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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Deutsche Bühnenkunst in den letzten zwanzig Jahren

entwicklung des deutschen Dramas nicht leugnen können. Freilich lächeln wir
über manches, was den Stürmern und Drängern der achtziger und neunziger
Jahre zum wesentlichen Bestandteil ihres ästhetischen Glaubensbekenntnisses
gehörte. Wir sehen die grotesken Übertreibungen in dem Tun dieser Leute, die
mit Spießen und Hellebarden gegen eine morsch gewordene Ästhetik zu Felde
zogen und die den neuen Menschen und die neue Kunst zu suchen gingen hinter
qualmenden Fabrikschloten, in dem mörderischen Lärm großstädtischer Maschinen¬
säle, in Proletarierwohnungen, in Kaschemmen und im Kreise der traurigsten
Prostitution. Aber wir begreifen auf der anderen Seite, daß die rein destruk¬
tive Arbeit jener hitzigen Philistertöter ihre tiefe Berechtigung hatte, -- schon
deshalb, weil die an den Türen rüttelnde Jugend immer das entscheidende
Wort behält. Mag man gegen die Henckell und Schlaf, die Holz und Conradi,
die Harls und Bleibtreu und Kretzer und wie sie alle heißen mögen, sagen, was
man will: Was sie getan haben, bleibt ehrliche und begeistert betriebene Pionier¬
arbeit, die ihre höhere Weihe darin fand, daß wirklich der scharfe Luftzug einer
ganz neuen Zeit in ihr wirkte. Was unklar und verworren feit langem in
Tausenden von Herzen nach Befreiung rang, wurde hier mit prachtvoller Un-
erschrockenheit zum ersten Male ausgesprochen und gewann über Nacht greifbare
Gestalt. Wir waren, wie es schien, um einen Riesenschritt weiter gekommen.
Das Jahrhundert, in dem die Dynamomaschinen ratterten, die Eisenbahnen
dampften, die elektrischen Funken um den Erdball sprangen, das soziale Jahr¬
hundert, dem ein Marx, ein Lassalle, ein Stirner gepredigt, fand zum ersten
Male im Reiche der Kunst ein wirkliches Echo.

Denn bis dahin sah es auf dem deutschen Parnaß traurig aus um das
Verständnis der brennendsten Zeitfragen. Die Dramatik war den Aufschwung,
den man nach dem großen französischen Kriege von ihr erwartete, schuldig
geblieben. Sie steckte bis an den Hals in hoffnungslos verknöcherten Epigonen¬
tum, in akademisch blassem Versgeklingel und in sanftä'ugiger Backfischromantik,
der die Verlogenheit und Weltfremdheit aus allen Löchern ihres abgetragenen
Gewandes sah. Paul Lindau und Hugo Lubliner täuschten in ihren an Dumas
und Sardon geschulten sogenannten Sittenstücken eine künstliche Modernität vor.
Moser, Trotha, LÄrronge und Blumenthal versetzten dem lieben Publiko jahraus,
jahrein ihre angeblichen Komödien, die in ihrem Ehrgeiz über das Weichbild
des rühmlichst bekannten Städtchens Kalau selten hinausgingen, und fernab
stampfte Ernst v. Wildenbruch in Ritterrüstung über die märkische Heide und
sang als begabtester, weil gläubigster Schillerepigone seine weittönenden
Rhapsodien. Die Schauspielkunst selber, der es an würdigem Material gebrach,
war immer mehr in Konvention und akademischen Formalismus erstarrt. Die
"Meininger", die das wichtigste Theaterereignis der achtziger Jahre waren,
kamen mit ihrer farbigen Belebung und sinnfälligen Nuancierung des Bühnen¬
bildes eigentlich nur für das klassische Stildrama in Betracht. Und in ihm
hatte denn auch die Schauspielkunst jener Tage die starken Wurzeln ihrer Kraft,


