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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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Marokkanischer Brief

der Franzosen geändert,. daß sie sich jetzt kurzerhand das fragliche Gebiet annek¬
tieren, ohne offenbar den Einspruch der Algecirasmächte befürchten zu müssen,
obwohl die Algecirasakte den Franzosen nur das Recht zuspricht, im algerischen
Grenzbezirk mit der marokkanischen Regierung Sonderabmachungen über Ver¬
hütung von Schmuggel zu treffen I Die Festsetzung der Franzosen in den Grenz¬
gebieten kann nun leicht dazu führen, einen erheblichen Teil des marokkanischen
Handels unter differenzieller Zollbehandlung über die algerische Grenze zu leiten,
ein Unistand, der die aufmerksamste Beachtung verdient.

Wie stellt sich nun die marokkanische Bevölkerung zu der neuen Entwicklung
der Dinge, und wie suchen die Franzosen mit ihr fertig zu werden?

Der Marokkaner gehört zu den fanatischsten Bekennern des Islam und
besitzt einen außergewöhnlichen Hochmut und Haß gegen Andersgläubige. Noch
heute kann es z. B. vorkommen, daß der Europäer beim Durchschreiten der
Straßen von Fes unter Schimpfworten angespielt wirbt Auf der anderen Seite
dagegen wohnt dem Marokkaner ein ausgeprägter Sinn für die Realitäten des
Lebens inne, und wo er merkt, daß er der Schwächere ist, lenkt er gefügig ein;
bezeichnenderweise lautet ein marokkanisches Sprichwort: "Küsse die Hand, die
du nicht abhauen kannstl" Eine besondere Schwäche hat er wie alle Orientalen
für die Macht des Geldes; seine ausgesprochen kaufmännische Begabung läßt
ihn bei all und jedem zuerst daran denken, was er verdienen kann, und bietet
sich ihm hierzu eine Möglichkeit, so treten alle anderen Rücksichten in den Hinter¬
grund. Natürlich macht Frankreich von dieser orientalischen Schwäche an geeig¬
neten Stellen ausgiebigen Gebrauch.'

Durch die Kolonisierung Algeriens haben die Franzosen nicht nur Übung
in der Behandlung mohammedanischer Völker gewonnen, sondern sich auch ein
Beamtenmaterial geschaffen, das ihnen bei der "friedlichen Durchdringung"
Marokkos außerordentlich wertvolle Dienste leistet. Wie sie dieKämpfe in derSchauia
zum großen Teil mit algerischen Truppen durchgefochten haben, so stehen ihnen
auch für die Zivilverwaltung zahlreiche gut geschulte algerische Elemente zur Ver¬
fügung. Wer das Verhalten dieser algerischen Soldaten und Beamten gegenüber
ihren marokkanischen Stammesgenossen kennen zu lernen Gelegenheit hatte, wird
die oft vertretenen Hinweise auf die drohenden Gefahren des Panislamismus
als durchaus übertrieben zurückweisen. Der Panislamismus könnte nur dann
zu einer drohenden Macht werden, wenn die verschiedenen mohammedanischen
Völker sich von ihrer kulturellen Lethargie befreiten und mit modernem Geist
beseelten; ob diese Wandlung aber jemals eintreten wird, dürfte jedem
Kenner des Islam mehr als zweifelhaft sein. -- Jedenfalls stehen sich die
algerischen und marokkanischen Stammesbrüder ebenso fremd gegenüber wie
etwa die germanische und die romanische Rasse. Deshalb ist jede An¬
nahme, Frankreich werde sich bei der Verspeisung des marokkanischen Kuchens
seinen algerischen Magen verderben, utopistisch und die Gefahr einer Ver¬
stärkung der französischen Heeresmacht durch zukünftige marokkanische Kor-


Marokkanischer Brief

der Franzosen geändert,. daß sie sich jetzt kurzerhand das fragliche Gebiet annek¬
tieren, ohne offenbar den Einspruch der Algecirasmächte befürchten zu müssen,
obwohl die Algecirasakte den Franzosen nur das Recht zuspricht, im algerischen
Grenzbezirk mit der marokkanischen Regierung Sonderabmachungen über Ver¬
hütung von Schmuggel zu treffen I Die Festsetzung der Franzosen in den Grenz¬
gebieten kann nun leicht dazu führen, einen erheblichen Teil des marokkanischen
Handels unter differenzieller Zollbehandlung über die algerische Grenze zu leiten,
ein Unistand, der die aufmerksamste Beachtung verdient.

Wie stellt sich nun die marokkanische Bevölkerung zu der neuen Entwicklung
der Dinge, und wie suchen die Franzosen mit ihr fertig zu werden?

Der Marokkaner gehört zu den fanatischsten Bekennern des Islam und
besitzt einen außergewöhnlichen Hochmut und Haß gegen Andersgläubige. Noch
heute kann es z. B. vorkommen, daß der Europäer beim Durchschreiten der
Straßen von Fes unter Schimpfworten angespielt wirbt Auf der anderen Seite
dagegen wohnt dem Marokkaner ein ausgeprägter Sinn für die Realitäten des
Lebens inne, und wo er merkt, daß er der Schwächere ist, lenkt er gefügig ein;
bezeichnenderweise lautet ein marokkanisches Sprichwort: „Küsse die Hand, die
du nicht abhauen kannstl" Eine besondere Schwäche hat er wie alle Orientalen
für die Macht des Geldes; seine ausgesprochen kaufmännische Begabung läßt
ihn bei all und jedem zuerst daran denken, was er verdienen kann, und bietet
sich ihm hierzu eine Möglichkeit, so treten alle anderen Rücksichten in den Hinter¬
grund. Natürlich macht Frankreich von dieser orientalischen Schwäche an geeig¬
neten Stellen ausgiebigen Gebrauch.'

