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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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Der rote Rausch

"O," sagten andere, "sie weiß alles; sie hat Erleuchtungen! Sie ist eine
Heilige! Sie ist mit Kräften begabt wie die Jungfrau von Orleans!"

"Hoch die Jungfrau, Jeanne!" Die Begeisterung war allgemein.

"Vorsicht, Mitbürger, wir wollen die Truppen lieber nicht in die Stadt lassen,
auch wenn sie augenblicklich als Freunde kommen," rief Richard.

Richards Rat fand Anklang; Richard war ein Mann von Überlegung, man
mußte ihn hören, trotz einer erleuchteten Jungfrau.

Vor der Stadt kam es dessenungeachtet zu feindseligen Kundgebungen, die
leicht schlimme Folgen hätten haben können. Die anrückenden Truppen wurden
mit einem Steinhagel empfangen.

Mit einem Steinhagel! Piff, pass, bum!

Bis hierher und nicht weiter! Die Heimatscholle! Den Boden seiner Väter!
Perpignan! Man wird es zu verteidigen wissen! Nieder mit der Regierung!

Ein junger Offizier, von einem Steinwurf leicht getroffen, verlor die Kalt¬
blütigkeit und kommandierte Feuer!

Kein Schuß fiel. Meuterei!

"Wir schießen auf unsere Landsleute nicht!" schrie ein junger Kerl, und die
ganze Linie schrie es mit.

"Ninon, Nana, Lolotte, Ninette, Marianne, Susanne, Babette --------!"

Der junge Kerl war Gaston.

Mit fliegenden Fahnen ging die Truppe zu den Bauern über.

"Sie kommen als unsere Freunde!" Der Jubel war grenzenlos.

"Nicht in die Stadt!" Mau verwehrte ihnen den Eintritt in die Stadt.
"Ihnen entgegen!"

"Hoch, Jeanne, die erleuchtete Jungfrau, die uns zum Siege führt!" Man
zog den Soldaten entgegen, Jeanne an der Spitze.

Ein lustiger Krieg! Ein Aufstand mit Amüsement! Revolution mit Sang
und Klang! Wer hätte das im ersten Schreck gedacht? Allein man ist Held und
hat gesiegt. Man gewöhnt sich daran. Vivat!

In einem Wäldchen vor der Stadt war das Feldlager aufgeschlagen. Ein
Weinfaß rollte hinaus. Man feierte Verbrüderung.

"Ninon, Nana, Lolotte----"

Jeanne, Gaston, welch ein Wiedersehen!

"Gaston, braver Junge! Dein Brief hat viel Unheil verhütet. Aber wie
wird das enden? Wie wird es für dich enden?"

"Für Gaston hat eine Sache niemals anders geendet als gut," erklärte der
junge Soldat mit angeborenem Selbstgefühl.

Die Liebenden umarmten sich; keine Sorge um Künftiges oder Vergangenes
fand Raum in diesem Augenblick des Glücks. Vergessen war die Zeit der Trennung
mit allem, was sie Gutes und Böses enthielt, für Jeanne die Not des Winzer¬
landes, die aufreibenden .Kämpfe des Vaters Marcellin, die zarten Huldigungen
des armen Rouquiö, die Verfolgungen des liebebetörten, unheimlichen Richard,
und für Gaston die trübe Zeit in L6shores Fabrik, der Wahn im Irrgarten der
Vorstadtvenus vou Paris, der rauhe Dienst in der Linie, die rasende Sehnsucht
nach der Heimat, nach den Weinbergen, nach der Geliebten---Lust und
Leid vergessen, versunken in diesem namenlosen Augenblick. . .


Der rote Rausch

„O," sagten andere, „sie weiß alles; sie hat Erleuchtungen! Sie ist eine
Heilige! Sie ist mit Kräften begabt wie die Jungfrau von Orleans!"

„Hoch die Jungfrau, Jeanne!" Die Begeisterung war allgemein.

„Vorsicht, Mitbürger, wir wollen die Truppen lieber nicht in die Stadt lassen,
auch wenn sie augenblicklich als Freunde kommen," rief Richard.

Richards Rat fand Anklang; Richard war ein Mann von Überlegung, man
mußte ihn hören, trotz einer erleuchteten Jungfrau.

Vor der Stadt kam es dessenungeachtet zu feindseligen Kundgebungen, die
leicht schlimme Folgen hätten haben können. Die anrückenden Truppen wurden
mit einem Steinhagel empfangen.

Mit einem Steinhagel! Piff, pass, bum!

Bis hierher und nicht weiter! Die Heimatscholle! Den Boden seiner Väter!
Perpignan! Man wird es zu verteidigen wissen! Nieder mit der Regierung!

Ein junger Offizier, von einem Steinwurf leicht getroffen, verlor die Kalt¬
blütigkeit und kommandierte Feuer!

Kein Schuß fiel. Meuterei!

„Wir schießen auf unsere Landsleute nicht!" schrie ein junger Kerl, und die
ganze Linie schrie es mit.

„Ninon, Nana, Lolotte, Ninette, Marianne, Susanne, Babette —------!"

Der junge Kerl war Gaston.

Mit fliegenden Fahnen ging die Truppe zu den Bauern über.

„Sie kommen als unsere Freunde!" Der Jubel war grenzenlos.

„Nicht in die Stadt!" Mau verwehrte ihnen den Eintritt in die Stadt.
„Ihnen entgegen!"