Deutsche Bühnenkunst in den letzten zwanzig Jahren

entwicklung des deutschen Dramas nicht leugnen können. Freilich lächeln wir
über manches, was den Stürmern und Drängern der achtziger und neunziger
Jahre zum wesentlichen Bestandteil ihres ästhetischen Glaubensbekenntnisses
gehörte. Wir sehen die grotesken Übertreibungen in dem Tun dieser Leute, die
mit Spießen und Hellebarden gegen eine morsch gewordene Ästhetik zu Felde
zogen und die den neuen Menschen und die neue Kunst zu suchen gingen hinter
qualmenden Fabrikschloten, in dem mörderischen Lärm großstädtischer Maschinen¬
säle, in Proletarierwohnungen, in Kaschemmen und im Kreise der traurigsten
Prostitution. Aber wir begreifen auf der anderen Seite, daß die rein destruk¬
tive Arbeit jener hitzigen Philistertöter ihre tiefe Berechtigung hatte, — schon
deshalb, weil die an den Türen rüttelnde Jugend immer das entscheidende
Wort behält. Mag man gegen die Henckell und Schlaf, die Holz und Conradi,
die Harls und Bleibtreu und Kretzer und wie sie alle heißen mögen, sagen, was
man will: Was sie getan haben, bleibt ehrliche und begeistert betriebene Pionier¬
arbeit, die ihre höhere Weihe darin fand, daß wirklich der scharfe Luftzug einer
ganz neuen Zeit in ihr wirkte. Was unklar und verworren feit langem in
Tausenden von Herzen nach Befreiung rang, wurde hier mit prachtvoller Un-
erschrockenheit zum ersten Male ausgesprochen und gewann über Nacht greifbare
Gestalt. Wir waren, wie es schien, um einen Riesenschritt weiter gekommen.
Das Jahrhundert, in dem die Dynamomaschinen ratterten, die Eisenbahnen
dampften, die elektrischen Funken um den Erdball sprangen, das soziale Jahr¬
hundert, dem ein Marx, ein Lassalle, ein Stirner gepredigt, fand zum ersten
Male im Reiche der Kunst ein wirkliches Echo.

Denn bis dahin sah es auf dem deutschen Parnaß traurig aus um das
Verständnis der brennendsten Zeitfragen. Die Dramatik war den Aufschwung,
den man nach dem großen französischen Kriege von ihr erwartete, schuldig
geblieben. Sie steckte bis an den Hals in hoffnungslos verknöcherten Epigonen¬
tum, in akademisch blassem Versgeklingel und in sanftä'ugiger Backfischromantik,
der die Verlogenheit und Weltfremdheit aus allen Löchern ihres abgetragenen
Gewandes sah. Paul Lindau und Hugo Lubliner täuschten in ihren an Dumas
und Sardon geschulten sogenannten Sittenstücken eine künstliche Modernität vor.
Moser, Trotha, LÄrronge und Blumenthal versetzten dem lieben Publiko jahraus,
jahrein ihre angeblichen Komödien, die in ihrem Ehrgeiz über das Weichbild
des rühmlichst bekannten Städtchens Kalau selten hinausgingen, und fernab
stampfte Ernst v. Wildenbruch in Ritterrüstung über die märkische Heide und
sang als begabtester, weil gläubigster Schillerepigone seine weittönenden
Rhapsodien. Die Schauspielkunst selber, der es an würdigem Material gebrach,
war immer mehr in Konvention und akademischen Formalismus erstarrt. Die
„Meininger", die das wichtigste Theaterereignis der achtziger Jahre waren,
kamen mit ihrer farbigen Belebung und sinnfälligen Nuancierung des Bühnen¬
bildes eigentlich nur für das klassische Stildrama in Betracht. Und in ihm
hatte denn auch die Schauspielkunst jener Tage die starken Wurzeln ihrer Kraft,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/80>, abgerufen am 24.07.2024.