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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Deutsche Bühnenkunst in den letzten zwanzig Jahren

Gesellschaftsschicht bis auf die Knochen bloßlegte, stand damit zur ersten öffent¬
lichen Diskussion und entfesselte denn auch im Lager des versammelten
Philistertums die empörtesten Protestresolutionen.

Aber die Bewegung war nun einmal im Fluß und durch nichts mehr
aufzuhalten. Ibsen fand in Deutschland eine treue Gemeinde, die ihre Haut
für ihn zu Markte trug und an deren Spitze ehrliche und gebildete Kämpfer¬
naturen wie Otto Brahm und Paul Schlenther traten. Die Gründung der
Freien Buhne im Jahre 1889 war das erste und greifbare Resultat der
neuen Bewegung. Und das zweite war der unter wüsten Kämpfen durchgesetzte
Triumph eines jungen deutschen Dramatikers: Gerhart Hauptmanns "Vor
Sonnenaufgang" wurde am 20. November 1889 zum ersten Male in Berlin
gespielt und machte den Namen seines Autors über Nacht zu einer europäischen
Berühmtheit.

Es war klar, daß nun auch die deutsche Schauspielkunst irgendwie zu der
neuen Bewegung Stellung nehmen mußte. Die von der bisherigen Theater¬
manier weitaus verschiedene Anschauungsart und Technik eines Ibsen oder eines
Hauptmann trat mit ihren gebieterischen Forderungen auch an den Darsteller
heran. Das auf glatte Feuilletonphrasen gearbeitete Pathos Paul Lindaus oder
Oskar Blumenthals hatte hier keinen Raum mehr. Und die Heroinentradition
der deutschen Hoftheater trat vor den Forderungen der Gegenwart erst recht in
den Hintergrund. Die Menschen Ibsens und Hauptmanns redeten die Sprache
des Lebens. Der klassische Kothurn war ihnen so fremd wie das Jamben¬
geklingel der Schillerepigonen. Sie sprachen, wie Nachbar Schulze und Lehmann
zu sprechen pflegen, hatten die rüden Manieren, die die meisten Zeitgenossen
nun leider Gottes haben, aßen und tranken und schmatzten dabei wie die erstbeste klein¬
bürgerliche Familie. Sie verschluckten halbe Sätze, rüusperten sich und husteten,
steckten die Hände in die Hosentaschen und redeten von den allersimpelsten
Alltagsdingen. Der in klassischer Tradition großgewordene Hofschauspieler, dem,
wie Otto Brahm in einer historischen Würdigung der Freien Bühne einmal
gesagt hat, "leicht ein Schein von Gefallenwollen anhaftete, von Wirkenwollen
im Sonderinteresse des Mimen, von beifallheischender Koketterie", konnte sich
hier niemals zurechtfinden. An seine Stelle mußte ein junges Geschlecht treten,
das mit den neuen Idealen groß geworden war und nun mit voraussetzungs¬
loser Gläubigkeit an die Verkündung des als einzig wahr erkannten Evangeliums
gehen konnte -- ein Geschlecht, das, weil selbst traditionslos, an keine Rück¬
sichten gebunden war und deshalb auch vor Übertreibungen nicht zu erschrecken
brauchte.

Und das junge Geschlecht kam, wurde gesehen und siegte. Die Berliner
Freie Bühne züchtete in märchenhaft rascher Entwicklung den Typ jenes Schau¬
spielers, den wir den naturalistischen nennen würden, wenn das Wort nicht
durch allzu häufigen und allzu gedankenlosen Gebrauch gar so sehr abgegriffen
wäre. Wir wollen ihn deshalb lieber den modernen Schauspieler --^ z^>zö


Deutsche Bühnenkunst in den letzten zwanzig Jahren

Gesellschaftsschicht bis auf die Knochen bloßlegte, stand damit zur ersten öffent¬
lichen Diskussion und entfesselte denn auch im Lager des versammelten
Philistertums die empörtesten Protestresolutionen.

Aber die Bewegung war nun einmal im Fluß und durch nichts mehr
aufzuhalten. Ibsen fand in Deutschland eine treue Gemeinde, die ihre Haut
für ihn zu Markte trug und an deren Spitze ehrliche und gebildete Kämpfer¬
naturen wie Otto Brahm und Paul Schlenther traten. Die Gründung der
Freien Buhne im Jahre 1889 war das erste und greifbare Resultat der
neuen Bewegung. Und das zweite war der unter wüsten Kämpfen durchgesetzte
Triumph eines jungen deutschen Dramatikers: Gerhart Hauptmanns „Vor
Sonnenaufgang" wurde am 20. November 1889 zum ersten Male in Berlin
gespielt und machte den Namen seines Autors über Nacht zu einer europäischen
Berühmtheit.

