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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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Exotische Musik

von Konfuzius wie von Plato. Aber auch für die meisten primitiven Stämme
ist die Musik ein unentbehrlicher Bestandteil ihres Daseins; an allen fröhlichen
wie ernsten Veranstaltungen beteiligt sie sich in hervorragender Weise. Die
Mehrzahl der außereuropäischen Völker betrachtet die alten Melodien wie auch
deren Texte als sakrosankt und legt hohen Wert auf ihre genaue Überlieferung.
Deshalb kann man zuversichtlich hoffen, in der exotischen Musik hie und da
uralten Weisen zu begegnen.

So muß die bisher übliche Verspottung der exotischen Musik einer auf¬
richtigen Achtung weichen. Wenn wir auch, wie gesagt, heute noch außerstande
sind, in ihre charakteristischen Schönheiten völlig einzudringen, so hat sie dennoch
hohen Anspruch auf unsere Beachtung. Denn ganz abgesehen davon, daß die
vielen merkwürdigen Formen, die sie birgt, zu manchem fruchtbaren Gedanken
anregen, vermag ihr systematisches Studium drei Wissenschaften wertvolle Dienste
zu leisten:

der Ethnologie, weil die Musik bei den fremden Völkern einen der wichtigsten
Kulturfaktoren bildet und weil mit Hilfe der vergleichenden Musikwissenschaft
vielfach Beziehungen zwischen einzelnen Stämmen mit besonderer Sicherheit
ermittelt werden können --

der Musikgeschichte, weil sich in der exotischen Musik gewisse Formbildungen
zeigen, die alten Formen unserer eigenen Musik analog sind, so daß dein Musik¬
historiker ein praktisches Studium dessen möglich wird, was er bisher nur aus
zum Teil recht unvollkommenen Aufzeichnungen und Beschreibungen kannte --

der Psychologie, weil die zahlreichen, oft völlig gegensätzlichen Gebilde und
Entwicklungsarten in der exotischen Musik auf manche ästhetische und ton¬
psychologische Fragen Auskunft zu geben und auch andere Probleme, wie etwa
die Frage nach dem Ursprung der Musik, deren Verhältnis zur Sprache, der
Priorität des Rhythmus, der Harmonie oder der Melodie ihrer Lösung näher zu
bringen vermögen.

Es muß demnach nur für die möglichst rasche Herbeischaffung alles wichtigen
Materials gesorgt werden, um der vergleichenden Musikwissenschaft eine bedeutungs¬
volle Zukunft zu sichern. Mit der immer weiteren Ausbreitung der europäischen
Kultur dringen auch die Weisen unserer Musik in die entlegensten Welt¬
teile und werden fast überall, besonders bei den primitiveren Völkern, nur
allzu gern aufgenommen. Wo aber erst einmal Leo Fall und Franz Lehar
Heimatrecht erlangt haben, da ist für die vergleichende Musikwissenschaft nicht
mehr viel zu gewinnen.




Exotische Musik

von Konfuzius wie von Plato. Aber auch für die meisten primitiven Stämme
ist die Musik ein unentbehrlicher Bestandteil ihres Daseins; an allen fröhlichen
wie ernsten Veranstaltungen beteiligt sie sich in hervorragender Weise. Die
Mehrzahl der außereuropäischen Völker betrachtet die alten Melodien wie auch
deren Texte als sakrosankt und legt hohen Wert auf ihre genaue Überlieferung.
Deshalb kann man zuversichtlich hoffen, in der exotischen Musik hie und da
uralten Weisen zu begegnen.

So muß die bisher übliche Verspottung der exotischen Musik einer auf¬
richtigen Achtung weichen. Wenn wir auch, wie gesagt, heute noch außerstande
sind, in ihre charakteristischen Schönheiten völlig einzudringen, so hat sie dennoch
hohen Anspruch auf unsere Beachtung. Denn ganz abgesehen davon, daß die
vielen merkwürdigen Formen, die sie birgt, zu manchem fruchtbaren Gedanken
anregen, vermag ihr systematisches Studium drei Wissenschaften wertvolle Dienste
zu leisten:

der Ethnologie, weil die Musik bei den fremden Völkern einen der wichtigsten
Kulturfaktoren bildet und weil mit Hilfe der vergleichenden Musikwissenschaft
vielfach Beziehungen zwischen einzelnen Stämmen mit besonderer Sicherheit
ermittelt werden können —

