Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Deutsche Bühnenkmist in den letzten zwanzig Jahren

einander. Daß die fabelhafte Beweglichkeit der deutschen Bühne dem Theoretiker
wie dem Praktiker der Kunst die allerwertvollsten Perspektiven eröffnete, liegt
auf der Hand; und so gewiß wir uns in den letzten zwanzig Jahren zur ersten
Theaternation der Welt heraufgearbeitet haben, so sicher kommt diese Tatsache
auf Rechnung einer überraschend differenzierten Bühnenkunst, die ihren vor¬
nehmsten Beruf darin sah, Zeitprobleme in ihrem Sinne zu meistern und den
Zusammenhang mit der leibhaftigen Gegenwart niemals vergessen zu machen.
Auf der anderen Seite sind die Nachteile dieser Methode nicht zu verkennen.
Das Folgenwollen bis in die tiefsten Labyrinthe zeitgenössischer Problematik
mußte hier und da naturgemäß zu künstlerischer Unfruchtbarkeit führen, zum
gelegentlichen Aufbauschen von Nebensächlichkeiten und zu absonderlichen Ver-
irrungen, die kein Ernsthafter gutheißen kann. Das ist nun einmal nicht anders
in den Zeiten tastender Versuche. Der künstlerische Abstand zu den Dingen
bedeutet hier alles. Und zur Gewinnung dieses Abstandes verhilft uns wieder
die schnellebige Zeit, die uns eine Reihe von Entwicklungsphasen, die zwanzig
und weniger Jahre zurückliegen, schon heute unter dem Gesichtswinkel einer
historisch-kritischen Betrachtungsweise anzusehen gelehrt hat.

Wer einen Überblick über die Bühnenprobleme der letzten zwanzig Jahre
geben will, wird somit seinen Ausgang von den ästhetischen Zeitproblemen über¬
haupt nehmen müssen. Die Bühne kann eben, ihren: ganzen Wesen nach, nichts
anderes sein als der mehr oder weniger liebevolle Interpret der jeweilig
herrschenden ästhetischen Weltanschauung. (Dabei lassen wir es allerdings dahin¬
gestellt sein, ob diese ästhetische Weltanschauung nun auch immer ein erschöpfender
Ausdruck für das gewesen ist, was in der Gesamtheit der deutschen Intelligenz
nach künstlerischer Auferweckung verlangte.) Darüber hinaus ist ihre Macht zu
Ende. Und es hieße eine Umwertung aller Werte schaffen, wollte man bei
einer ästhetischen Betrachtung wie der unsrigen von dem Theater als der Primär-
erscheinung ausgehen. Geheime Wechselwirkungen zwischen Bühne und litera¬
rischem Zeitgeist bestehen. Das ist selbstverständlich. Aber der Anstoß zu wirklich
durchgreifenden Revolutionierungen des Theaters ist noch jedesmal vom Dichter
und nicht vom praktischen Theatermanne gekommen.

Das zeigt sich denn auch gelegentlich jener tiefgreifenden Bewegung, die
im vorigen Jahrhundert gegen Ende der achtziger Jahre einsetzte und die von
der zeitgenössischen Literaturgeschichte mit etwas übertriebenen Pathos die Sturm¬
und Drangperiode des neuen deutschen Dramas genannt wird. Wir haben es
hier mit den einzelnen Phasen dieser Bewegung nicht zu tun. Denn wir schreiben
keine Literatur-, sondern eine Theatergeschichte. Die ästhetischen Kämpfe von
damals können also nur ganz kurz, sozusagen als Mittel zum Zweck, gestreift
werden, nämlich insofern, als sie die Vorbedingung für das schufen, was wir
die Schauspielkunst des jüngsten Deutschlands nennen wollen.

