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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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Die internationale Sprache

Das Wörterbuch für die Esperantosprache kann je nachdem dünner oder
dicker sein als das einer natürlichen Sprache. Nimmt man nur die Wortwurzeln
auf, aus denen der Esperantist nach den besonderen Regeln über die Wortbildung
die verschiedensten Ausdrücke ableiten kann, so wird es nur ein kleines Buch und
zeigt, wie wenig Vokabeln man im Verhältnis zu anderen Sprachen zu lernen
braucht. Bedenkt man ferner, daß einem die Mehrzahl der Stämme ganz oder
ungefähr bekannt ist, daß die Schreibweise lautgetreu und die Aussprache und
Betonung durchaus regelmäßig sind, so schwinden wieder viele Schwierigkeiten,
die sich in anderen Sprachen bei der Erlernung der Wörter selbst mit bekannten
Stämmen finden.

Nimmt man aber alle Wörter auf, die in der Esperantosprache möglich
sind, und die in der Unterhaltung und Literatur vorkommen können, so wird
ein Wörterbuch daraus, das an Umfang das jeder anderen Sprache über¬
trifft, ein Werk von der Größe eines Konversationslexikons, wobei man
nicht einmal an alle rein theoretischen Möglichkeiten zu denken braucht, -- ein
Beweis, welcher Reichtum aus der Zusammensetzung weniger Grundformen
entstehen kann.

Ich will ein paar Beispiele für beide Fälle und damit gleich einen Überblick
über die Art der Wortbildung geben:

Esperanto hat nur einen Artikel, man braucht sich nicht den Kopf zu zer¬
brechen, warum es der Stand, die Wand, das Land heißt. Auch die Wider¬
sprüche zwischen grammatischem und natürlichem Geschlecht gibt es nicht, wie
im Deutschen, wo die Schildwache männlich, der Backfisch weiblich ist, sonst die
meisten Damen sächlich: das Mädchen, das Fräulein, das Weib. Im Deutschen
wird das natürliche Geschlecht auf vielerlei Art oder gar nicht unterschieden,
entweder durch verschiedene Stammwörter: der Mann, die Frau, der Sohn, die
Tochter, oder nur durch den Artikel: der Pate, die Pate, der Verwandte, die
Verwandte, oder durch verschiedene Endungen: Freund, Freundin, Witwer,
Witwe, Direktor, Direktrice, Prinz, Prinzessin, Marquis, Marquise, Abt, Äbtissin.
Oft ist man in Verlegenheit, wie man das Femininum bilden soll: neben dem
Gast gibt es keine Gastin. Es hat lange gedauert, ehe man von Arzt Ärztin
abzuleiten wagte. Früher sagte man nur der Kunde und die Kunde, jetzt ist
allgemein die Kundin durchgedrungen.

Die Entwickelung, die ja von der Bequemlichkeit geleitet wird, wird die
Endung in immer allgemeiner machen. So scheut sich doch niemand, Landsmann
und Landsmännin zu sagen.

Esperanto hat von diesen Entwickelungstendenzen gelernt. Es bezeichnet
das weibliche Geschlecht immer durch die Endung imo: amiko, amikino (Freund,
Freundin), clirsktoro, all-elitormo (Direktrice), M8w (Gast), Mstino, auch wo
wir verschiedene Wörter haben: Mo, der Sohn, Mino, die Tochter, patro, der
Vater, Mtnno, die Mutter, onKIv, der Onkel, onKIino, die Tante, kraulo,
der Junggeselle, fr-mlmo, das Fräulein. Man kann sich vorstellen, wie sehr


Die internationale Sprache

Das Wörterbuch für die Esperantosprache kann je nachdem dünner oder
dicker sein als das einer natürlichen Sprache. Nimmt man nur die Wortwurzeln
auf, aus denen der Esperantist nach den besonderen Regeln über die Wortbildung
die verschiedensten Ausdrücke ableiten kann, so wird es nur ein kleines Buch und
zeigt, wie wenig Vokabeln man im Verhältnis zu anderen Sprachen zu lernen
braucht. Bedenkt man ferner, daß einem die Mehrzahl der Stämme ganz oder
ungefähr bekannt ist, daß die Schreibweise lautgetreu und die Aussprache und
Betonung durchaus regelmäßig sind, so schwinden wieder viele Schwierigkeiten,
die sich in anderen Sprachen bei der Erlernung der Wörter selbst mit bekannten
Stämmen finden.

Nimmt man aber alle Wörter auf, die in der Esperantosprache möglich
sind, und die in der Unterhaltung und Literatur vorkommen können, so wird
ein Wörterbuch daraus, das an Umfang das jeder anderen Sprache über¬
trifft, ein Werk von der Größe eines Konversationslexikons, wobei man
nicht einmal an alle rein theoretischen Möglichkeiten zu denken braucht, — ein
Beweis, welcher Reichtum aus der Zusammensetzung weniger Grundformen
entstehen kann.

