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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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Line Sommerreise durch das Baltenland

ist die Schöpfung dieser jetzt achtzig Dozenten und über sechzehnhundert Studenten
zählenden Hochschule eine in ihrer Art einzig dastehende Leistung des baltisch¬
deutschen Gemeingeistes. Sie ist nämlich nicht von der Stadt oder dem Staat
gegründet, sondern von einer Anzahl von Privatleuten ins Leben gerufen worden.
Die deutsche Unterrichtssprache hat sie gleichzeitig mit der Universität Dorpat
verloren.

In die allerjüngste Zeit fällt die Errichtung des Kunstmuseums, eines
großartigen Baues, der prächtige Sammlungen enthält, aber sie künden von
einer Zeit, da man gut daran tat, sich mit dem politisch Harmlosesten, mit der
Kunst, zu befassen.

Während der dreimonatigen Sommerferien ziehen die Rigenser Familien, wer
es irgendwie ermöglichen kann, in die Stranddörfer, und nur die Herren fahren
morgens zur Erledigung der Geschäfte auf einige Stunden in die Stadt. In
den vier Tagen, die ich in Riga zubrachte, sah ich dort auch kein einziges
deutsches Kind. Um so lebhafter fand ich es bei zwei Besuchen in den Strand¬
dörfern. Man fährt mit der Bahn oder, was hübscher ist, mit kleinen Dampfern
die Dura hinunter und biegt nach einer Fahrt von etwa einer Stunde in den
von Kurland kommenden linken Nebenfluß der Dura, die Kurische Aa, ein.
Diese fließt in höchst eigentümlicher Weise fast parallel mit der Küste und nur
wenige Kilometer von derselben entfernt. Zwischen dem Meer und dem Fluß
liegt nun die Reihe der Stranddörfer, die allmählich zu einer zusammenhängenden
Ansiedlung ganz eigentümlicher Art zusammengewachsen sind. Abgesehen von
dem eigentlichen Strand, hinter dem sich eine nicht allzu hohe Düne erhebt, ist
das ganze Gebiet mit einem mageren Kiefernwald bedeckt, und in diesem hat
sich eine Art Waldstadt gebildet mit -- leider -- geraden und rechtwinklig sich
kreuzenden straßenartigen Wegen, den "Linien", die bei Nacht beleuchtet sind.
Die meist ziemlich einfachen Landhäuser, die sogenannten Höfchen, sind fast
vollständig unter Kiefern versteckt, nur wenige haben größere, besser angelegte
Gärten. Da jede Familie ihr Haus und ihr Stückchen Wald für sich hat, ist
das Ganze ein Paradies für Kinder, das ihnen während der ganzen drei
Sommermonate, die zugleich die Ferienmonate aller Schulen sind, offen steht.
Schade, daß diese offenbar verhältnismäßig billige Art der Sommerfrische wegen
der Kürze und anderweitigen Art der Verteilung der Ferienzeit bei uns nicht
einzuführen ist!

Aus der Hauptstadt Livlands führte mich eine kurze Bahnfahrt nach der
nur etwa vierzig Kilometer entfernten Hauptstadt Kurlands, nach Mitau, das
Zur Ordenszeit ein lebhafter Handelsplatz war dank seiner Lage an der schiff¬
baren Aa. Die Zerreißung des Ordensgebiets machte dem ein Ende, indem die
schwedische Regierung durch Versenkung großer Steine im Fluß die Zufahrt vom
Meer sperrte; andererseits war die Lostrennung von Lwland Midaus Vorteil.
Der letzte livländische Ordensmeister hatte einen Teil des alten Ordenslandes
unter dem Namen "Herzogtum Kurland" aus der Hand des Polenkönigs als


Line Sommerreise durch das Baltenland

ist die Schöpfung dieser jetzt achtzig Dozenten und über sechzehnhundert Studenten
zählenden Hochschule eine in ihrer Art einzig dastehende Leistung des baltisch¬
deutschen Gemeingeistes. Sie ist nämlich nicht von der Stadt oder dem Staat
gegründet, sondern von einer Anzahl von Privatleuten ins Leben gerufen worden.
Die deutsche Unterrichtssprache hat sie gleichzeitig mit der Universität Dorpat
verloren.

In die allerjüngste Zeit fällt die Errichtung des Kunstmuseums, eines
großartigen Baues, der prächtige Sammlungen enthält, aber sie künden von
einer Zeit, da man gut daran tat, sich mit dem politisch Harmlosesten, mit der
Kunst, zu befassen.