Wenn wir heute die schon historisch gewordenen Begebenheiten jener Jahre
sine ira et stuäio überblicken, werden wir ihre starke Bedeutung für die Fort-


Grenzboten l 1911 9
Deutsche Bühnenkmist in den letzten zwanzig Jahren

einander. Daß die fabelhafte Beweglichkeit der deutschen Bühne dem Theoretiker
wie dem Praktiker der Kunst die allerwertvollsten Perspektiven eröffnete, liegt
auf der Hand; und so gewiß wir uns in den letzten zwanzig Jahren zur ersten
Theaternation der Welt heraufgearbeitet haben, so sicher kommt diese Tatsache
auf Rechnung einer überraschend differenzierten Bühnenkunst, die ihren vor¬
nehmsten Beruf darin sah, Zeitprobleme in ihrem Sinne zu meistern und den
Zusammenhang mit der leibhaftigen Gegenwart niemals vergessen zu machen.
Auf der anderen Seite sind die Nachteile dieser Methode nicht zu verkennen.
Das Folgenwollen bis in die tiefsten Labyrinthe zeitgenössischer Problematik
mußte hier und da naturgemäß zu künstlerischer Unfruchtbarkeit führen, zum
gelegentlichen Aufbauschen von Nebensächlichkeiten und zu absonderlichen Ver-
irrungen, die kein Ernsthafter gutheißen kann. Das ist nun einmal nicht anders
in den Zeiten tastender Versuche. Der künstlerische Abstand zu den Dingen
bedeutet hier alles. Und zur Gewinnung dieses Abstandes verhilft uns wieder
die schnellebige Zeit, die uns eine Reihe von Entwicklungsphasen, die zwanzig
und weniger Jahre zurückliegen, schon heute unter dem Gesichtswinkel einer
historisch-kritischen Betrachtungsweise anzusehen gelehrt hat.

Wer einen Überblick über die Bühnenprobleme der letzten zwanzig Jahre
geben will, wird somit seinen Ausgang von den ästhetischen Zeitproblemen über¬
haupt nehmen müssen. Die Bühne kann eben, ihren: ganzen Wesen nach, nichts
anderes sein als der mehr oder weniger liebevolle Interpret der jeweilig
herrschenden ästhetischen Weltanschauung. (Dabei lassen wir es allerdings dahin¬
gestellt sein, ob diese ästhetische Weltanschauung nun auch immer ein erschöpfender
Ausdruck für das gewesen ist, was in der Gesamtheit der deutschen Intelligenz
nach künstlerischer Auferweckung verlangte.) Darüber hinaus ist ihre Macht zu
Ende. Und es hieße eine Umwertung aller Werte schaffen, wollte man bei
einer ästhetischen Betrachtung wie der unsrigen von dem Theater als der Primär-
erscheinung ausgehen. Geheime Wechselwirkungen zwischen Bühne und litera¬
rischem Zeitgeist bestehen. Das ist selbstverständlich. Aber der Anstoß zu wirklich
durchgreifenden Revolutionierungen des Theaters ist noch jedesmal vom Dichter
und nicht vom praktischen Theatermanne gekommen.

Das zeigt sich denn auch gelegentlich jener tiefgreifenden Bewegung, die
im vorigen Jahrhundert gegen Ende der achtziger Jahre einsetzte und die von
der zeitgenössischen Literaturgeschichte mit etwas übertriebenen Pathos die Sturm¬
und Drangperiode des neuen deutschen Dramas genannt wird. Wir haben es
hier mit den einzelnen Phasen dieser Bewegung nicht zu tun. Denn wir schreiben
keine Literatur-, sondern eine Theatergeschichte. Die ästhetischen Kämpfe von
damals können also nur ganz kurz, sozusagen als Mittel zum Zweck, gestreift
werden, nämlich insofern, als sie die Vorbedingung für das schufen, was wir
die Schauspielkunst des jüngsten Deutschlands nennen wollen.

