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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Bismarcks Freihandelspolitik

einer bewußten, auf bessere Einsicht in die wirtschaftlichen Bedingungen gegründeten
Handelspolitik zu sprechen in: Gegensatz zu seiner sogenannten Freihandels¬
politik, die nur ein tatsächliches "Gehenlassen" der wirtschaftlichen Dinge unter
Delbrücks Ägide bedeutet, das außerdem (wie wir sahen) in der politischen --
Stellung zu Österreich seine tiefere Begründung hatte.

Als Preußen im Kampfe um die Vorherrschaft und Einheit in Deutschland
gesiegt, als dann das Reich erstanden, war es der Zwang der wirtschaftlichen
Verhältnisse, der den Reichskanzler aus einem Führer der politischen zu einem
Führer der wirtschaftlichen Bewegung in Deutschland machte. Immer intensiver
wandte er daher seine Aufmerksamkeit den materiellen Interessen des Reiches
zu, und diese Beschäftigung mit den wirtschaftspolitischen Fragen führte ihn
immer mehr zu einer staatssozialistischen, neumerkantilistischen Ansicht. Ein
Konflikt mit dem prinzipiellen Freihändler Delbrück konnte daher nicht ausbleiben.
Schon Anfang der siebziger Jahre beobachtet man") eine Verkleinerung seiner
Machtfülle und seines Einflusses auf die Wirtschaftspolitik des Reiches, bald
schwand Bismarcks Glaube an Delbrücks Überlegenheit immer mehr, so daß
der hochverdiente Mann schließlich 1876 "aus Gesundheitsrücksichten" vom Amte
zurücktrat, wie Bismarck damals auch Bennigsen versicherte'"').

Immerhin zögerte Bismarck auch dann noch, mit dem alten System zu
brechen, was sich auch in der mit Rücksicht auf die Nationalliberalen getroffenen
Wahl von Delbrücks Nachfolger Hofmann zeigte""'"). Zwar erkannte er früh
(nach unserer Kenntnis zuerst in einem Promemoria vom Oktober 1875),
daß Deutschland wirtschaftlich ausgeliefert war an alle Staaten, die ihm für
seine Zollbefreiungen und -ermäßigungen nicht nur nicht mit Kompensationen,
sondern vielmehr mit Schutzzöllen dankten und daß dagegen Repressalien not¬
wendig seien. Allein, die freihändlerische Gesinnung Delbrücks war auch ihm
dermaßen in Fleisch und Blut übergegangen, daß er noch 1871 Frankreichs
Schutzzollpolitik ini Interesse der europäischen Großmächte zu bekämpfen suchte
und noch 1876, wenn auch mit weniger Zuversicht, die französischen Eisenzölle
durch diplomatische Verhandlungen im Wege des Handelsvertrages zu beseitigen
dachte. Ja, noch Mitte Februar 1878, als er das Tabaksmonopol plante,
wollte er "nur einige Umkehr vom Freihandelssystem, wenn auch ohne Annahme
des Schutzzollsystems" zu dem der Kaiser neigtef). Die ersten Kampfzölle beab¬
sichtigte er gegen Italien, das zwecks Abschlusses eines Handelsvertrages einen
Tarifvertrag mit beträchtlichen Erhöhungen eingereicht hatte; aber erst gegen russische
Hochschutzzölle sah er kei nen anderen Ausweg als Kampfzölle auf russischeAusfuhrartikel.

Wieweit Kaiser Wilhelms Befürwortung eines mäßigen Schutzes der
nationalen Arbeit, wie sie Tiedemann aus dem Jahre 1876 berichtet. Bismarcks






") Poschinger, "Ein Achtundt'ierziger", III, W2,
"
Eugen Richter, "Im alten Reichstag I, 146.
An gleicher Stelle.
Erinnerungen an Fürst Bismarck tun, Frhr, t>, Mittnacht, S. 6t.
Bismarcks Freihandelspolitik

einer bewußten, auf bessere Einsicht in die wirtschaftlichen Bedingungen gegründeten
Handelspolitik zu sprechen in: Gegensatz zu seiner sogenannten Freihandels¬
politik, die nur ein tatsächliches „Gehenlassen" der wirtschaftlichen Dinge unter
Delbrücks Ägide bedeutet, das außerdem (wie wir sahen) in der politischen —
Stellung zu Österreich seine tiefere Begründung hatte.

Als Preußen im Kampfe um die Vorherrschaft und Einheit in Deutschland
gesiegt, als dann das Reich erstanden, war es der Zwang der wirtschaftlichen
Verhältnisse, der den Reichskanzler aus einem Führer der politischen zu einem
Führer der wirtschaftlichen Bewegung in Deutschland machte. Immer intensiver
wandte er daher seine Aufmerksamkeit den materiellen Interessen des Reiches
zu, und diese Beschäftigung mit den wirtschaftspolitischen Fragen führte ihn
immer mehr zu einer staatssozialistischen, neumerkantilistischen Ansicht. Ein
Konflikt mit dem prinzipiellen Freihändler Delbrück konnte daher nicht ausbleiben.
Schon Anfang der siebziger Jahre beobachtet man") eine Verkleinerung seiner
Machtfülle und seines Einflusses auf die Wirtschaftspolitik des Reiches, bald
schwand Bismarcks Glaube an Delbrücks Überlegenheit immer mehr, so daß
der hochverdiente Mann schließlich 1876 „aus Gesundheitsrücksichten" vom Amte
zurücktrat, wie Bismarck damals auch Bennigsen versicherte'"').

