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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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Line Sommerreise durch das Baltenland

Hunderten gemeinsamen evangelisch-lutherischen Kirche und auf dem bis vor fünf¬
undzwanzig Jahren stark vom Deutschtum beeinflußten Schulwesen der "Ur¬
einwohner". Bis vor fünfundzwanzig Jahren gingen die chemischen und lettischen
Lehrer an den chemischen und lettischen Schulen aus deutschen Lehrerseminarien
hervor und waren, wenn auch schon seit langer Zeit vielfach aus nationalen
und sozialen Gründen deutschfeindlich, doch im Bannkreis deutscher Kultur. Es
gab damals aber auch unter den Letten und Ehlen fast keine analphabetischen
Rekruten; dagegen sind laut amtlicher Statistik nach der Nussifizierung der Volks¬
schulen im Jahre 1892 12 Prozent, im Jahre 1899 sogar 20 Prozent aller
schulpflichtigen Kinder in Livland ohne jeglichen Unterricht geblieben, während
es 1882 -- gegen Ende der deutschen Verwaltung -- nur 2 Prozent waren.

Ich kam auf demselben Wege nach Livland, auf dem am Ende des zwölften
Jahrhunderts die deutschen Missionare und hart auf ihren Fersen die deutschen
Kaufleute und die Ritter vom Schwertorden ins Land der heidnischen Liven,
Letten und Ehlen gefahren waren: von Lübeck aus zu Schiff nach Riga.

Die vielen Schiffe, die in der Bucht von Riga der Dünamündung zustrebten,
wiesen auf den großen Seehafen hin, der etwa fünfzehn Kilometer stromaufwärts
liegt. Bald ragten die hohen Kirchtürme aus der weiten Ebene hervor, und
nach einer Flußfahrt von wenigen Stunden legte die "Deutschland" in Riga
an, in nächster Nähe der großen alten Ordensburg. Schon hier konnte man
sehen, daß die Dura nächst dem Meer die zweite Kraftquelle der reichen Stadt
ist. Der dort einen Kilometer breite Strom war fast ganz zugedeckt von einem
anscheinend endlosen schwimmenden Holzlager, das jahraus jahrein in Gestalt
von riesigen Flößen aus dem weitverzweigten Fluß- und Kanalsystem der Dura
hergeführt wird. Riga ist der Eingangs- und Ausgangshafen für fast ganz
Westrußland, und so ist es kein Wunder, wenn die Stadt, die jetzt auf 300000
Einwohner herangewachsen und der zweite Seeplatz des großen russischen Reichs
geworden ist, die Mutterstädte Bremen und Lübeck an Einwohnerzahl und an
Bedeutung, wenigstens an relativer Bedeutung, überflügelt hat. Die Stadt macht
selbst in ihren Vororten im wesentlichen einen westeuropäischen Eindruck.

Der Kern der Stadt hebt sich von den neueren Teilen scharf ab, da er
bis 1858 von der alten Stadtmauer eingeschlossen war, von der einzelne Teile
noch erhalten sind; das mächtigste Stück der alten Befestigung ist ein schöner
Turm, der ehemalige Pulverturm, der den Dürerschen Türmen in Nürnberg
nicht viel nachgibt. Er ist seit einigen Jahren von der Akademischen Verbindung
Rubonia zu einem geradezu idealen, hochromantischen Studentenquartier um¬
geschaffen worden. Ein unregelmäßiges Eirund von etwa 1200 Meter Länge
und 500 Meter Breite, gleicht der Stadtkern noch heute einer alten norddeutschen
Hansestadt, und zwar einer von den größeren und reicheren und einer von
denen, die ihr altertümliches Aussehen besonders gut bewahrt haben. Selbst¬
verständlich wird durch Läden in den Hauptstraßen und einige protzige Neu¬
bauten immerhin die Einheitlichkeit des Bildes da und dort beeinträchtigt.


Line Sommerreise durch das Baltenland

Hunderten gemeinsamen evangelisch-lutherischen Kirche und auf dem bis vor fünf¬
undzwanzig Jahren stark vom Deutschtum beeinflußten Schulwesen der „Ur¬
einwohner". Bis vor fünfundzwanzig Jahren gingen die chemischen und lettischen
Lehrer an den chemischen und lettischen Schulen aus deutschen Lehrerseminarien
hervor und waren, wenn auch schon seit langer Zeit vielfach aus nationalen
und sozialen Gründen deutschfeindlich, doch im Bannkreis deutscher Kultur. Es
gab damals aber auch unter den Letten und Ehlen fast keine analphabetischen
Rekruten; dagegen sind laut amtlicher Statistik nach der Nussifizierung der Volks¬
schulen im Jahre 1892 12 Prozent, im Jahre 1899 sogar 20 Prozent aller
schulpflichtigen Kinder in Livland ohne jeglichen Unterricht geblieben, während
es 1882 — gegen Ende der deutschen Verwaltung — nur 2 Prozent waren.

Ich kam auf demselben Wege nach Livland, auf dem am Ende des zwölften
Jahrhunderts die deutschen Missionare und hart auf ihren Fersen die deutschen
Kaufleute und die Ritter vom Schwertorden ins Land der heidnischen Liven,
Letten und Ehlen gefahren waren: von Lübeck aus zu Schiff nach Riga.