Während der dreimonatigen Sommerferien ziehen die Rigenser Familien, wer
es irgendwie ermöglichen kann, in die Stranddörfer, und nur die Herren fahren
morgens zur Erledigung der Geschäfte auf einige Stunden in die Stadt. In
den vier Tagen, die ich in Riga zubrachte, sah ich dort auch kein einziges
deutsches Kind. Um so lebhafter fand ich es bei zwei Besuchen in den Strand¬
dörfern. Man fährt mit der Bahn oder, was hübscher ist, mit kleinen Dampfern
die Dura hinunter und biegt nach einer Fahrt von etwa einer Stunde in den
von Kurland kommenden linken Nebenfluß der Dura, die Kurische Aa, ein.
Diese fließt in höchst eigentümlicher Weise fast parallel mit der Küste und nur
wenige Kilometer von derselben entfernt. Zwischen dem Meer und dem Fluß
liegt nun die Reihe der Stranddörfer, die allmählich zu einer zusammenhängenden
Ansiedlung ganz eigentümlicher Art zusammengewachsen sind. Abgesehen von
dem eigentlichen Strand, hinter dem sich eine nicht allzu hohe Düne erhebt, ist
das ganze Gebiet mit einem mageren Kiefernwald bedeckt, und in diesem hat
sich eine Art Waldstadt gebildet mit — leider — geraden und rechtwinklig sich
kreuzenden straßenartigen Wegen, den „Linien", die bei Nacht beleuchtet sind.
Die meist ziemlich einfachen Landhäuser, die sogenannten Höfchen, sind fast
vollständig unter Kiefern versteckt, nur wenige haben größere, besser angelegte
Gärten. Da jede Familie ihr Haus und ihr Stückchen Wald für sich hat, ist
das Ganze ein Paradies für Kinder, das ihnen während der ganzen drei
Sommermonate, die zugleich die Ferienmonate aller Schulen sind, offen steht.
Schade, daß diese offenbar verhältnismäßig billige Art der Sommerfrische wegen
der Kürze und anderweitigen Art der Verteilung der Ferienzeit bei uns nicht
einzuführen ist!

Aus der Hauptstadt Livlands führte mich eine kurze Bahnfahrt nach der
nur etwa vierzig Kilometer entfernten Hauptstadt Kurlands, nach Mitau, das
Zur Ordenszeit ein lebhafter Handelsplatz war dank seiner Lage an der schiff¬
baren Aa. Die Zerreißung des Ordensgebiets machte dem ein Ende, indem die
schwedische Regierung durch Versenkung großer Steine im Fluß die Zufahrt vom
Meer sperrte; andererseits war die Lostrennung von Lwland Midaus Vorteil.
Der letzte livländische Ordensmeister hatte einen Teil des alten Ordenslandes
unter dem Namen „Herzogtum Kurland" aus der Hand des Polenkönigs als


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[0329] Line Sommerreise durch das Baltenland ist die Schöpfung dieser jetzt achtzig Dozenten und über sechzehnhundert Studenten zählenden Hochschule eine in ihrer Art einzig dastehende Leistung des baltisch¬ deutschen Gemeingeistes. Sie ist nämlich nicht von der Stadt oder dem Staat gegründet, sondern von einer Anzahl von Privatleuten ins Leben gerufen worden. Die deutsche Unterrichtssprache hat sie gleichzeitig mit der Universität Dorpat verloren. In die allerjüngste Zeit fällt die Errichtung des Kunstmuseums, eines großartigen Baues, der prächtige Sammlungen enthält, aber sie künden von einer Zeit, da man gut daran tat, sich mit dem politisch Harmlosesten, mit der Kunst, zu befassen. Während der dreimonatigen Sommerferien ziehen die Rigenser Familien, wer es irgendwie ermöglichen kann, in die Stranddörfer, und nur die Herren fahren morgens zur Erledigung der Geschäfte auf einige Stunden in die Stadt. In den vier Tagen, die ich in Riga zubrachte, sah ich dort auch kein einziges deutsches Kind. Um so lebhafter fand ich es bei zwei Besuchen in den Strand¬ dörfern. Man fährt mit der Bahn oder, was hübscher ist, mit kleinen Dampfern die Dura hinunter und biegt nach einer Fahrt von etwa einer Stunde in den von Kurland kommenden linken Nebenfluß der Dura, die Kurische Aa, ein. Diese fließt in höchst eigentümlicher Weise fast parallel mit der Küste und nur wenige Kilometer von derselben entfernt. Zwischen dem Meer und dem Fluß liegt nun die Reihe der Stranddörfer, die allmählich zu einer zusammenhängenden Ansiedlung ganz eigentümlicher Art zusammengewachsen sind. Abgesehen von dem eigentlichen Strand, hinter dem sich eine nicht allzu hohe Düne erhebt, ist das ganze Gebiet mit einem mageren Kiefernwald bedeckt, und in diesem hat sich eine Art Waldstadt gebildet mit — leider — geraden und rechtwinklig sich kreuzenden straßenartigen Wegen, den „Linien", die bei Nacht beleuchtet sind. Die meist ziemlich einfachen Landhäuser, die sogenannten Höfchen, sind fast vollständig unter Kiefern versteckt, nur wenige haben größere, besser angelegte Gärten. Da jede Familie ihr Haus und ihr Stückchen Wald für sich hat, ist das Ganze ein Paradies für Kinder, das ihnen während der ganzen drei Sommermonate, die zugleich die Ferienmonate aller Schulen sind, offen steht. Schade, daß diese offenbar verhältnismäßig billige Art der Sommerfrische wegen der Kürze und anderweitigen Art der Verteilung der Ferienzeit bei uns nicht einzuführen ist! Aus der Hauptstadt Livlands führte mich eine kurze Bahnfahrt nach der nur etwa vierzig Kilometer entfernten Hauptstadt Kurlands, nach Mitau, das Zur Ordenszeit ein lebhafter Handelsplatz war dank seiner Lage an der schiff¬ baren Aa. Die Zerreißung des Ordensgebiets machte dem ein Ende, indem die schwedische Regierung durch Versenkung großer Steine im Fluß die Zufahrt vom Meer sperrte; andererseits war die Lostrennung von Lwland Midaus Vorteil. Der letzte livländische Ordensmeister hatte einen Teil des alten Ordenslandes unter dem Namen „Herzogtum Kurland" aus der Hand des Polenkönigs als

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/329>, abgerufen am 23.07.2024.