Es war klar, daß nun auch die deutsche Schauspielkunst irgendwie zu der
neuen Bewegung Stellung nehmen mußte. Die von der bisherigen Theater¬
manier weitaus verschiedene Anschauungsart und Technik eines Ibsen oder eines
Hauptmann trat mit ihren gebieterischen Forderungen auch an den Darsteller
heran. Das auf glatte Feuilletonphrasen gearbeitete Pathos Paul Lindaus oder
Oskar Blumenthals hatte hier keinen Raum mehr. Und die Heroinentradition
der deutschen Hoftheater trat vor den Forderungen der Gegenwart erst recht in
den Hintergrund. Die Menschen Ibsens und Hauptmanns redeten die Sprache
des Lebens. Der klassische Kothurn war ihnen so fremd wie das Jamben¬
geklingel der Schillerepigonen. Sie sprachen, wie Nachbar Schulze und Lehmann
zu sprechen pflegen, hatten die rüden Manieren, die die meisten Zeitgenossen
nun leider Gottes haben, aßen und tranken und schmatzten dabei wie die erstbeste klein¬
bürgerliche Familie. Sie verschluckten halbe Sätze, rüusperten sich und husteten,
steckten die Hände in die Hosentaschen und redeten von den allersimpelsten
Alltagsdingen. Der in klassischer Tradition großgewordene Hofschauspieler, dem,
wie Otto Brahm in einer historischen Würdigung der Freien Bühne einmal
gesagt hat, „leicht ein Schein von Gefallenwollen anhaftete, von Wirkenwollen
im Sonderinteresse des Mimen, von beifallheischender Koketterie", konnte sich
hier niemals zurechtfinden. An seine Stelle mußte ein junges Geschlecht treten,
das mit den neuen Idealen groß geworden war und nun mit voraussetzungs¬
loser Gläubigkeit an die Verkündung des als einzig wahr erkannten Evangeliums
gehen konnte — ein Geschlecht, das, weil selbst traditionslos, an keine Rück¬
sichten gebunden war und deshalb auch vor Übertreibungen nicht zu erschrecken
brauchte.

Und das junge Geschlecht kam, wurde gesehen und siegte. Die Berliner
Freie Bühne züchtete in märchenhaft rascher Entwicklung den Typ jenes Schau¬
spielers, den wir den naturalistischen nennen würden, wenn das Wort nicht
durch allzu häufigen und allzu gedankenlosen Gebrauch gar so sehr abgegriffen
wäre. Wir wollen ihn deshalb lieber den modernen Schauspieler --^ z^>zö


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[0082] Deutsche Bühnenkunst in den letzten zwanzig Jahren Gesellschaftsschicht bis auf die Knochen bloßlegte, stand damit zur ersten öffent¬ lichen Diskussion und entfesselte denn auch im Lager des versammelten Philistertums die empörtesten Protestresolutionen. Aber die Bewegung war nun einmal im Fluß und durch nichts mehr aufzuhalten. Ibsen fand in Deutschland eine treue Gemeinde, die ihre Haut für ihn zu Markte trug und an deren Spitze ehrliche und gebildete Kämpfer¬ naturen wie Otto Brahm und Paul Schlenther traten. Die Gründung der Freien Buhne im Jahre 1889 war das erste und greifbare Resultat der neuen Bewegung. Und das zweite war der unter wüsten Kämpfen durchgesetzte Triumph eines jungen deutschen Dramatikers: Gerhart Hauptmanns „Vor Sonnenaufgang" wurde am 20. November 1889 zum ersten Male in Berlin gespielt und machte den Namen seines Autors über Nacht zu einer europäischen Berühmtheit. Es war klar, daß nun auch die deutsche Schauspielkunst irgendwie zu der neuen Bewegung Stellung nehmen mußte. Die von der bisherigen Theater¬ manier weitaus verschiedene Anschauungsart und Technik eines Ibsen oder eines Hauptmann trat mit ihren gebieterischen Forderungen auch an den Darsteller heran. Das auf glatte Feuilletonphrasen gearbeitete Pathos Paul Lindaus oder Oskar Blumenthals hatte hier keinen Raum mehr. Und die Heroinentradition der deutschen Hoftheater trat vor den Forderungen der Gegenwart erst recht in den Hintergrund. Die Menschen Ibsens und Hauptmanns redeten die Sprache des Lebens. Der klassische Kothurn war ihnen so fremd wie das Jamben¬ geklingel der Schillerepigonen. Sie sprachen, wie Nachbar Schulze und Lehmann zu sprechen pflegen, hatten die rüden Manieren, die die meisten Zeitgenossen nun leider Gottes haben, aßen und tranken und schmatzten dabei wie die erstbeste klein¬ bürgerliche Familie. Sie verschluckten halbe Sätze, rüusperten sich und husteten, steckten die Hände in die Hosentaschen und redeten von den allersimpelsten Alltagsdingen. Der in klassischer Tradition großgewordene Hofschauspieler, dem, wie Otto Brahm in einer historischen Würdigung der Freien Bühne einmal gesagt hat, „leicht ein Schein von Gefallenwollen anhaftete, von Wirkenwollen im Sonderinteresse des Mimen, von beifallheischender Koketterie", konnte sich hier niemals zurechtfinden. An seine Stelle mußte ein junges Geschlecht treten, das mit den neuen Idealen groß geworden war und nun mit voraussetzungs¬ loser Gläubigkeit an die Verkündung des als einzig wahr erkannten Evangeliums gehen konnte — ein Geschlecht, das, weil selbst traditionslos, an keine Rück¬ sichten gebunden war und deshalb auch vor Übertreibungen nicht zu erschrecken brauchte. Und das junge Geschlecht kam, wurde gesehen und siegte. Die Berliner Freie Bühne züchtete in märchenhaft rascher Entwicklung den Typ jenes Schau¬ spielers, den wir den naturalistischen nennen würden, wenn das Wort nicht durch allzu häufigen und allzu gedankenlosen Gebrauch gar so sehr abgegriffen wäre. Wir wollen ihn deshalb lieber den modernen Schauspieler --^ z^>zö

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/82>, abgerufen am 24.07.2024.