In: menschlichen Leben gibt es Höhepunkte der Entwicklung für Verstand und Charakter, die je nach der Veranlagung des einzelnen früher oder später eintreten. Die Erfahrungen im alltäglichen Leben ebenso wie die Beob¬ achtungen in der Geschichte der Völker haben Mir die Überzeugung gegeben, daß die Höhe¬ punkte in der Entwicklung der Charakter¬ eigenschaften sehr viel früher erreicht werden als in der Entwicklung der Verstandeskräfte, lind nicht selten habe ich die Erfahrung machen können, daß der andauernde Kampf des Lebens mit den Jahren den Charakter Mürbe macht und vor allem diejenigen Charaktereigenschaften zum Kränkeln bringt, deren der Führer iniKriege vor allen anderen be¬ darf: BercmtwortnngSmut und Entschlossenheit. Die Tntsache, daß unsere Führer im Jahre 1870 zum großen Teil nicht wesentlich jünger waren als unsere Generale von heute, darf uns nicht davon abhalten, unserer Armee jugendliche Führer, vor allein in den mittleren Stellen, zu geben. Wir dürfen nicht vergessen, daß 1870/71 um der Spitze der Heeresleitung ein Geist stand, wie er einem Volke nur selten vom Schicksal geschenkt wird, und daß die Führer in der Praktischen Schule vorher¬ gegangener Kriege groß geworden sind. Ans die Hoffnung, daß der Zuknnftskrieg um der Spitze des deutschen Heeres ebensolche genialen Männer wie 1870/71 wiederfinden wird, läßt sich nicht bauen. Die jüngsten Kriegs- erfahrnngen im russisch-japanischen Kriege geben eine deutliche Mahnung, die Heran¬ bildung der Führer bei der Kricgsvorbereitung in erste Linie zu stellen. Die Nltersverhältnisse der oberen Führer in den verschiedenen Feldzügen bieten be¬ sonderes Interesse. Abgesehen von Steinmetz, der im 74. Lebensjahre stand, hatten wir 1870 jugendliche Armeeführcr; Kronprinz Friedrich Wilhelm war 39, Prinz Friedrich Karl und der Kronprinz von Sachsen waren 42 Jahre alt. Die Korpsführer hatten im allgemeinen das 60. Lebensjahr überschritten; der be¬ deutendste von diesen, Goeben, zahlte 54 Jahre. Die japanischen Führer im Kriege gegen Rußland waren durchschnittlich jünger als die nichtfürstlicheu deutschen Führer. Das 60. Lebensjahr hatten Oynma und Nodzu um weniges überschritten; Kuroki war S0, Otu 58, Nogi 55, während der Chef deS Generalstabes, Kodamn, als jüngster 52 Jahre zählte. Bei dem im 56. Lebensjahre stehenden russischen Führer Kuropatkin, der in jugend¬ lichem Alter im Kriege Beweise großer Ent¬ schlossenheit gegeben und in seiner Friedens¬ tätigkeit sich besonders bewährt hatte, brachen unter dem Drucke der seine Fähigkeiten über¬ steigenden Verantwortung auch die in der Jugend bewährten Charaktereigenschaften des Wagemuth und der Entschlossenheit zusammen, freilich nach einem Jahre währenden Schlcmmerleben in Petersburg. Wenn wir Vergleiche ziehen wollen, um die Bedeutung des Lebensalters für die oberen Führer eines Heeres richtig zu würdigen, dürfen wir nie vergessen, daß die glänzende Siegeslaufbahn Napoleons nicht zum wenigsten der gewaltigen Kraft und Frische der Jugend zuzuschreiben

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/435>, abgerufen am 22.07.2024.