„Hoch, Jeanne, die erleuchtete Jungfrau, die uns zum Siege führt!" Man
zog den Soldaten entgegen, Jeanne an der Spitze.

Ein lustiger Krieg! Ein Aufstand mit Amüsement! Revolution mit Sang
und Klang! Wer hätte das im ersten Schreck gedacht? Allein man ist Held und
hat gesiegt. Man gewöhnt sich daran. Vivat!

In einem Wäldchen vor der Stadt war das Feldlager aufgeschlagen. Ein
Weinfaß rollte hinaus. Man feierte Verbrüderung.

„Ninon, Nana, Lolotte----"

Jeanne, Gaston, welch ein Wiedersehen!

„Gaston, braver Junge! Dein Brief hat viel Unheil verhütet. Aber wie
wird das enden? Wie wird es für dich enden?"

„Für Gaston hat eine Sache niemals anders geendet als gut," erklärte der
junge Soldat mit angeborenem Selbstgefühl.

Die Liebenden umarmten sich; keine Sorge um Künftiges oder Vergangenes
fand Raum in diesem Augenblick des Glücks. Vergessen war die Zeit der Trennung
mit allem, was sie Gutes und Böses enthielt, für Jeanne die Not des Winzer¬
landes, die aufreibenden .Kämpfe des Vaters Marcellin, die zarten Huldigungen
des armen Rouquiö, die Verfolgungen des liebebetörten, unheimlichen Richard,
und für Gaston die trübe Zeit in L6shores Fabrik, der Wahn im Irrgarten der
Vorstadtvenus vou Paris, der rauhe Dienst in der Linie, die rasende Sehnsucht
nach der Heimat, nach den Weinbergen, nach der Geliebten---Lust und
Leid vergessen, versunken in diesem namenlosen Augenblick. . .


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[0182] Der rote Rausch „O," sagten andere, „sie weiß alles; sie hat Erleuchtungen! Sie ist eine Heilige! Sie ist mit Kräften begabt wie die Jungfrau von Orleans!" „Hoch die Jungfrau, Jeanne!" Die Begeisterung war allgemein. „Vorsicht, Mitbürger, wir wollen die Truppen lieber nicht in die Stadt lassen, auch wenn sie augenblicklich als Freunde kommen," rief Richard. Richards Rat fand Anklang; Richard war ein Mann von Überlegung, man mußte ihn hören, trotz einer erleuchteten Jungfrau. Vor der Stadt kam es dessenungeachtet zu feindseligen Kundgebungen, die leicht schlimme Folgen hätten haben können. Die anrückenden Truppen wurden mit einem Steinhagel empfangen. Mit einem Steinhagel! Piff, pass, bum! Bis hierher und nicht weiter! Die Heimatscholle! Den Boden seiner Väter! Perpignan! Man wird es zu verteidigen wissen! Nieder mit der Regierung! Ein junger Offizier, von einem Steinwurf leicht getroffen, verlor die Kalt¬ blütigkeit und kommandierte Feuer! Kein Schuß fiel. Meuterei! „Wir schießen auf unsere Landsleute nicht!" schrie ein junger Kerl, und die ganze Linie schrie es mit. „Ninon, Nana, Lolotte, Ninette, Marianne, Susanne, Babette —------!" Der junge Kerl war Gaston. Mit fliegenden Fahnen ging die Truppe zu den Bauern über. „Sie kommen als unsere Freunde!" Der Jubel war grenzenlos. „Nicht in die Stadt!" Mau verwehrte ihnen den Eintritt in die Stadt. „Ihnen entgegen!" „Hoch, Jeanne, die erleuchtete Jungfrau, die uns zum Siege führt!" Man zog den Soldaten entgegen, Jeanne an der Spitze. Ein lustiger Krieg! Ein Aufstand mit Amüsement! Revolution mit Sang und Klang! Wer hätte das im ersten Schreck gedacht? Allein man ist Held und hat gesiegt. Man gewöhnt sich daran. Vivat! In einem Wäldchen vor der Stadt war das Feldlager aufgeschlagen. Ein Weinfaß rollte hinaus. Man feierte Verbrüderung. „Ninon, Nana, Lolotte----" Jeanne, Gaston, welch ein Wiedersehen! „Gaston, braver Junge! Dein Brief hat viel Unheil verhütet. Aber wie wird das enden? Wie wird es für dich enden?" „Für Gaston hat eine Sache niemals anders geendet als gut," erklärte der junge Soldat mit angeborenem Selbstgefühl. Die Liebenden umarmten sich; keine Sorge um Künftiges oder Vergangenes fand Raum in diesem Augenblick des Glücks. Vergessen war die Zeit der Trennung mit allem, was sie Gutes und Böses enthielt, für Jeanne die Not des Winzer¬ landes, die aufreibenden .Kämpfe des Vaters Marcellin, die zarten Huldigungen des armen Rouquiö, die Verfolgungen des liebebetörten, unheimlichen Richard, und für Gaston die trübe Zeit in L6shores Fabrik, der Wahn im Irrgarten der Vorstadtvenus vou Paris, der rauhe Dienst in der Linie, die rasende Sehnsucht nach der Heimat, nach den Weinbergen, nach der Geliebten---Lust und Leid vergessen, versunken in diesem namenlosen Augenblick. . .

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/182>, abgerufen am 01.10.2024.