Durch die Kolonisierung Algeriens haben die Franzosen nicht nur Übung
in der Behandlung mohammedanischer Völker gewonnen, sondern sich auch ein
Beamtenmaterial geschaffen, das ihnen bei der „friedlichen Durchdringung"
Marokkos außerordentlich wertvolle Dienste leistet. Wie sie dieKämpfe in derSchauia
zum großen Teil mit algerischen Truppen durchgefochten haben, so stehen ihnen
auch für die Zivilverwaltung zahlreiche gut geschulte algerische Elemente zur Ver¬
fügung. Wer das Verhalten dieser algerischen Soldaten und Beamten gegenüber
ihren marokkanischen Stammesgenossen kennen zu lernen Gelegenheit hatte, wird
die oft vertretenen Hinweise auf die drohenden Gefahren des Panislamismus
als durchaus übertrieben zurückweisen. Der Panislamismus könnte nur dann
zu einer drohenden Macht werden, wenn die verschiedenen mohammedanischen
Völker sich von ihrer kulturellen Lethargie befreiten und mit modernem Geist
beseelten; ob diese Wandlung aber jemals eintreten wird, dürfte jedem
Kenner des Islam mehr als zweifelhaft sein. — Jedenfalls stehen sich die
algerischen und marokkanischen Stammesbrüder ebenso fremd gegenüber wie
etwa die germanische und die romanische Rasse. Deshalb ist jede An¬
nahme, Frankreich werde sich bei der Verspeisung des marokkanischen Kuchens
seinen algerischen Magen verderben, utopistisch und die Gefahr einer Ver¬
stärkung der französischen Heeresmacht durch zukünftige marokkanische Kor-


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[0210] Marokkanischer Brief der Franzosen geändert,. daß sie sich jetzt kurzerhand das fragliche Gebiet annek¬ tieren, ohne offenbar den Einspruch der Algecirasmächte befürchten zu müssen, obwohl die Algecirasakte den Franzosen nur das Recht zuspricht, im algerischen Grenzbezirk mit der marokkanischen Regierung Sonderabmachungen über Ver¬ hütung von Schmuggel zu treffen I Die Festsetzung der Franzosen in den Grenz¬ gebieten kann nun leicht dazu führen, einen erheblichen Teil des marokkanischen Handels unter differenzieller Zollbehandlung über die algerische Grenze zu leiten, ein Unistand, der die aufmerksamste Beachtung verdient. Wie stellt sich nun die marokkanische Bevölkerung zu der neuen Entwicklung der Dinge, und wie suchen die Franzosen mit ihr fertig zu werden? Der Marokkaner gehört zu den fanatischsten Bekennern des Islam und besitzt einen außergewöhnlichen Hochmut und Haß gegen Andersgläubige. Noch heute kann es z. B. vorkommen, daß der Europäer beim Durchschreiten der Straßen von Fes unter Schimpfworten angespielt wirbt Auf der anderen Seite dagegen wohnt dem Marokkaner ein ausgeprägter Sinn für die Realitäten des Lebens inne, und wo er merkt, daß er der Schwächere ist, lenkt er gefügig ein; bezeichnenderweise lautet ein marokkanisches Sprichwort: „Küsse die Hand, die du nicht abhauen kannstl" Eine besondere Schwäche hat er wie alle Orientalen für die Macht des Geldes; seine ausgesprochen kaufmännische Begabung läßt ihn bei all und jedem zuerst daran denken, was er verdienen kann, und bietet sich ihm hierzu eine Möglichkeit, so treten alle anderen Rücksichten in den Hinter¬ grund. Natürlich macht Frankreich von dieser orientalischen Schwäche an geeig¬ neten Stellen ausgiebigen Gebrauch.' Durch die Kolonisierung Algeriens haben die Franzosen nicht nur Übung in der Behandlung mohammedanischer Völker gewonnen, sondern sich auch ein Beamtenmaterial geschaffen, das ihnen bei der „friedlichen Durchdringung" Marokkos außerordentlich wertvolle Dienste leistet. Wie sie dieKämpfe in derSchauia zum großen Teil mit algerischen Truppen durchgefochten haben, so stehen ihnen auch für die Zivilverwaltung zahlreiche gut geschulte algerische Elemente zur Ver¬ fügung. Wer das Verhalten dieser algerischen Soldaten und Beamten gegenüber ihren marokkanischen Stammesgenossen kennen zu lernen Gelegenheit hatte, wird die oft vertretenen Hinweise auf die drohenden Gefahren des Panislamismus als durchaus übertrieben zurückweisen. Der Panislamismus könnte nur dann zu einer drohenden Macht werden, wenn die verschiedenen mohammedanischen Völker sich von ihrer kulturellen Lethargie befreiten und mit modernem Geist beseelten; ob diese Wandlung aber jemals eintreten wird, dürfte jedem Kenner des Islam mehr als zweifelhaft sein. — Jedenfalls stehen sich die algerischen und marokkanischen Stammesbrüder ebenso fremd gegenüber wie etwa die germanische und die romanische Rasse. Deshalb ist jede An¬ nahme, Frankreich werde sich bei der Verspeisung des marokkanischen Kuchens seinen algerischen Magen verderben, utopistisch und die Gefahr einer Ver¬ stärkung der französischen Heeresmacht durch zukünftige marokkanische Kor-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/210>, abgerufen am 03.07.2024.