Ich will ein paar Beispiele für beide Fälle und damit gleich einen Überblick
über die Art der Wortbildung geben:

Esperanto hat nur einen Artikel, man braucht sich nicht den Kopf zu zer¬
brechen, warum es der Stand, die Wand, das Land heißt. Auch die Wider¬
sprüche zwischen grammatischem und natürlichem Geschlecht gibt es nicht, wie
im Deutschen, wo die Schildwache männlich, der Backfisch weiblich ist, sonst die
meisten Damen sächlich: das Mädchen, das Fräulein, das Weib. Im Deutschen
wird das natürliche Geschlecht auf vielerlei Art oder gar nicht unterschieden,
entweder durch verschiedene Stammwörter: der Mann, die Frau, der Sohn, die
Tochter, oder nur durch den Artikel: der Pate, die Pate, der Verwandte, die
Verwandte, oder durch verschiedene Endungen: Freund, Freundin, Witwer,
Witwe, Direktor, Direktrice, Prinz, Prinzessin, Marquis, Marquise, Abt, Äbtissin.
Oft ist man in Verlegenheit, wie man das Femininum bilden soll: neben dem
Gast gibt es keine Gastin. Es hat lange gedauert, ehe man von Arzt Ärztin
abzuleiten wagte. Früher sagte man nur der Kunde und die Kunde, jetzt ist
allgemein die Kundin durchgedrungen.

Die Entwickelung, die ja von der Bequemlichkeit geleitet wird, wird die
Endung in immer allgemeiner machen. So scheut sich doch niemand, Landsmann
und Landsmännin zu sagen.

Esperanto hat von diesen Entwickelungstendenzen gelernt. Es bezeichnet
das weibliche Geschlecht immer durch die Endung imo: amiko, amikino (Freund,
Freundin), clirsktoro, all-elitormo (Direktrice), M8w (Gast), Mstino, auch wo
wir verschiedene Wörter haben: Mo, der Sohn, Mino, die Tochter, patro, der
Vater, Mtnno, die Mutter, onKIv, der Onkel, onKIino, die Tante, kraulo,
der Junggeselle, fr-mlmo, das Fräulein. Man kann sich vorstellen, wie sehr


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[0217] Die internationale Sprache Das Wörterbuch für die Esperantosprache kann je nachdem dünner oder dicker sein als das einer natürlichen Sprache. Nimmt man nur die Wortwurzeln auf, aus denen der Esperantist nach den besonderen Regeln über die Wortbildung die verschiedensten Ausdrücke ableiten kann, so wird es nur ein kleines Buch und zeigt, wie wenig Vokabeln man im Verhältnis zu anderen Sprachen zu lernen braucht. Bedenkt man ferner, daß einem die Mehrzahl der Stämme ganz oder ungefähr bekannt ist, daß die Schreibweise lautgetreu und die Aussprache und Betonung durchaus regelmäßig sind, so schwinden wieder viele Schwierigkeiten, die sich in anderen Sprachen bei der Erlernung der Wörter selbst mit bekannten Stämmen finden. Nimmt man aber alle Wörter auf, die in der Esperantosprache möglich sind, und die in der Unterhaltung und Literatur vorkommen können, so wird ein Wörterbuch daraus, das an Umfang das jeder anderen Sprache über¬ trifft, ein Werk von der Größe eines Konversationslexikons, wobei man nicht einmal an alle rein theoretischen Möglichkeiten zu denken braucht, — ein Beweis, welcher Reichtum aus der Zusammensetzung weniger Grundformen entstehen kann. Ich will ein paar Beispiele für beide Fälle und damit gleich einen Überblick über die Art der Wortbildung geben: Esperanto hat nur einen Artikel, man braucht sich nicht den Kopf zu zer¬ brechen, warum es der Stand, die Wand, das Land heißt. Auch die Wider¬ sprüche zwischen grammatischem und natürlichem Geschlecht gibt es nicht, wie im Deutschen, wo die Schildwache männlich, der Backfisch weiblich ist, sonst die meisten Damen sächlich: das Mädchen, das Fräulein, das Weib. Im Deutschen wird das natürliche Geschlecht auf vielerlei Art oder gar nicht unterschieden, entweder durch verschiedene Stammwörter: der Mann, die Frau, der Sohn, die Tochter, oder nur durch den Artikel: der Pate, die Pate, der Verwandte, die Verwandte, oder durch verschiedene Endungen: Freund, Freundin, Witwer, Witwe, Direktor, Direktrice, Prinz, Prinzessin, Marquis, Marquise, Abt, Äbtissin. Oft ist man in Verlegenheit, wie man das Femininum bilden soll: neben dem Gast gibt es keine Gastin. Es hat lange gedauert, ehe man von Arzt Ärztin abzuleiten wagte. Früher sagte man nur der Kunde und die Kunde, jetzt ist allgemein die Kundin durchgedrungen. Die Entwickelung, die ja von der Bequemlichkeit geleitet wird, wird die Endung in immer allgemeiner machen. So scheut sich doch niemand, Landsmann und Landsmännin zu sagen. Esperanto hat von diesen Entwickelungstendenzen gelernt. Es bezeichnet das weibliche Geschlecht immer durch die Endung imo: amiko, amikino (Freund, Freundin), clirsktoro, all-elitormo (Direktrice), M8w (Gast), Mstino, auch wo wir verschiedene Wörter haben: Mo, der Sohn, Mino, die Tochter, patro, der Vater, Mtnno, die Mutter, onKIv, der Onkel, onKIino, die Tante, kraulo, der Junggeselle, fr-mlmo, das Fräulein. Man kann sich vorstellen, wie sehr

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/217>, abgerufen am 03.07.2024.