Wenn wir heute die schon historisch gewordenen Begebenheiten jener Jahre
sine ira et stuäio überblicken, werden wir ihre starke Bedeutung für die Fort-


Grenzboten l 1911 9
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0079" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/317692"/>
          <fw type="header" place="top"> Deutsche Bühnenkmist in den letzten zwanzig Jahren</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_361" prev="#ID_360"> einander. Daß die fabelhafte Beweglichkeit der deutschen Bühne dem Theoretiker<lb/>
wie dem Praktiker der Kunst die allerwertvollsten Perspektiven eröffnete, liegt<lb/>
auf der Hand; und so gewiß wir uns in den letzten zwanzig Jahren zur ersten<lb/>
Theaternation der Welt heraufgearbeitet haben, so sicher kommt diese Tatsache<lb/>
auf Rechnung einer überraschend differenzierten Bühnenkunst, die ihren vor¬<lb/>
nehmsten Beruf darin sah, Zeitprobleme in ihrem Sinne zu meistern und den<lb/>
Zusammenhang mit der leibhaftigen Gegenwart niemals vergessen zu machen.<lb/>
Auf der anderen Seite sind die Nachteile dieser Methode nicht zu verkennen.<lb/>
Das Folgenwollen bis in die tiefsten Labyrinthe zeitgenössischer Problematik<lb/>
mußte hier und da naturgemäß zu künstlerischer Unfruchtbarkeit führen, zum<lb/>
gelegentlichen Aufbauschen von Nebensächlichkeiten und zu absonderlichen Ver-<lb/>
irrungen, die kein Ernsthafter gutheißen kann. Das ist nun einmal nicht anders<lb/>
in den Zeiten tastender Versuche. Der künstlerische Abstand zu den Dingen<lb/>
bedeutet hier alles. Und zur Gewinnung dieses Abstandes verhilft uns wieder<lb/>
die schnellebige Zeit, die uns eine Reihe von Entwicklungsphasen, die zwanzig<lb/>
und weniger Jahre zurückliegen, schon heute unter dem Gesichtswinkel einer<lb/>
historisch-kritischen Betrachtungsweise anzusehen gelehrt hat.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_362"> Wer einen Überblick über die Bühnenprobleme der letzten zwanzig Jahre<lb/>
geben will, wird somit seinen Ausgang von den ästhetischen Zeitproblemen über¬<lb/>
haupt nehmen müssen. Die Bühne kann eben, ihren: ganzen Wesen nach, nichts<lb/>
anderes sein als der mehr oder weniger liebevolle Interpret der jeweilig<lb/>
herrschenden ästhetischen Weltanschauung. (Dabei lassen wir es allerdings dahin¬<lb/>
gestellt sein, ob diese ästhetische Weltanschauung nun auch immer ein erschöpfender<lb/>
Ausdruck für das gewesen ist, was in der Gesamtheit der deutschen Intelligenz<lb/>
nach künstlerischer Auferweckung verlangte.) Darüber hinaus ist ihre Macht zu<lb/>
Ende. Und es hieße eine Umwertung aller Werte schaffen, wollte man bei<lb/>
einer ästhetischen Betrachtung wie der unsrigen von dem Theater als der Primär-<lb/>
erscheinung ausgehen. Geheime Wechselwirkungen zwischen Bühne und litera¬<lb/>
rischem Zeitgeist bestehen. Das ist selbstverständlich. Aber der Anstoß zu wirklich<lb/>
durchgreifenden Revolutionierungen des Theaters ist noch jedesmal vom Dichter<lb/>
und nicht vom praktischen Theatermanne gekommen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_363"> Das zeigt sich denn auch gelegentlich jener tiefgreifenden Bewegung, die<lb/>
im vorigen Jahrhundert gegen Ende der achtziger Jahre einsetzte und die von<lb/>
der zeitgenössischen Literaturgeschichte mit etwas übertriebenen Pathos die Sturm¬<lb/>
und Drangperiode des neuen deutschen Dramas genannt wird. Wir haben es<lb/>
hier mit den einzelnen Phasen dieser Bewegung nicht zu tun. Denn wir schreiben<lb/>
keine Literatur-, sondern eine Theatergeschichte. Die ästhetischen Kämpfe von<lb/>
damals können also nur ganz kurz, sozusagen als Mittel zum Zweck, gestreift<lb/>
werden, nämlich insofern, als sie die Vorbedingung für das schufen, was wir<lb/>