Die vielen Schiffe, die in der Bucht von Riga der Dünamündung zustrebten,
wiesen auf den großen Seehafen hin, der etwa fünfzehn Kilometer stromaufwärts
liegt. Bald ragten die hohen Kirchtürme aus der weiten Ebene hervor, und
nach einer Flußfahrt von wenigen Stunden legte die „Deutschland" in Riga
an, in nächster Nähe der großen alten Ordensburg. Schon hier konnte man
sehen, daß die Dura nächst dem Meer die zweite Kraftquelle der reichen Stadt
ist. Der dort einen Kilometer breite Strom war fast ganz zugedeckt von einem
anscheinend endlosen schwimmenden Holzlager, das jahraus jahrein in Gestalt
von riesigen Flößen aus dem weitverzweigten Fluß- und Kanalsystem der Dura
hergeführt wird. Riga ist der Eingangs- und Ausgangshafen für fast ganz
Westrußland, und so ist es kein Wunder, wenn die Stadt, die jetzt auf 300000
Einwohner herangewachsen und der zweite Seeplatz des großen russischen Reichs
geworden ist, die Mutterstädte Bremen und Lübeck an Einwohnerzahl und an
Bedeutung, wenigstens an relativer Bedeutung, überflügelt hat. Die Stadt macht
selbst in ihren Vororten im wesentlichen einen westeuropäischen Eindruck.

Der Kern der Stadt hebt sich von den neueren Teilen scharf ab, da er
bis 1858 von der alten Stadtmauer eingeschlossen war, von der einzelne Teile
noch erhalten sind; das mächtigste Stück der alten Befestigung ist ein schöner
Turm, der ehemalige Pulverturm, der den Dürerschen Türmen in Nürnberg
nicht viel nachgibt. Er ist seit einigen Jahren von der Akademischen Verbindung
Rubonia zu einem geradezu idealen, hochromantischen Studentenquartier um¬
geschaffen worden. Ein unregelmäßiges Eirund von etwa 1200 Meter Länge
und 500 Meter Breite, gleicht der Stadtkern noch heute einer alten norddeutschen
Hansestadt, und zwar einer von den größeren und reicheren und einer von
denen, die ihr altertümliches Aussehen besonders gut bewahrt haben. Selbst¬
verständlich wird durch Läden in den Hauptstraßen und einige protzige Neu¬
bauten immerhin die Einheitlichkeit des Bildes da und dort beeinträchtigt.


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[0326] Line Sommerreise durch das Baltenland Hunderten gemeinsamen evangelisch-lutherischen Kirche und auf dem bis vor fünf¬ undzwanzig Jahren stark vom Deutschtum beeinflußten Schulwesen der „Ur¬ einwohner". Bis vor fünfundzwanzig Jahren gingen die chemischen und lettischen Lehrer an den chemischen und lettischen Schulen aus deutschen Lehrerseminarien hervor und waren, wenn auch schon seit langer Zeit vielfach aus nationalen und sozialen Gründen deutschfeindlich, doch im Bannkreis deutscher Kultur. Es gab damals aber auch unter den Letten und Ehlen fast keine analphabetischen Rekruten; dagegen sind laut amtlicher Statistik nach der Nussifizierung der Volks¬ schulen im Jahre 1892 12 Prozent, im Jahre 1899 sogar 20 Prozent aller schulpflichtigen Kinder in Livland ohne jeglichen Unterricht geblieben, während es 1882 — gegen Ende der deutschen Verwaltung — nur 2 Prozent waren. Ich kam auf demselben Wege nach Livland, auf dem am Ende des zwölften Jahrhunderts die deutschen Missionare und hart auf ihren Fersen die deutschen Kaufleute und die Ritter vom Schwertorden ins Land der heidnischen Liven, Letten und Ehlen gefahren waren: von Lübeck aus zu Schiff nach Riga. Die vielen Schiffe, die in der Bucht von Riga der Dünamündung zustrebten, wiesen auf den großen Seehafen hin, der etwa fünfzehn Kilometer stromaufwärts liegt. Bald ragten die hohen Kirchtürme aus der weiten Ebene hervor, und nach einer Flußfahrt von wenigen Stunden legte die „Deutschland" in Riga an, in nächster Nähe der großen alten Ordensburg. Schon hier konnte man sehen, daß die Dura nächst dem Meer die zweite Kraftquelle der reichen Stadt ist. Der dort einen Kilometer breite Strom war fast ganz zugedeckt von einem anscheinend endlosen schwimmenden Holzlager, das jahraus jahrein in Gestalt von riesigen Flößen aus dem weitverzweigten Fluß- und Kanalsystem der Dura hergeführt wird. Riga ist der Eingangs- und Ausgangshafen für fast ganz Westrußland, und so ist es kein Wunder, wenn die Stadt, die jetzt auf 300000 Einwohner herangewachsen und der zweite Seeplatz des großen russischen Reichs geworden ist, die Mutterstädte Bremen und Lübeck an Einwohnerzahl und an Bedeutung, wenigstens an relativer Bedeutung, überflügelt hat. Die Stadt macht selbst in ihren Vororten im wesentlichen einen westeuropäischen Eindruck. Der Kern der Stadt hebt sich von den neueren Teilen scharf ab, da er bis 1858 von der alten Stadtmauer eingeschlossen war, von der einzelne Teile noch erhalten sind; das mächtigste Stück der alten Befestigung ist ein schöner Turm, der ehemalige Pulverturm, der den Dürerschen Türmen in Nürnberg nicht viel nachgibt. Er ist seit einigen Jahren von der Akademischen Verbindung Rubonia zu einem geradezu idealen, hochromantischen Studentenquartier um¬ geschaffen worden. Ein unregelmäßiges Eirund von etwa 1200 Meter Länge und 500 Meter Breite, gleicht der Stadtkern noch heute einer alten norddeutschen Hansestadt, und zwar einer von den größeren und reicheren und einer von denen, die ihr altertümliches Aussehen besonders gut bewahrt haben. Selbst¬ verständlich wird durch Läden in den Hauptstraßen und einige protzige Neu¬ bauten immerhin die Einheitlichkeit des Bildes da und dort beeinträchtigt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/326>, abgerufen am 23.07.2024.