der Musikgeschichte, weil sich in der exotischen Musik gewisse Formbildungen
zeigen, die alten Formen unserer eigenen Musik analog sind, so daß dein Musik¬
historiker ein praktisches Studium dessen möglich wird, was er bisher nur aus
zum Teil recht unvollkommenen Aufzeichnungen und Beschreibungen kannte —

der Psychologie, weil die zahlreichen, oft völlig gegensätzlichen Gebilde und
Entwicklungsarten in der exotischen Musik auf manche ästhetische und ton¬
psychologische Fragen Auskunft zu geben und auch andere Probleme, wie etwa
die Frage nach dem Ursprung der Musik, deren Verhältnis zur Sprache, der
Priorität des Rhythmus, der Harmonie oder der Melodie ihrer Lösung näher zu
bringen vermögen.

Es muß demnach nur für die möglichst rasche Herbeischaffung alles wichtigen
Materials gesorgt werden, um der vergleichenden Musikwissenschaft eine bedeutungs¬
volle Zukunft zu sichern. Mit der immer weiteren Ausbreitung der europäischen
Kultur dringen auch die Weisen unserer Musik in die entlegensten Welt¬
teile und werden fast überall, besonders bei den primitiveren Völkern, nur
allzu gern aufgenommen. Wo aber erst einmal Leo Fall und Franz Lehar
Heimatrecht erlangt haben, da ist für die vergleichende Musikwissenschaft nicht
mehr viel zu gewinnen.




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[0284] Exotische Musik von Konfuzius wie von Plato. Aber auch für die meisten primitiven Stämme ist die Musik ein unentbehrlicher Bestandteil ihres Daseins; an allen fröhlichen wie ernsten Veranstaltungen beteiligt sie sich in hervorragender Weise. Die Mehrzahl der außereuropäischen Völker betrachtet die alten Melodien wie auch deren Texte als sakrosankt und legt hohen Wert auf ihre genaue Überlieferung. Deshalb kann man zuversichtlich hoffen, in der exotischen Musik hie und da uralten Weisen zu begegnen. So muß die bisher übliche Verspottung der exotischen Musik einer auf¬ richtigen Achtung weichen. Wenn wir auch, wie gesagt, heute noch außerstande sind, in ihre charakteristischen Schönheiten völlig einzudringen, so hat sie dennoch hohen Anspruch auf unsere Beachtung. Denn ganz abgesehen davon, daß die vielen merkwürdigen Formen, die sie birgt, zu manchem fruchtbaren Gedanken anregen, vermag ihr systematisches Studium drei Wissenschaften wertvolle Dienste zu leisten: der Ethnologie, weil die Musik bei den fremden Völkern einen der wichtigsten Kulturfaktoren bildet und weil mit Hilfe der vergleichenden Musikwissenschaft vielfach Beziehungen zwischen einzelnen Stämmen mit besonderer Sicherheit ermittelt werden können — der Musikgeschichte, weil sich in der exotischen Musik gewisse Formbildungen zeigen, die alten Formen unserer eigenen Musik analog sind, so daß dein Musik¬ historiker ein praktisches Studium dessen möglich wird, was er bisher nur aus zum Teil recht unvollkommenen Aufzeichnungen und Beschreibungen kannte — der Psychologie, weil die zahlreichen, oft völlig gegensätzlichen Gebilde und Entwicklungsarten in der exotischen Musik auf manche ästhetische und ton¬ psychologische Fragen Auskunft zu geben und auch andere Probleme, wie etwa die Frage nach dem Ursprung der Musik, deren Verhältnis zur Sprache, der Priorität des Rhythmus, der Harmonie oder der Melodie ihrer Lösung näher zu bringen vermögen. Es muß demnach nur für die möglichst rasche Herbeischaffung alles wichtigen Materials gesorgt werden, um der vergleichenden Musikwissenschaft eine bedeutungs¬ volle Zukunft zu sichern. Mit der immer weiteren Ausbreitung der europäischen Kultur dringen auch die Weisen unserer Musik in die entlegensten Welt¬ teile und werden fast überall, besonders bei den primitiveren Völkern, nur allzu gern aufgenommen. Wo aber erst einmal Leo Fall und Franz Lehar Heimatrecht erlangt haben, da ist für die vergleichende Musikwissenschaft nicht mehr viel zu gewinnen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/284>, abgerufen am 22.07.2024.