die Schauspielkunst des jüngsten Deutschlands nennen wollen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_364" next="#ID_365"> Wenn wir heute die schon historisch gewordenen Begebenheiten jener Jahre<lb/>
sine ira et stuäio überblicken, werden wir ihre starke Bedeutung für die Fort-</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten l 1911 9</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0079] Deutsche Bühnenkmist in den letzten zwanzig Jahren einander. Daß die fabelhafte Beweglichkeit der deutschen Bühne dem Theoretiker wie dem Praktiker der Kunst die allerwertvollsten Perspektiven eröffnete, liegt auf der Hand; und so gewiß wir uns in den letzten zwanzig Jahren zur ersten Theaternation der Welt heraufgearbeitet haben, so sicher kommt diese Tatsache auf Rechnung einer überraschend differenzierten Bühnenkunst, die ihren vor¬ nehmsten Beruf darin sah, Zeitprobleme in ihrem Sinne zu meistern und den Zusammenhang mit der leibhaftigen Gegenwart niemals vergessen zu machen. Auf der anderen Seite sind die Nachteile dieser Methode nicht zu verkennen. Das Folgenwollen bis in die tiefsten Labyrinthe zeitgenössischer Problematik mußte hier und da naturgemäß zu künstlerischer Unfruchtbarkeit führen, zum gelegentlichen Aufbauschen von Nebensächlichkeiten und zu absonderlichen Ver- irrungen, die kein Ernsthafter gutheißen kann. Das ist nun einmal nicht anders in den Zeiten tastender Versuche. Der künstlerische Abstand zu den Dingen bedeutet hier alles. Und zur Gewinnung dieses Abstandes verhilft uns wieder die schnellebige Zeit, die uns eine Reihe von Entwicklungsphasen, die zwanzig und weniger Jahre zurückliegen, schon heute unter dem Gesichtswinkel einer historisch-kritischen Betrachtungsweise anzusehen gelehrt hat. Wer einen Überblick über die Bühnenprobleme der letzten zwanzig Jahre geben will, wird somit seinen Ausgang von den ästhetischen Zeitproblemen über¬ haupt nehmen müssen. Die Bühne kann eben, ihren: ganzen Wesen nach, nichts anderes sein als der mehr oder weniger liebevolle Interpret der jeweilig herrschenden ästhetischen Weltanschauung. (Dabei lassen wir es allerdings dahin¬ gestellt sein, ob diese ästhetische Weltanschauung nun auch immer ein erschöpfender Ausdruck für das gewesen ist, was in der Gesamtheit der deutschen Intelligenz nach künstlerischer Auferweckung verlangte.) Darüber hinaus ist ihre Macht zu Ende. Und es hieße eine Umwertung aller Werte schaffen, wollte man bei einer ästhetischen Betrachtung wie der unsrigen von dem Theater als der Primär- erscheinung ausgehen. Geheime Wechselwirkungen zwischen Bühne und litera¬ rischem Zeitgeist bestehen. Das ist selbstverständlich. Aber der Anstoß zu wirklich durchgreifenden Revolutionierungen des Theaters ist noch jedesmal vom Dichter und nicht vom praktischen Theatermanne gekommen. Das zeigt sich denn auch gelegentlich jener tiefgreifenden Bewegung, die im vorigen Jahrhundert gegen Ende der achtziger Jahre einsetzte und die von der zeitgenössischen Literaturgeschichte mit etwas übertriebenen Pathos die Sturm¬ und Drangperiode des neuen deutschen Dramas genannt wird. Wir haben es hier mit den einzelnen Phasen dieser Bewegung nicht zu tun. Denn wir schreiben keine Literatur-, sondern eine Theatergeschichte. Die ästhetischen Kämpfe von damals können also nur ganz kurz, sozusagen als Mittel zum Zweck, gestreift werden, nämlich insofern, als sie die Vorbedingung für das schufen, was wir die Schauspielkunst des jüngsten Deutschlands nennen wollen. Wenn wir heute die schon historisch gewordenen Begebenheiten jener Jahre sine ira et stuäio überblicken, werden wir ihre starke Bedeutung für die Fort- Grenzboten l 1911 9

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/79
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/79>, abgerufen am 24.07.2024.