Immerhin zögerte Bismarck auch dann noch, mit dem alten System zu
brechen, was sich auch in der mit Rücksicht auf die Nationalliberalen getroffenen
Wahl von Delbrücks Nachfolger Hofmann zeigte""'"). Zwar erkannte er früh
(nach unserer Kenntnis zuerst in einem Promemoria vom Oktober 1875),
daß Deutschland wirtschaftlich ausgeliefert war an alle Staaten, die ihm für
seine Zollbefreiungen und -ermäßigungen nicht nur nicht mit Kompensationen,
sondern vielmehr mit Schutzzöllen dankten und daß dagegen Repressalien not¬
wendig seien. Allein, die freihändlerische Gesinnung Delbrücks war auch ihm
dermaßen in Fleisch und Blut übergegangen, daß er noch 1871 Frankreichs
Schutzzollpolitik ini Interesse der europäischen Großmächte zu bekämpfen suchte
und noch 1876, wenn auch mit weniger Zuversicht, die französischen Eisenzölle
durch diplomatische Verhandlungen im Wege des Handelsvertrages zu beseitigen
dachte. Ja, noch Mitte Februar 1878, als er das Tabaksmonopol plante,
wollte er „nur einige Umkehr vom Freihandelssystem, wenn auch ohne Annahme
des Schutzzollsystems" zu dem der Kaiser neigtef). Die ersten Kampfzölle beab¬
sichtigte er gegen Italien, das zwecks Abschlusses eines Handelsvertrages einen
Tarifvertrag mit beträchtlichen Erhöhungen eingereicht hatte; aber erst gegen russische
Hochschutzzölle sah er kei nen anderen Ausweg als Kampfzölle auf russischeAusfuhrartikel.

Wieweit Kaiser Wilhelms Befürwortung eines mäßigen Schutzes der
nationalen Arbeit, wie sie Tiedemann aus dem Jahre 1876 berichtet. Bismarcks






") Poschinger, „Ein Achtundt'ierziger", III, W2,
"
Eugen Richter, „Im alten Reichstag I, 146.
An gleicher Stelle.
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[0077] Bismarcks Freihandelspolitik einer bewußten, auf bessere Einsicht in die wirtschaftlichen Bedingungen gegründeten Handelspolitik zu sprechen in: Gegensatz zu seiner sogenannten Freihandels¬ politik, die nur ein tatsächliches „Gehenlassen" der wirtschaftlichen Dinge unter Delbrücks Ägide bedeutet, das außerdem (wie wir sahen) in der politischen — Stellung zu Österreich seine tiefere Begründung hatte. Als Preußen im Kampfe um die Vorherrschaft und Einheit in Deutschland gesiegt, als dann das Reich erstanden, war es der Zwang der wirtschaftlichen Verhältnisse, der den Reichskanzler aus einem Führer der politischen zu einem Führer der wirtschaftlichen Bewegung in Deutschland machte. Immer intensiver wandte er daher seine Aufmerksamkeit den materiellen Interessen des Reiches zu, und diese Beschäftigung mit den wirtschaftspolitischen Fragen führte ihn immer mehr zu einer staatssozialistischen, neumerkantilistischen Ansicht. Ein Konflikt mit dem prinzipiellen Freihändler Delbrück konnte daher nicht ausbleiben. Schon Anfang der siebziger Jahre beobachtet man") eine Verkleinerung seiner Machtfülle und seines Einflusses auf die Wirtschaftspolitik des Reiches, bald schwand Bismarcks Glaube an Delbrücks Überlegenheit immer mehr, so daß der hochverdiente Mann schließlich 1876 „aus Gesundheitsrücksichten" vom Amte zurücktrat, wie Bismarck damals auch Bennigsen versicherte'"'). Immerhin zögerte Bismarck auch dann noch, mit dem alten System zu brechen, was sich auch in der mit Rücksicht auf die Nationalliberalen getroffenen Wahl von Delbrücks Nachfolger Hofmann zeigte""'"). Zwar erkannte er früh (nach unserer Kenntnis zuerst in einem Promemoria vom Oktober 1875), daß Deutschland wirtschaftlich ausgeliefert war an alle Staaten, die ihm für seine Zollbefreiungen und -ermäßigungen nicht nur nicht mit Kompensationen, sondern vielmehr mit Schutzzöllen dankten und daß dagegen Repressalien not¬ wendig seien. Allein, die freihändlerische Gesinnung Delbrücks war auch ihm dermaßen in Fleisch und Blut übergegangen, daß er noch 1871 Frankreichs Schutzzollpolitik ini Interesse der europäischen Großmächte zu bekämpfen suchte und noch 1876, wenn auch mit weniger Zuversicht, die französischen Eisenzölle durch diplomatische Verhandlungen im Wege des Handelsvertrages zu beseitigen dachte. Ja, noch Mitte Februar 1878, als er das Tabaksmonopol plante, wollte er „nur einige Umkehr vom Freihandelssystem, wenn auch ohne Annahme des Schutzzollsystems" zu dem der Kaiser neigtef). Die ersten Kampfzölle beab¬ sichtigte er gegen Italien, das zwecks Abschlusses eines Handelsvertrages einen Tarifvertrag mit beträchtlichen Erhöhungen eingereicht hatte; aber erst gegen russische Hochschutzzölle sah er kei nen anderen Ausweg als Kampfzölle auf russischeAusfuhrartikel. Wieweit Kaiser Wilhelms Befürwortung eines mäßigen Schutzes der nationalen Arbeit, wie sie Tiedemann aus dem Jahre 1876 berichtet. Bismarcks ") Poschinger, „Ein Achtundt'ierziger", III, W2, " Eugen Richter, „Im alten Reichstag I, 146. An gleicher Stelle. Erinnerungen an Fürst Bismarck tun, Frhr, t>, Mittnacht, S. 6t.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/77>, abgerufen am 24.07.2024.