Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.Der rote Rausch ganze wellige Land ist ein solches Umfinken wie von zahllosen Ohnmachten; jetzt Panik! In grellen Zügen war sie um jeden verzerrten Mund gemalt, in jedes ent¬ Jeder Schatten war eine Drohung, jeder Hohlweg eine lauernde Gefahr, und Das gelbe Winzerhorn, dieser schmetternde Messingvogel, schrie Tag aus "Siehst du nichts?" begehrte das Horn des einen Hügels angstvoll zu wissen. "Ich sehe nichts!" schmetterte das Horn des anderen Hügels zurück. Und Die Landschaft atmete tiefen Frieden. Wie lange noch? Dann wird jeder Weinstock lebendig, in seinen Blntter- Soldaten! "Ninon, Nana, Lolotte, Ninette, Marianne, Susanne, Babette--1" Selbst die friedfertigsten Seelen gerieten außer sich über die Nachricht, daß In allen Straßen, in allen Orten, wo zwei Menschen zusammentrafen, war "Warum? Warum?" Perpignan war überflutet von Menschen. Die Führer waren verhaftet, Neue Führer waren aufgetaucht und redeten von den Dächern herab. Jeder "Mitbürger, haben wir mehr verlangt als unser Recht? Nein! Haben wir "Sie kommen!" schrie einer, von Angst erfaßt. "Sie kommen!" schrie das Echo hundertfach; ein Drängen, Stoßen, Flüchten "Trapp, trapp! Horcht, der Boden zittert unter den Tritten!" Einige legten "Einbildung!" "Siehst du nichts?" trompeteten die Winzerhörner. "Ich sehe nichts!" klang Der rote Rausch ganze wellige Land ist ein solches Umfinken wie von zahllosen Ohnmachten; jetzt Panik! In grellen Zügen war sie um jeden verzerrten Mund gemalt, in jedes ent¬ Jeder Schatten war eine Drohung, jeder Hohlweg eine lauernde Gefahr, und Das gelbe Winzerhorn, dieser schmetternde Messingvogel, schrie Tag aus „Siehst du nichts?" begehrte das Horn des einen Hügels angstvoll zu wissen. „Ich sehe nichts!" schmetterte das Horn des anderen Hügels zurück. Und Die Landschaft atmete tiefen Frieden. Wie lange noch? Dann wird jeder Weinstock lebendig, in seinen Blntter- Soldaten! „Ninon, Nana, Lolotte, Ninette, Marianne, Susanne, Babette--1" Selbst die friedfertigsten Seelen gerieten außer sich über die Nachricht, daß In allen Straßen, in allen Orten, wo zwei Menschen zusammentrafen, war „Warum? Warum?" Perpignan war überflutet von Menschen. Die Führer waren verhaftet, Neue Führer waren aufgetaucht und redeten von den Dächern herab. Jeder „Mitbürger, haben wir mehr verlangt als unser Recht? Nein! Haben wir „Sie kommen!" schrie einer, von Angst erfaßt. „Sie kommen!" schrie das Echo hundertfach; ein Drängen, Stoßen, Flüchten „Trapp, trapp! Horcht, der Boden zittert unter den Tritten!" 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Der rote Rausch
ganze wellige Land ist ein solches Umfinken wie von zahllosen Ohnmachten; jetzt
steht es vor der Tür, und jetzt, jetzt, jetzt kann das Unfaßbare geschehen . . .
Panik!
In grellen Zügen war sie um jeden verzerrten Mund gemalt, in jedes ent¬
setzte Menschenantlitz, in das friedfertige Bild der Landschaft.
Jeder Schatten war eine Drohung, jeder Hohlweg eine lauernde Gefahr, und
von den Weinbergshöhen sah der Tod mit hunderttausend hohlen Augen herab.
In den Gärten wurde die Blume des Hasses gebrochen.
Das gelbe Winzerhorn, dieser schmetternde Messingvogel, schrie Tag aus
Tag ein. Es war ein Symbol der Wachsamkeit.
„Siehst du nichts?" begehrte das Horn des einen Hügels angstvoll zu wissen.
„Ich sehe nichts!" schmetterte das Horn des anderen Hügels zurück. Und
von Hügel zu Hügel ging der klägliche Schrei des starren Vogels übers Land,
eine Panik in der blaugoldenen Luft.
Die Landschaft atmete tiefen Frieden.
Wie lange noch? Dann wird jeder Weinstock lebendig, in seinen Blntter-
fingern hält er nicht die süße Traube, sondern blitzende Bajonette; in langen
Kolonnen eilt es von den Höhen herab :
Soldaten!
„Ninon, Nana, Lolotte, Ninette, Marianne, Susanne, Babette--1"
Selbst die friedfertigsten Seelen gerieten außer sich über die Nachricht, daß
Militär nach den südlichen Provinzen geschickt werden solle, um die „Ruhe"
wieder herzustellen.
In allen Straßen, in allen Orten, wo zwei Menschen zusammentrafen, war
die eine Frage:
„Warum? Warum?"
Perpignan war überflutet von Menschen. Die Führer waren verhaftet,
Marcellin war in die Höhle des Löwen gegangen, die „Garantien" zu holen;
statt „Garantien" sollte Militär geschickt werden. Grausamer Hohn!
Neue Führer waren aufgetaucht und redeten von den Dächern herab. Jeder
wollte die Wonnen der Macht genießen, der Macht über Hunderttausende Beifall
brüllender Menschen.
„Mitbürger, haben wir mehr verlangt als unser Recht? Nein! Haben wir
den Frieden gestört? Sind wir Revolutionäre? Nein! Wir sind friedliebende
Bürger. Revolutionäre sind jene, die unser Recht mit Füßen treten und die mit
bewaffneter Hand in unsere Gärten einbrechen wollen. Müssen wir uns die
Schmach gefallen lassen? Nein! Räuber sind sie und Mörder. Wir werden uns
zu schützen wissen, Gott mit uns!"
„Sie kommen!" schrie einer, von Angst erfaßt.
„Sie kommen!" schrie das Echo hundertfach; ein Drängen, Stoßen, Flüchten
begann.
„Trapp, trapp! Horcht, der Boden zittert unter den Tritten!" Einige legten
das Ohr an die Erde.
„Einbildung!"
„Siehst du nichts?" trompeteten die Winzerhörner. „Ich sehe nichts!" klang
es von den fernen Hügeln herüber.
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